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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
6B_225/2022  
 
 
Urteil vom 30. Mai 2022  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Denys, präsidierendes Mitglied, 
Bundesrichter Rüedi, 
Bundesrichterin van de Graaf, 
Gerichtsschreiber Matt. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Staatsanwaltschaft des Kantons Uri, 
Postfach 959, 6460 Altdorf UR, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Simon Bächtold, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Führen eines nicht betriebssicheren Fahrzeugs, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts 
des Kantons Uri, Strafrechtliche Abteilung, 
vom 14. Januar 2022 (OG S 21 14). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
A.________ wird vorgeworfen, er habe ein Sattelmotorfahrzeug in nicht betriebssicherem Zustand geführt. 
Das Landgerichtspräsidium II Uri sprach ihn am 1. Juni 2021 von diesem Vorwurf frei, soweit es um die Befestigung der Stossdämpfer ging. Hierfür gewährte es ihm eine pauschale Entschädigung von Fr. 200.--. Hingegen verurteilte es ihn wegen Führens eines nicht betriebssicheren Fahrzeugs aufgrund mangelhafter Bremsen zu einer Busse von Fr. 1'200.--. Die Verfahrenskosten auferlegte es zu zwei Dritteln ihm und zu einem Drittel dem Kanton. 
 
B.  
Die dagegen gerichtete Berufung von A.________ hiess das Obergericht des Kantons Uri am 14. Januar 2022 gut, während es die Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft abwies. Es sprach A.________ frei. 
 
C.  
Die Staatsanwaltschaft beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an dieses zurückzuweisen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Die Beschwerde an das Bundesgericht ist ein reformatorisches Rechtsmittel (Art. 107 Abs. 2 BGG). Ein blosser Antrag auf Rückweisung ist nicht zulässig, es sei denn, das Bundesgericht könnte ohnehin nicht reformatorisch entscheiden (BGE 136 V 131 E. 1.2; 134 III 379 E. 1.3 mit Hinweis). Da die Beschwerdebegründung zur Interpretation des Rechtsbegehrens beigezogen werden kann, genügt nach der Rechtsprechung ein Begehren ohne einen Antrag in der Sache dann, wenn sich aus der Begründung zweifelsfrei ergibt, was mit der Beschwerde angestrebt wird (BGE 136 V 131 E. 1.2; Urteil 6B_140/2016 vom 14. Februar 2017 E. 1.2). 
Die Beschwerdeführerin stellt nur den Antrag, das angefochtene Urteil sei aufzuheben. Dass das Bundesgericht im Falle einer Gutheissung der Beschwerde nicht in der Lage wäre, ein materielles Urteil zu fällen und die Sache zurückweisen müsste, wird in der Beschwerde nicht geltend gemacht. Der Begründung der Beschwerde lässt sich jedoch entnehmen, dass die Beschwerdeführerin auf eine Verurteilung des Beschwerdegegners abzielt. Daher ist grundsätzlich auf die Beschwerde einzutreten. 
 
2.  
 
2.1. Fahrzeuge dürfen nur in betriebssicherem und vorschriftsgemässem Zustand verkehren. Sie müssen so beschaffen und unterhalten sein, dass die Verkehrsregeln befolgt werden können und dass Fahrzeugführer, Mitfahrende und andere Strassenbenützer nicht gefährdet und die Strassen nicht beschädigt werden (Art. 29 SVG; vgl. Urteil 6B_1099/2009 vom 16. Februar 2010 E. 3.1 mit Hinweisen; BGE 144 IV 386 E. 2.2.1). Mit Busse wird bestraft, wer ein Fahrzeug führt, von dem er weiss oder bei pflichtgemässer Aufmerksamkeit wissen kann, dass es den Vorschriften nicht entspricht (Art. 93 Abs. 2 lit. a SVG).  
 
2.2. Die Erstinstanz stellte fest, dass an der zweiten und dritten Hinterachse des Sattelanhängers die Bremsscheiben beidseitig eingerissen und Teile des Reibrings ausgebrochen waren, was die Betriebssicherheit des Sattelmotorfahrzeugs gefährdet habe. Die mangelhafte Befestigung der Stossdämpfer und die Rostspuren seien ebenfalls rechtsgenüglich erstellt, allerdings sei die Betriebssicherheit dadurch nicht beeinträchtigt worden.  
 
2.3.  
 
2.3.1. Weil ausschliesslich Übertretungen Gegenstand des erstinstanzlichen Hauptverfahrens bildeten (vgl. Art. 103 StGB), konnte im Berufungsverfahren nur geltend gemacht werden, das erstinstanzliche Urteil sei rechtsfehlerhaft oder die Feststellung des Sachverhalts sei offensichtlich unrichtig oder beruhe auf einer Rechtsverletzung. Neue Behauptungen und Beweise konnten nicht vorgebracht werden (Art. 398 Abs. 4 StPO).  
Die Vorinstanz hält fest, weder der Beschwerdegegner noch die Beschwerdeführerin hätten vorgetragen, die erstinstanzliche Sachverhaltsermittlung sei offensichtlich unrichtig oder beruhe auf einer Rechtsverletzung. 
 
2.3.2. Was den subjektiven Tatbestand von Art. 93 Abs. 2 lit. a SVG anbelangt, erwägt die Vorinstanz, für den Beschwerdegegner sei nicht vorhersehbar gewesen, dass die Bremsscheiben und die Befestigungen der Stossdämpfer mangelhaft sein könnten. Auch bei pflichtgemässer Aufmerksamkeit habe er nicht wissen können, dass das von ihm gelenkte Sattelmotorfahrzeug nicht in vorschriftsgemässem Zustand gewesen sei. Daher sei der subjektive Tatbestand des Führens eines nicht betriebssicheren Fahrzeugs nicht erfüllt.  
 
3.  
 
3.1. Gemäss Art. 57 Abs. 1 der Verkehrsregelnverordnung vom 13. November 1962 (VRV; SR 741.11) hat sich der Fahrzeugführer zu vergewissern, dass Fahrzeug und Ladung in vorschriftsgemässem Zustand sind. Nach Art. 70 Abs. 1 VRV hat der Fahrzeugführer vor dem Wegfahren zu prüfen, ob der Sattelanhänger zuverlässig angekuppelt ist, Bremsen und Beleuchtung einwandfrei wirken und bei Vorwärtsfahrt auch in Kurven ein Anstossen am Zugfahrzeug ausgeschlossen ist.  
Es fragt sich, wie weit die Pflichten gemäss Art. 57 Abs. 1 VRV und Art. 70 Abs. 1 VRV im Einzelnen gehen. GIGER erklärt unter Hinweis auf Art. 57 Abs. 1 VRV, die genügende Kontrolle der vorgeschriebenen Fahrzeugbestandteile auf Vorhandensein, einwandfreies Funktionieren und Zweckerfüllung gehöre zur Unterhaltspflicht. Die Bremsen seien namentlich nach Reparaturen und nach dem Waschen des Fahrzeugs zu prüfen (HANS GIGER, SVG Kommentar, 8. Aufl. 2014, N. 1 zu Art. 29 SVG). WEISSENBERGER äussert sich nicht zu der Frage (PHILIPPE WEISSENBERGER, Kommentar Strassenverkehrsgesetz und Ordnungsbussengesetz, mit Änderungen nach Via Sicura, 2. Aufl. 2015, N. 4 zu Art. 29 SVG). 
 
3.2. Die Vorinstanz verweist rechtsvergleichend auf einen Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf. In jenem Fall hatte der Fahrzeugführer ein Sattelmotorfahrzeug in Betrieb genommen, obwohl die Bremsscheibe des rechten Vorderrads zwei durchgehende Risse aufwies, was zu einer wesentlichen Beeinträchtigung der Verkehrssicherheit führte. Das Oberlandesgericht gelangte zum Schluss, der Fahrzeugführer müsse die Bremsscheiben vor der Fahrt keiner Sichtkontrolle unterziehen, sofern nicht ausnahmsweise ein besonderer Anlass dafür bestehe (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 28. Januar 2014, IV 3 RBs 11/14, mit zahlreichen Hinweisen).  
Diese Überlegungen lassen sich auf den vorliegenden Fall übertragen. Da die Funktionsfähigkeit der Bremsanlage von enormer Wichtigkeit für die Verkehrssicherheit ist, sind grundsätzlich strenge Anforderungen an die Prüfpflicht des Fahrzeugführers zu stellen. Grundsätzlich ist er vor Antritt der Fahrt verpflichtet, die Bremsanlage durch Bremsproben zu überprüfen. Allerdings würden die Sorgfaltsanforderungen überspannt, wenn vor jeder Fahrt die Bremsscheiben des Sattelmotorfahrzeugs durch die Löcher in den Felgen einer Sichtkontrolle auf Risse zu unterziehen wären (vgl. auch OLG Celle, Beschluss vom 3. Februar 2009, 311 SsRs 138/08; OLG Hamm, Beschluss vom 26. Februar 2007, 4 Ss OWi 146/07). 
 
3.3. Nach dem Gesagten erwägt die Vorinstanz überzeugend, dass der Beschwerdegegner aufgrund der Umstände und seiner persönlichen Verhältnisse nicht verpflichtet war, die Bremsscheiben und die Befestigung der Stossdämpfer von Auge genau zu überprüfen. Auch in der Schweiz fehlt eine Norm, die den Beschwerdegegner dazu verpflichtet hätte. Die Mängel waren nicht geradezu offensichtlich, wie es etwa bei abgefahrenen Reifen der Fall gewesen wäre. Die Vorinstanz legt überzeugend dar, dass keine besonderen Umstände vorlagen, die dem Beschwerdegegner eine weitergehende Sorgfalt abverlangt hätten, zumal er das Sattelmotorfahrzeug aus der Werkstatt seines Arbeitgebers übernommen habe. Zwar lag die letzte unabhängige Motorfahrzeugprüfung bereits einige Monate zurück, aber dies bot für sich allein keinen Anhaltspunkt, dass mit Mängeln gerechnet werden musste. Die Vorinstanz orientierte sich zu Recht an der deutschen Rechtsprechung, wonach die Sorgfaltsanforderungen an den Führer eines Sattelmotorfahrzeugs überspannt würden, wenn er ohne besondere Anhaltspunkte regelmässig die Bremsscheiben des Fahrzeugs durch die Radfelgenlöcher von Auge prüfen müsste.  
 
4.  
Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung von Art. 398 Abs. 4 StPO und der Begründungspflicht als Teilgehalt des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV; Art. 3 Abs. 2 lit. c StPO). 
 
4.1. Im Einzelnen macht sie geltend, im Berufungsverfahren habe niemand gerügt, die erstinstanzliche Feststellung des Sachverhalts sei offensichtlich unrichtig oder beruhe auf einer Rechtsverletzung. Daher habe die Vorinstanz einzig prüfen müssen, ob das erstinstanzliche Urteil rechtsfehlerhaft sei. Dass dies der Fall sei, zeige die Vorinstanz nirgends auf.  
 
4.2. Aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör folgt die Pflicht der Behörden, ihren Entscheid zu begründen. Die Begründung muss kurz die wesentlichen Überlegungen nennen, von denen sich das Gericht hat leiten lassen und auf die es seinen Entscheid stützt. Die Behörde darf sich aber auf die massgebenden Gesichtspunkte beschränken und muss sich nicht ausdrücklich mit jeder tatsächlichen Behauptung und jedem rechtlichen Einwand auseinandersetzen und diese widerlegen. Es genügt, wenn sich die betroffene Person über die Tragweite des Entscheids Rechenschaft geben und ihn in voller Kenntnis der Sache an die höhere Instanz weiterziehen kann (BGE 143 III 65 E. 5.2; 141 III 28 E. 3.2.4; Urteile 6B_126/2018 vom 24. Mai 2018 E. 1.2; 6B_259/2017 vom 21. Dezember 2017 E. 1.2; je mit Hinweisen).  
 
4.3. Entgegen den Vorbringen der Beschwerdeführerin musste die Vorinstanz die erstinstanzliche Urteilsbegründung nicht im Einzelnen widerlegen. Es genügt, dass sie selbst nachvollziehbar begründet, weshalb der Beschwerdegegner nicht verpflichtet war, vor jeder Fahrt die Bremsscheiben des Sattelmotorfahrzeugs durch die Löcher in den Felgen einer Sichtkontrolle zu unterziehen. Was die Befestigung der Stossdämpfer betrifft, durfte die Vorinstanz denselben Massstab anlegen.  
Die Vorinstanz kam überzeugend zum Schluss, dass der subjektive Tatbestand von Art. 93 Abs. 2 lit. a SVG nicht erfüllt ist. Vor diesem Hintergrund durfte sie - entgegen den Ausführungen der Beschwerdeführerin - offen lassen, ob der objektive Tatbestand von Art. 93 Abs. 2 lit. a SVG erfüllt ist. 
Die Vorinstanz beantwortet die Rechtsfrage, wie weit die Pflichten gemäss Art. 57 Abs. 1 VRV und Art. 70 Abs. 1 VRV für den Fahrzeugführer gehen. Es trifft zu, dass der Beschwerdegegner in seiner Berufungsbegründung vortrug, gemäss telefonischer Auskunft des schweizerischen Fahrlehrerverbands erscheine es abwegig, dass ein Lastwagenchauffeur zu regelmässigen optischen Bremskontrollen verpflichtet sei. Es trifft ebenfalls zu, dass die Vorinstanz diese Behauptung im angefochtenen Urteil erwähnt. Doch handelt es sich dabei nicht um das tragende Argument der Begründung. Vielmehr stützt sich die Vorinstanz in erster Linie rechtsvergleichend auf die erwähnten deutschen Urteile. 
 
5.  
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Dem Beschwerdegegner ist keine Entschädigung zuzusprechen, da ihm im bundesgerichtlichen Verfahren keine Umtriebe entstanden sind. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Uri, Strafrechtliche Abteilung, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 30. Mai 2022 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Das präsidierende Mitglied: Denys 
 
Der Gerichtsschreiber: Matt