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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
6B_614/2016  
   
   
 
 
 
Urteil vom 23. März 2017  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Denys, Präsident, 
Bundesrichter Rüedi, 
Bundesrichterin Jametti, 
Gerichtsschreiber Hochuli. 
 
Verfahrensbeteiligte 
X._________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Florian Wick, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt, Binningerstrasse 21, 4051 Basel, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Mehrfache Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte; rechtliches Gehör, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt, Ausschuss, vom 24. Februar 2016. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Das Strafgericht des Kantons Basel-Stadt verurteilte X._________ am 30. Oktober 2014 wegen mehrfacher Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte zu einer Geldstrafe von 45 Tagessätzen zu Fr. 30.-- mit bedingtem Strafvollzug unter Auferlegung einer Probezeit von zwei Jahren. 
 
Auf Berufung von X._________ hin bestätigte das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt am 24. Februar 2016 das erstinstanzliche Urteil. Dem Schuldspruch liegt folgender Sachverhalt zugrunde: 
 
Wegen einer Nachbarstreitigkeit zwischen zwei Mietparteien auf dem ersten Stockwerk sandte die Einsatzzentrale am 13. August 2012 zwei uniformierte Polizeibeamte an die B._________strasse in Basel. Bei der Sachverhaltsabklärung sprachen die Beamten um ca. 11.10 Uhr zunächst mit dem Anzeigeerstatter. Als dieser im Treppenhaus X._________, Ehegattin des auf demselben Stockwerk wohnenden Nachbarn, erkannte, teilte er dies den Beamten mit. Polizeiwachtmeister A._________ forderte daraufhin X._________ im Treppenhaus mehrfach zu einem Gespräch auf. Sie zeigte keine Reaktion. Stattdessen stieg sie die Treppe hinauf auf das zweite Stockwerk, wo sie mit einem Schlüssel die Türe zur Wohnung ihrer Tochter aufschliessen wollte. Als Polizeiwachtmeister A._________ ihre Hand anfasste und zurückzog, um sie nochmals zu einem Gespräch aufzufordern, begann sie zu schreien, fuchtelte wild mit den Armen, biss den Beamten in den linken Unterarm und trat mit ihren Füssen mehrmals gegen seine Schienbeine. Da sie sich nicht beruhigte, wurden ihr zur Abwehr von weiteren Angriffen Handschellen angelegt. Auch während der anschliessenden Liftfahrt hinunter auf das Erdgeschoss trat sie weiterhin gegen die Schienbeine des Polizisten. 
 
B.  
X._________ führt Beschwerde in Strafsachen. Sie beantragt, das Urteil des Appellationsgerichts Basel-Stadt vom 24. Februar 2016 und die Kostenfolgen bezüglich der Beschuldigten seien aufzuheben. Sie sei freizusprechen. Ihr seien eine Entschädigung von Fr. 35'842.10 sowie eine Genugtuung in Höhe von Fr. 5'000.-- nebst Zins zu 5% seit 14. August 2012 zuzusprechen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs und des Anspruchs auf ein faires Verfahren. Die Originalakten des "richtigen" Verfahrens seien ihr erstmals am 26. Mai 2016 - mithin drei Monate nach Erlass des angefochtenen Entscheides - zugestellt worden. 
 
1.1. Aus dem in Art. 29 Abs. 2 BV bzw. Art. 6 Ziff. 3 EMRK verankerten Anspruch auf rechtliches Gehör, welcher einen wichtigen und deshalb eigens aufgeführten Teilaspekt des allgemeineren Grundsatzes des fairen Verfahrens von Art. 29 Abs. 1 BV bzw. Art. 6 Ziff. 1 EMRK darstellt, ergibt sich für die beschuldigte Person das grundsätzlich uneingeschränkte Recht, in alle für das Verfahren wesentlichen Akten Einsicht zu nehmen (vgl. zudem Art. 3 Abs. 2 lit. c und Art. 107 Abs. 1 lit. a StPO). Das Akteneinsichtsrecht soll sicherstellen, dass die beschuldigte Person als Verfahrenspartei von den Entscheidgrundlagen Kenntnis nehmen und sich wirksam und sachbezogen verteidigen kann. Die effektive Wahrnehmung dieses Anspruchs setzt notwendigerweise voraus, dass die Akten vollständig sind. In einem Strafverfahren bedeutet dies, dass die Beweismittel, jedenfalls soweit sie nicht unmittelbar an der gerichtlichen Hauptverhandlung erhoben werden, in den Untersuchungsakten vorhanden sein müssen und dass aktenmässig belegt sein muss, wie sie produziert wurden, damit die beschuldigte Person in der Lage ist zu prüfen, ob sie inhaltliche oder formelle Mängel aufweisen und gegebenenfalls Einwände gegen deren Verwertbarkeit erheben kann. Dies ist Voraussetzung dafür, dass sie ihre Verteidigungsrechte überhaupt wahrnehmen kann, wie dies Art. 32 Abs. 2 BV verlangt (BGE 129 I 85 E. 4.1 S. 88 f. mit Hinweisen; Urteil 6B_976/2015 vom 27. September 2016 E. 5.2.1).  
 
1.2. Laut angefochtenem Entscheid (E. 1.2.3) wurden dem aktuell dritten Verteidiger der Beschwerdeführerin nach Anzeige seiner Mandatsübernahme vom 8. Dezember 2014 am 25. März 2015 die paginierten Originalakten im vorliegenden Verfahren zugestellt. Als Separatbeilage waren die ebenso paginierten Akten des sistierten Verfahrens V120814 040 enthalten. Die Beschwerdeführerin bestreitet diese Sachverhaltsfeststellung.  
 
1.2.1. Das Bundesgericht ist grundsätzlich an den vorinstanzlich festgestellten Sachverhalt gebunden (Art. 105 Abs. 1 BGG). Die Sachverhaltsfeststellung kann vor Bundesgericht nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Offensichtlich unrichtig ist die Sachverhaltsfeststellung, wenn sie willkürlich ist (BGE 140 III 264 E. 2.3).  
 
Für die Anfechtung des Sachverhalts gilt das strenge Rügeprinzip (Art. 42 Abs. 2 i.V.m. Art. 97 Abs. 1 und Art. 106 Abs. 2 BGG). Das Bundesgericht prüft in diesem Fall nur klar anhand der angefochtenen Beweiswürdigung detailliert erhobene und aktenmässig belegte Rügen. Auf appellatorische Kritik tritt es nicht ein (BGE 142 III 364 E. 2.4). 
 
1.2.2. Auf die wiederholten Beanstandungen der Beschwerdeführerin hin veranlasste die vorinstanzliche Gerichtspräsidentin den Beizug der angeblich fehlenden Seiten und Unterlagen der als unvollständig gerügten Aktenlage. Hernach liess sie die Aktenergänzungen der Beschwerdeführerin im vorinstanzlichen Berufungsverfahren SB.2015.7 zusammen mit den vollständigen Originalakten am 25. März 2015 (vgl. hievor E. 1.2 Ingress) zur Akteneinsichtnahme zustellen. Sodann retournierte die Beschwerdeführerin die Aktenzustellung am 8. April 2015 unter dem Vermerk "Aktenrückstellung SB.2015.7". In der daraufhin am 29. Mai 2015 verfassten schriftlichen Berufungsbegründung machte sie mit keinem Wort geltend, ihr seien am 25. März 2015 nicht die vollständigen und paginierten Originalakten zur Akteneinsichtnahme zugestellt worden. Was die Beschwerdeführerin gegen die entsprechende Sachverhaltsfeststellung gemäss angefochtenem Entscheid vorbringt, beschränkt sich im Wesentlichen auf appellatorische Kritik. Die mehrfach wiederholten Beanstandungen der nicht vollständigen Aktenlage beziehen sich zumindest teilweise auf Feststellungen aus dem erstinstanzlichen Verfahren. Im Übrigen legt die Beschwerdeführerin nicht dar, auf Grund welcher, bisher angeblich konkret fehlender Akten eine effiziente Verteidigung nicht möglich gewesen und folglich ihr Recht auf ein faires Verfahren vor Vorinstanz verletzt worden sei. Ein allfälliger Verfahrensmangel war überdies im Berufungsverfahren vor der hinsichtlich aller Sach- und Rechtsfragen über eine volle Kognition verfügenden Vorinstanz heilbar (vgl. BGE 137 I 195 E. 2.3.2 S. 197 mit Hinweisen; Urteil 6B_859/2013 vom 2. Oktober 2014 E. 3.3.4). Die Rügen einer Verletzung des rechtlichen Gehörs und des Anspruchs auf ein faires Verfahren infolge angeblich unvollständiger Akteneinsicht sind unbegründet, soweit sie überhaupt der qualifizierten Rügepflicht (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 136 I 49 E. 1.4.1 S. 53, 65 E. 1.3.1 S. 68; je mit Hinweisen) genügen.  
 
1.3. Aktenwidrig ist schliesslich die Behauptung, anlässlich der erneuten Akteneinsichtsgewährung am 25. Mai 2016 sei der Beschwerdeführerin zusammen mit den "Originalakten des richtigen Verfahrens" keine Tonaufzeichnung der vorinstanzlichen Berufungsverhandlung zugestellt worden. Bei den zugesandten vorinstanzlichen Akten findet sich als Tonträger eine CD (act. 384) mit der aufkopierten identischen Datei zur Tonaufzeichnung der Berufungsverhandlung vom 24. Februar 2016, welche der Beschwerdeführerin auf deren Beanstandung hin von der Vorinstanz am 27. Mai 2016 nochmals - auf eine zweite CD aufkopiert - zugestellt wurde.  
 
2.   
Soweit die Beschwerdeführerin aus dieser Audioaufnahme auf die Voreingenommenheit des vorinstanzlichen Gerichts schliesst und damit implizit den Ausstandsgrund der Befangenheit geltend macht, ist nicht ersichtlich, weshalb sie nicht ohne Verzug anlässlich der Berufungsverhandlung ein entsprechendes Gesuch stellte. Darauf ist nicht weiter einzugehen. Der Einwand ist verspätet, da er erst im Verfahren vor Bundesgericht vorgebracht wurde (vgl. Art. 58 Abs. 1 StPO; BGE 138 I 1 E. 2.2 S. 4; 136 I 207 E. 3.4; 134 I 20 E. 4.3.1; Urteil 6B_772/2016 vom 14. Februar 2017 E. 6.1.4; je mit Hinweisen). 
 
3.   
Weiter rügt die Beschwerdeführerin eine unrichtige und unvollständige Sachverhaltsfeststellung (vgl. E. 1.2.1 hievor). 
 
3.1. Sie beanstandet erneut einzelne fehlerhafte Aktenverweise im erstinstanzlichen Urteil, indem sie deren vorinstanzliche Qualifikation als Tippfehler bestreitet. Anfechtungsobjekt bildet jedoch einzig der vorinstanzliche Entscheid (vgl. Art. 80 Abs. 1, Art. 90 BGG; Urteil 6B_235/2016 vom 9. August 2016 E. 4.1 mit Hinweis). Auf die gegen das erstinstanzliche Urteil gerichteten Einwände ist nicht weiter einzugehen.  
 
3.2. Soweit sich die Ausführungen der Beschwerdeführerin auf Tatsachenfeststellungen gemäss angefochtenem Entscheid beziehen, ist nicht ersichtlich und wird nicht dargelegt, inwiefern die gerügten Mängel mit Blick auf den angeklagten Sachverhalt von entscheidrelevanter Bedeutung (vgl. Art. 97 Abs. 1 BGG) seien. Wie aufgezeigt (E. 1.2.2 hievor), ist davon auszugehen, dass der dritte Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin spätestens rund elf Monate vor der vorinstanzlichen Berufungsverhandlung Einsicht in die vollständigen und paginierten Originalakten nehmen konnte. Nach dem Anklagegrundsatz bestimmt die Anklageschrift den Gegenstand des Gerichtsverfahrens (Umgrenzungsfunktion; Art. 9 und Art. 325 StPO; Art. 29 Abs. 2 und Art. 32 Abs. 2 BV; Art. 6 Ziff. 1 und Ziff. 3 lit. a und b EMRK; BGE 141 IV 132 E. 3.4.1 S. 142). Aus dem als Anklageschrift geltenden Strafbefehl (Art. 356 Abs. 1 StPO) der Staatsanwaltschaft vom 1. Juli 2013 ergibt sich der gegen die Beschwerdeführerin erhobene Vorwurf in tatsächlicher Hinsicht klar. Gemäss angefochtenem Entscheid endete der massgebende Vorgang in Anwendung des Anklagegrundsatzes in dem Zeitpunkt, als die Beschwerdeführerin in Begleitung durch die Polizei am Vormittag des 13. August 2012 das Haus an der B._________strasse in Basel verliess. Die späteren Vorgänge ausserhalb des Hauses bilden nicht mehr Gegenstand des diesem Verfahren zu Grunde liegenden angeklagten Sachverhalts.  
 
3.3. Von einer Rechtsverweigerung durch Nichteinvernahme des Gerichtsmediziners Dr. med. C._________ als Sachverständiger kann keine Rede sein. Die Beschwerdeführerin legt auch nicht ansatzweise dar, inwiefern von Aussagen des Sachverständigen in Bezug auf die Feststellung des hier angeklagten Sachverhalts wesentliche Erkenntnisse zu erwarten gewesen wären.  
 
3.4. Die von der Beschwerdeführerin geltend gemachten, in nebensächlichen Details vom angeklagten Sachverhalt abweichenden Begleitumstände lassen nicht auf eine Verletzung des Willkürverbots bei der Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gemäss angefochtenem Entscheid schliessen. Ungenauigkeiten sind solange nicht von entscheidender Bedeutung, als für die beschuldigte Person keine Zweifel darüber bestehen, welches Verhalten ihr angelastet wird. Überspitzt formalistische Anforderungen dürfen an die Anklageschrift nicht gestellt werden (Urteil 6B_1313/2015 vom 29. November 2016 E. 1.3 mit Hinweisen). Soweit die Beschwerdeführerin die Auffassung vertritt, der von hinten an sie heran getretene Polizist habe ihr den Schlüssel gestohlen, ihr die Arme nach hinten gerissen, sie gegen die Wand gepresst und sie als wehrlose alte Frau im Rahmen einer "völlig unmotivierten Prügelei" spitalreif geschlagen, ist auf diese appellatorische Behauptung einer vom vorinstanzlich festgestellten Tatvorgang abweichenden Sachverhaltsdarstellung nicht weiter einzugehen. Die Vorinstanz hat die Aussagen der Beschwerdeführerin mit Blick auf die gesamte Beweislage bundesrechtskonform gewürdigt.  
 
3.5. Dem Grundsatz "in dubio pro reo" kommt in der von der Beschwerdeführerin angerufenen Funktion als Beweiswürdigungsregel im Verfahren vor Bundesgericht keine über das Willkürverbot von Art. 9 BV hinausgehende selbstständige Bedeutung zu (BGE 138 V 74 E. 7 S. 82; Urteil 6B_586/2016 vom 29. November 2016 E. 4; je mit Hinweisen). Dies gilt auch, soweit die Beschwerdeführerin eine Nichtberücksichtigung ihrer Vorbringen und sinngemäss eine Verletzung des rechtlichen Gehörs rügt. Sie zeigt nicht auf, inwieweit sich die gerügten "Mängel" in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht auf den angefochtenen Entscheid ausgewirkt haben sollen (Urteil 6B_793/2016 vom 24. Februar 2017 E. 4.2). Dies ist auch nicht ersichtlich. Der Schuldspruch wegen mehrfacher Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte beruht weder auf einer willkürlichen Sachverhaltsfeststellung noch verletzt er sonstwie Bundesrecht.  
 
4.   
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Bei diesem Ausgang hat die Beschwerdeführerin die Verfahrenskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten wird. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.   
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt, Ausschuss, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 23. März 2017 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Denys 
 
Der Gerichtsschreiber: Hochuli