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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
5C.216/2004 /rov 
 
Urteil vom 19. November 2004 
II. Zivilabteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Raselli, Präsident, 
Bundesrichterinnen Nordmann, Escher, 
Gerichtsschreiber Möckli. 
 
Parteien 
Z.________, 
Berufungsklägerin, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Marcel Buttliger, 
 
gegen 
 
Vormundschaftsbehörde Leimbach, Gemeindekanzlei, Seebergstrasse 4, 5733 Leimbach, 
Berufungsbeklagte. 
 
Gegenstand 
Entzug der elterlichen Obhut und Errichtung einer Beistandschaft, 
 
Berufung gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau, Kammer für Vormundschaftswesen, vom 13. August 2004. 
 
Sachverhalt: 
A. 
Z.________, geb. 1964, ist Mutter von vier Kindern. R.________, geb. 1987, S.________, geb. 1989, und T.________, geb. 1992, stammen aus ihrer 1996 geschiedenen Ehe mit X.________. U.________, geb. 1996, stammt aus vorehelicher Beziehung mit ihrem zweiten, mittlerweile von ihr getrennt lebenden Ehemann Y.________. Sie geht als Pflegerin im Altersheim Suhr einer Teilzeitbeschäftigung nach und hatte seinerzeit für die Kinder eine Tagesmutter organisiert. 
 
Zwischen Z.________ und X.________ sowie dessen Mutter besteht ein anhaltender Konflikt. Mit Y.________ besteht ein Ehekonflikt, wobei sich die beiden Kindsväter gegen Z.________ zusammengetan haben. Y.________ hat beim Gerichtspräsidium Kulm ein Verfahren um Erlass vorsorglicher Massnahmen für den Ehescheidungsprozess eingeleitet. 
B. 
Im Frühling 2004 gelangte X.________ an die Kinderschutzgruppe des Kantonsspitals Aarau, die nach einer Befragung der Kinder R.________ und S.________, einem Gespräch mit X.________ und einer Besprechung mit Vertretern der Vormundschaftsbehörde Leimbach über die Vorkommnisse im Jahr 1997 mit Bericht an die Vormundschaftsbehörde vom 29. April 2004 die sofortige Fremdplatzierung der Kinder an einem geheimen Ort empfahl. Gestützt auf diesen Bericht verfügte die Vormundschaftsbehörde Leimbach einen Obhutsentzug und die Fremdplatzierung der vier Kinder an einem geheimen Ort, unter Errichtung einer Beistandschaft. 
 
Am 26. Mai 2004 führte das Bezirksamt Kulm eine Anhörung von Z.________ durch und holte einen ergänzenden Bericht der Kinderschutzgruppe ein. Ebenso hörte es die Pflegemutter und die vier Kinder an. Mit Entscheid vom 7. Juni 2004 wies es die Beschwerde von Z.________ ab mit der Begründung, die Vormundschaftsbehörde habe sich schon 1997 mit der Familie befassen müssen und die neuerlichen Meldungen über häufige Erniedrigungen, Demütigungen und Schläge durch die Kindsmutter habe den Obhutsentzug notwendig gemacht. Die Kinder hätten anlässlich der Gespräche wiederholt, dass Misshandlungen stattgefunden hätten. Z.________ sei eine Kämpfernatur, die keine Hilfe von aussen annehmen wolle. Um die Kinder nicht erhöhtem Druck auszusetzen, sei auch die sofortige Wegnahme verhältnismässig gewesen. 
An seiner Verhandlung vom 12. August 2004 hörte das Obergericht des Kantons Aargau Z.________, die vier Kinder, die Pflegemutter sowie den Präsidenten der Vormundschaftsbehörde Leimbach erneut an. Mit Entscheid vom 13. August 2004 hiess es die Beschwerde insoweit gut, als es für die beiden Söhne S.________ und T.________ den Obhutsentzug und die Fremdplatzierung bestätigte, jedoch für R.________ und U.________ nur eine Erziehungsbeistandschaft anordnete. Ausserdem setzte es in Bestätigung des angefochtenen Entscheides V.________ als Beiständin für alle vier Kinder ein. 
C. 
Mit Berufung vom 7. Oktober 2004 verlangte Z.________ die Aufhebung dieses Entscheides, eventualiter die Anordnung einer Erziehungsbeistandschaft für die beiden Söhne S.________ und T.________, und ausserdem die Erteilung der unentgeltlichen Rechtspflege. Es wurde keine Berufungsantwort eingeholt. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Das Obergericht hat erwogen, R.________ habe während der Dauer des Obhutsentzugs zur Berufungsklägerin Kontakt gehabt und primär wegen der mit der Überforderung der Berufungsklägerin verbundenen Streitereien nicht zu dieser zurückkehren wollen. Anlässlich der Anhörung vor Obergericht habe sie sich denn auch nicht absolut gegen die Unterbringung bei der Berufungsklägerin gewehrt, weshalb eine Rückkehr möglich und angesichts der angeordneten Beistandschaft auch zumutbar sei. 
 
Demgegenüber habe S.________ während der Dauer des Obhutsentzugs jeglichen Kontakt mit der Berufungsklägerin strikt abgelehnt und sie anlässlich der Einvernahme keines Blickes gewürdigt. Ungerührt und bestimmt habe er erklärt, mit dieser wegen der ihm früher zugefügten Schläge nichts mehr zu tun haben und nicht mehr bei ihr wohnen zu wollen. Gleiches gelte für T.________, der die Berufungsklägerin ebenfalls keines Blickes gewürdigt habe und jeglichen Kontakt, auch telefonischen, strikt ablehne. Eine gedeihliche Mutter-Kind-Beziehung erscheine vor diesem Hintergrund verunmöglicht, zumal die Söhne altersbedingt von ihrem Unterbringungsort weglaufen könnten. Zudem zeigten sie Verhaltensauffälligkeiten (Zerstörung des Zimmermobiliars bei der Pflegefamilie W.________, Ladendiebstahl von S.________, POS-Syndrom und massivste Verhaltensauffälligkeiten am neuen Schulort bei T.________), die eine professionelle Betreuung gebieten würden. 
 
Umgekehrt habe U.________, das jüngste Kind, nach der Fremdplatzierung ausdrücklich Kontakt zur Berufungsklägerin gewünscht und diese anlässlich der Einvernahme auch angestrahlt; er habe ausgesagt, gern bei ihr gewesen zu sein und sie lieb zu haben. Zwar habe er sich anfänglich auch gegen eine Rückkehr geäussert, weil er befürchtete, von S.________ und T.________ geschlagen zu werden. Die Frage, ob er zurückkehren möchte, wenn die beiden Brüder nicht (mehr) im Haushalt der Berufungsklägerin leben würden, habe er klar bejaht. Offensichtlich habe U.________ eine normale, gute Beziehung zur Berufungsklägerin, und seine ordnungsgemässe Erziehung und Betreuung könne mit der Anordnung einer Erziehungsbeistandschaft hinreichend gewährleistet werden. 
2. 
Neue Tatsachen und Beweismittel sind im Berufungsverfahren grundsätzlich unzulässig (Art. 55 Abs. 1 lit. c OG), weshalb die Berufungsklägerin von vornherein nicht zu hören ist, soweit sie den Entzug der Obhut über S.________ und T.________ mit solchen Vorbringen in Frage stellen will. Neue Beweismittel in diesem Sinn sind die Schreiben der beiden Söhne, sie möchten wieder zur Berufungsklägerin zurück und es tue ihnen leid, was geschehen sei. Keine Stütze in den für das Bundesgericht verbindlichen Sachverhaltsfeststellungen des Obergerichts (Art. 63 Abs. 2 OG) findet sodann die Behauptung, der Vater habe den Kindern vor der obergerichtlichen Verhandlung versprochen, er würde sie bei sich aufnehmen, weshalb deren Aussagen zu relativieren seien. Gleiches gilt für die Behauptung der Berufungsklägerin, seit der Scheidung von X.________ im Jahr 1996 habe sie ohne grössere Probleme mit ihren vier Kindern zusammengelebt und diese betreut; solche Feststellungen lassen sich dem angefochtenen Urteil nicht entnehmen, im Gegenteil: Das Obergericht hat erwähnt, dass 1997 schon einmal Kindesschutzmassnahmen zur Diskussion standen und auch hätten angeordnet werden sollen, dass sich die Vormundschaftsbehörde aber durch den Widerstand der Berufungsklägerin von der Anordnung habe abhalten lassen. 
 
Keine Bundesrechtsverletzung ist schliesslich darzutun mit dem Verweis auf die Aufhebung des Obhutsentzuges betreffend R.________ und U.________; daraus lässt sich nicht der Schluss ziehen, dass dem Kindeswohl auch bei S.________ und T.________ mit einer Rückkehr zur Berufungsklägerin am besten gedient wäre. Das Obergericht hat vielmehr für jedes Kind eine Einzelbetrachtung vorgenommen und eine differenzierte Lösung getroffen, die insbesondere auch dem Umstand Rechnung trägt, dass die Berufungsklägerin mit der gleichzeitigen Erziehung aller vier Kinder überfordert ist. Deshalb kann sie auch aus dem allgemeinen Hinweis, ein Kind müsse bei seinen Eltern in stabilen, durch Zuwendung und Verantwortung geprägten Beziehungen aufwachsen, nichts für sich ableiten, sind doch diese Voraussetzungen für die Gesamtheit der Kinder und insbesondere für die verhaltensauffälligen Söhne S.________ und T.________ nicht gegeben. 
 
Von vornherein nicht einzutreten ist auf die Kritik am Vorgehen der Vormundschaftsbehörde. Anfechtungsobjekt ist allein der Entscheid des Obergerichts, das - wie bereits das Bezirksamt Kulm - sowohl die Berufungsklägerin als auch die Kinder persönlich angehört hat und sich eine eigene Meinung bilden konnte; im Übrigen wäre die - sinngemäss behauptete - Verletzung des rechtlichen Gehörs ohnehin mit staatsrechtlicher Beschwerde zu rügen (Art. 43 Abs. 1 i.V.m. Art. 84 Abs. 1 lit. a OG). 
 
Insgesamt ergibt sich, dass die Berufungsklägerin mit Bezug auf den Obhutsentzug und die Fremdplatzierung von S.________ und T.________ nichts vorzubringen vermag, was geeignet wäre, die begründet und sachgerecht erscheinenden Anordnungen des Obergerichts als bundesrechtswidrig erscheinen zu lassen. 
3. 
Nicht einzutreten ist auf die Berufung, soweit die mit dem Waisenhaus Basel getroffene Besuchsregelung kritisiert wird. Der angefochtene Entscheid statuiert nur ein grundsätzliches Besuchsrecht, enthält aber keine Regelung über dessen Ausübung. Soweit die Berufungsklägerin ausführt, bei einem Wochenende pro Monat lasse sich die Wiederaufnahme von S.________ und T.________ nicht vorbereiten, übersieht sie im Übrigen, dass der Obhutsentzug auf längere Dauer angelegt worden ist und mit der Fremdplatzierung notwenig einhergeht, dass der betroffene Elternteil nicht mehr über die Obhut, sondern nur (noch) über ein Besuchsrecht verfügt. Wenn dieses vorliegend auf ein Wochenende pro Monat beschränkt ist, gilt es zu bedenken, dass auch dem Vater ein Besuchsrecht im gleichen Umfang zu gewähren war; es findet mit anderen Worten an jedem zweiten Wochenende die Ausübung eines Besuchsrechts statt, was der gängigen Besuchsrechtspraxis entspricht. 
 
4. 
Nicht einzutreten ist auf die Berufung schliesslich, soweit sie sich gegen die Einsetzung von V.________ als Beiständin richtet. Die Ernennung einer bestimmten Person als Beistand stellt einen Akt der freiwilligen Gerichtsbarkeit dar. Solche Akte sind nur berufungsfähig, soweit sie im abschliessenden Katalog von Art. 44 OG aufgeführt sind. Nach der vorliegend einschlägigen lit. d unterliegt einzig die Hauptmassnahme, d.h. die Anordnung der Beistandschaft, nicht aber die Bezeichnung des Beistands der Berufung (BGE 91 II 170 E. 4 S. 176 oben; 107 II 504; Poudret/Sandoz-Monod, Commentaire de la loi fédérale d'organisation judiciaire, Band II, Bern 1990, S. 213 unten; Schnyder/Murer, Berner Kommentar, N. 66 zu Art. 388 ZGB; Breitschmid, Basler Kommentar, N. 11 zu Art. 388 ZGB), weil sich diese gemäss Art. 392 i.V.m. Art. 397 Abs. 1 ZGB nach den Regeln über die Bestellung des Vormundes und damit nach dem in Art. 44 OG nicht aufgeführten Art. 379 Abs. 1 ZGB richtet; offen stünde gegebenenfalls die staatsrechtliche (vgl. 107 Ia 343) oder die Nichtigkeitsbeschwerde (vgl. BGE 107 II 504). 
5. 
Zusammenfassend ergibt sich, dass die Berufung abzuweisen ist, soweit auf sie eingetreten werden kann. Der Berufungsklägerin ist die unentgeltliche Rechtspflege zu erteilen, unter Beiordnung von Dr. Buttliger als unentgeltlichem Rechtsbeistand. Dieser ist folglich aus der Bundesgerichtskasse zu entschädigen und die Gerichtsgebühr ist einstweilen auf die Bundesgerichtskasse zu nehmen. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
1. 
Die Berufung wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
2. 
Der Berufungsklägerin wird die unentgeltliche Rechtspflege erteilt, unter Beiordnung von Dr. Buttliger als unentgeltlichem Rechtsbeistand. 
3. 
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird der Berufungsklägerin auferlegt, jedoch einstweilen auf die Gerichtskasse genommen. 
4. 
Dr. Buttliger wird aus der Bundesgerichtskasse mit Fr. 1'500.-- entschädigt. 
5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Obergericht des Kantons Aargau, Kammer für Vormundschaftswesen, und der Beiständin, V.________, schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 19. November 2004 
Im Namen der II. Zivilabteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: