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Eidgenössisches Versicherungsgericht 
Tribunale federale delle assicurazioni 
Tribunal federal d'assicuranzas 
 
Sozialversicherungsabteilung 
des Bundesgerichts 
 
Prozess 
{T 7} 
H 179/03 
 
Urteil vom 23. September 2003 
IV. Kammer 
 
Besetzung 
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari; Gerichtsschreiber Jancar 
 
Parteien 
Ausgleichskasse des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich, Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
K.________, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Peter A. Reichart, Fraumünsterstrasse 29, 8022 Zürich 
 
Vorinstanz 
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur 
 
(Entscheid vom 13. Mai 2003) 
 
Sachverhalt: 
A. 
K.________ war Verwaltungsratspräsident der Firma A.________. Mit Verfügung vom 19. Juli 2000 verpflichtete ihn die Ausgleichskasse des Kantons Zürich zur Leistung von Schadenersatz für nicht bezahlte Sozialversicherungsbeiträge im Betrag von Fr. 26'492.40. K.________ liess hiegegen am 21. August 2000 Einspruch erheben und Aufhebung der Verfügung beantragen; eventuell sei festzustellen, dass keine Haftung für den Betrag von Fr. 15'089.60 bestehe. Die von der Ausgleichskasse am 20. September 2000 erhobene Klage mit dem Antrag auf Bezahlung von Schadenersatz im Betrage von Fr. 11'550.30 wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit unangefochten in Rechtskraft erwachsenem Entscheid vom 24. Januar 2002 ab. 
 
Mit Verfügung vom 11. April 2002 wies die Ausgleichskasse das Gesuch von K.________ um Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung für das Einspruchverfahren ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, angesichts der minimalen Formerfordernisse an den Einspruch im Schadenersatzverfahren habe keine Notwendigkeit für eine anwaltliche Vertretung bestanden. 
B. 
In Gutheissung der hiegegen eingereichten Beschwerde hob das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich die Verfügung auf und wies die Sache an die Ausgleichskasse zurück, damit sie im Sinne der Erwägungen neu verfüge. Den Erwägungen ist zu entnehmen, dass der Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung im Einspruchverfahren bejaht und die Ausgleichskasse angewiesen wurde, den vom Rechtsvertreter geltend gemachten Aufwand in masslicher Hinsicht zu überprüfen (Entscheid vom 13. Mai 2003). 
C. 
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die Ausgleichskasse die Aufhebung des kantonalen Entscheides. 
 
K.________ schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde und ersucht um Bewilligung der unentgeltlichen Verbeiständung für das letztinstanzliche Verfahren. Das Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Da es sich bei der angefochtenen Verfügung nicht um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen handelt, hat das Eidgenössische Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG). 
2. 
Das kantonale Gericht hat zutreffend dargelegt, dass der Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung grundsätzlich für jedes staatliche Verfahren, in welchem die betroffene Person einbezogen wird oder welches zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, besteht (Art. 29 Abs. 3 BV; BGE 128 I 227 Erw. 2.3 mit Hinweisen; Kieser, ATSG-Kommentar, Art. 37 Rz 18 und 25). Richtig wiedergegeben hat die Vorinstanz auch die Voraussetzungen des Anspruchs (Bedürftigkeit der Partei, fehlende Aussichtslosigkeit der Rechtsbegehren, sachliche Notwendigkeit oder Gebotenheit im konkreten Fall; BGE 125 V 202 Erw. 4a und 372 Erw. 5b, je mit Hinweisen; Kieser, a.a.O., Art. 37 Rz 21). Gleiches gilt hinsichtlich der Nichtanwendbarkeit der materiellen Bestimmungen des am 1. Januar 2003 in Kraft getretenen Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 und der Verordnung zum ATSG vom 11. September 2002 (BGE 127 V 467 Erw. 1, 121 V 366 Erw. 1b). Darauf wird verwiesen. 
3. 
3.1 Vor dem In-Kraft-Treten des ATSG war die Möglichkeit der unentgeltlichen Verbeiständung im Verwaltungsverfahren auf gesetzlicher Ebene lediglich in Art. 91 MVG (in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung) vorgesehen. Im Übrigen anerkannte die Rechtsprechung unter engen Voraussetzungen den Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung im Verwaltungsverfahren der Invalidenversicherung (BGE 114 V 228; AHI 2000 S. 162) sowie im Einspracheverfahren der Unfallversicherung (BGE 125 V 32 ff. mit Hinweisen; RKUV 2001 Nr. U 415 S. 91) und der sozialen Krankenversicherung (SVR 2000 KV Nr. 2 S. 5; Kieser, a.a.O., N 16 und 25 zu Art. 37; Maeschi, Kommentar zum Bundesgesetz über die Militärversicherung [MVG], Bern 2000, N 1 ff. zu Art. 91). 
 
Bisher nicht zu entscheiden hatte das Eidgenössische Versicherungsgericht die vorliegend zu prüfende Frage, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung im Einspruchverfahren gemäss Art. 81 AHVV (in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung) besteht. 
3.2 Das ATSG statuiert nunmehr im 4. Kapitel "Die Allgemeinen Verfahrensbestimmungen", dass der gesuchstellenden Person ein unentgeltlicher Rechtsbeistand bewilligt wird, wo die Verhältnisse es erfordern (Art. 37 Abs. 4). 
Nach der Rechtsprechung sind neue Verfahrensvorschriften grundsätzlich mit dem Tag des In-Kraft-Tretens sofort und in vollem Umfange anwendbar, es sei denn, das neue Recht kenne anders lautende Übergangsbestimmungen. Dieser intertemporalrechtliche Grundsatz kommt aber dort nicht zur Anwendung, wo hinsichtlich des verfahrensrechtlichen Systems zwischen altem und neuem Recht keine Kontinuität besteht und mit dem neuen Recht eine grundlegend neue Verfahrensordnung geschaffen worden ist (BGE 129 V 115 Erw. 2.2 mit Hinweisen). 
 
Von den im ATSG enthaltenen Übergangsbestimmungen ist allein Art. 82 Abs. 2 ATSG verfahrensrechtlicher Natur. Dieser sieht vor, dass die Kantone ihre Bestimmungen über die Rechtspflege diesem Gesetz innerhalb von fünf Jahren nach seinem In-Kraft-Treten anzupassen haben; bis dahin gelten die bisherigen kantonalen Vorschriften. Ob im Verwaltungsverfahren in einer AHV-rechtlichen Streitsache ein Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung besteht, beurteilt sich nach Bundesrecht (Erw. 2 hievor). Aus der zitierten Übergangsbestimmung lässt sich für die streitige Frage daher nichts ableiten. Da mit dem ATSG eine neue Verfahrensordnung geschaffen und das Einspruchverfahren vom 19. Juli bis 20. September 2000 dauerte, ist Art. 37 Abs. 4 ATSG vorliegend nicht anwendbar (vgl. auch BGE 129 V 115 Erw. 2.2; Urteil G. vom 1. Juli 2003 Erw. 1, U 236/02 betreffend den Anspruch auf Parteientschädigung im Einspracheverfahren nach Art. 105 Abs. 1 UVG). 
4. 
Die Vorinstanz hat erwogen, dass dem Beschwerdegegner im kantonalen Schadenersatzverfahren mit Verfügung vom 18. April 2001 die unentgeltliche Verbeiständung bewilligt und dass im Weiteren die Schadenersatzklage der Ausgleichskasse mit Entscheid vom 24. Januar 2002 abgewiesen worden sei. Damit sei der Beschwerdegegner bedürftig und das Verfahren nicht aussichtslos gewesen. Diese Feststellungen werden von der Ausgleichskasse nicht bestritten. 
 
Streitig und zu prüfen ist demnach einzig die Gebotenheit der anwaltlichen Verbeiständung im Einspruchverfahren. 
5. 
5.1 Gemäss Art. 81 AHVV wird der Ersatz eines vom Arbeitgeber verschuldeten Schadens von der Ausgleichskasse mit eingeschriebenem Brief verfügt, wobei auf die Einspruchmöglichkeit gemäss Abs. 2 ausdrücklich aufmerksam zu machen ist (Abs. 1). Gegen die Schadenersatzverfügung kann der Arbeitgeber innert 30 Tagen seit ihrer Zustellung bei der Ausgleichskasse Einspruch erheben (Abs. 2). 
 
An Form und Inhalt des Einspruchs stellt Art. 81 Abs. 2 AHVV keine Anforderungen. Er ist auch ohne jegliche Begründung gültig und muss einzig den klaren Willen, Einspruch zu erheben, enthalten (BGE 128 V 91 Erw. 3b/aa, 117 V 134 Erw. 5; AHI 1994 S. 181 Erw. 3; Marlies Knus, Die Schadenersatzpflicht des Arbeitgebers in der AHV, Diss. Zürich 1989 S. 80). Der Einspruch ist mithin mit dem Rechtsvorschlag in der Betreibung vergleichbar (BGE 117 V 135; Thomas Nussbaumer, Die Ausgleichskasse als Partei im Schadenersatzprozess nach Artikel 52 AHVG, in ZAK 1991 S. 435). Er stellt keine Einsprache im Rechtssinne dar (Urteil S. vom 25. August 2003 Erw. 4.2, H 155/03; Jean-Maurice Frésard, La responsabilité de l'employeur pour le non-paiement de cotisations d'assurances sociales selon l'art. 52 LAVS, in: SVZ 55/1987 S. 15 N 18). 
5.2 Gestützt auf diese Rechtsprechung, wonach der Einspruch nicht begründet werden muss, bestreitet die Ausgleichskasse die Notwendigkeit einer anwaltlichen Vertretung. 
6. 
6.1 Die von der Rechtsprechung für die Gebotenheit der anwaltlichen Verbeiständung im Verwaltungsverfahren umschriebenen Voraussetzungen sind auch vorliegend anwendbar. Es sind die Umstände des Einzelfalls, die Eigenheiten der anwendbaren Verfahrensvorschriften sowie die Besonderheiten des jeweiligen Verfahrens zu berücksichtigen. Dabei fallen neben der Komplexität der Rechtsfragen und der Unübersichtlichkeit des Sachverhalts auch in der Person des Betroffenen liegende Gründe in Betracht, wie etwa seine Fähigkeit, sich im Verfahren zurechtzufinden. Falls ein besonders starker Eingriff in die Rechtsstellung des Bedürftigen droht, ist die Verbeiständung grundsätzlich geboten, andernfalls bloss, wenn zur relativen Schwere des Falls besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten hinzukommen, denen der Gesuchsteller auf sich alleine gestellt nicht gewachsen ist (BGE 119 Ia 265 Erw. 3b, 117 Ia 281 Erw. 5b). Die sachliche Notwendigkeit wird nicht allein dadurch ausgeschlossen, dass das in Frage stehende Verfahren von der Offizialmaxime oder dem Untersuchungsgrundsatz beherrscht wird, die Behörde also gehalten ist, an der Ermittlung des rechtserheblichen Sachverhaltes mitzuwirken (BGE 119 Ia 266 Erw. 3b, 117 Ia 281 Erw. 5b/bb). Die Offizialmaxime rechtfertigt es jedoch, an die Voraussetzungen, unter denen eine Verbeiständung durch einen Rechtsanwalt sachlich geboten ist, einen strengen Massstab anzulegen (BGE 125 V 35 Erw. 4b). 
6.2 Vorliegend ist zu beachten, dass die Rechtsmittelbelehrung der Ausgleichskasse zur Schadenersatzverfügung vom 19. Juli 2000 unter anderem folgenden Passus enthielt: "Die Einsprache hat eine kurze Darstellung des Sachverhaltes, ein klares Rechtsbegehren und dessen Begründung, die Bezeichnung der Beweismittel sowie die Unterschrift des Einsprechers oder seines Vertreters zu enthalten. Die Einsprache ist zusammen mit den Beweismitteln...einzureichen". Bei dieser Sachlage ist der Vorinstanz beizupflichten, dass das Vorbringen der Ausgleichskasse, eine Begründung des Einspruchs wäre nicht nötig gewesen, als widersprüchliches und treuwidriges Verhalten (venire contra factum proprium) nach dem Grundsatz von Treu und Glauben nicht zu schützen ist (BGE 126 V 313 Erw. 3; SVR 2002 KV Nr. 2 S. 6 Erw. 2c/bb), zumal die Verletzung der Mitwirkungspflicht durch den Arbeitgeber im Einspruchverfahren zu einer Verneinung oder Kürzung eines allfälligen Anspruchs auf Parteientschädigung im nachfolgenden Gerichtsverfahren führen kann (ZAK 1987 S. 298 ff.). Unbehelflich ist unter diesen Umständen auch der Einwand der Ausgleichskasse, der Anwalt hätte ohne weiteres wissen müssen, dass nach der Rechtsprechung ein begründeter Einspruch nicht nötig sei. Der Vertreter des Beschwerdegegners weist im Übrigen zu Recht darauf hin, aufgrund der anwaltlichen Sorgfaltspflicht habe er diesem nicht raten können, den Einspruch entgegen der ausdrücklichen Aufforderung der Ausgleichskasse nicht zu begründen. 
 
Mit der verfügungsweise geltend gemachten Schadenersatzforderung von Fr. 26'492.40 lag ein relativ schwerer Eingriff in die Rechtsstellung des Beschwerdegegners vor. Im Weiteren war das Verfahren sachverhaltsmässig zunächst nicht einfach. Die Unterlagen der Firma A.________ waren unklar (Erfolgsrechnung, Lohnkonto) bzw. sogar falsch (Lohnbescheinigung 1997), was der Beschwerdegegner im einlässlichen Einspruch aufzuzeigen versuchte. Zudem wies er auf sein Ausscheiden aus dem Verwaltungsrat per 31. Januar 1998 hin. Gestützt auf den Einspruch reduzierte die Ausgleichskasse die Klageforderung auf Fr. 11'550.30. Schliesslich wies das kantonale Gericht die Klage mit Entscheid vom 24. Januar 2002 gänzlich ab. Unter den gegebenen Umständen verstösst es weder gegen Bundesrecht noch beruht es auf einer im Sinne von Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG mangelhaften Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts, wenn die Vorinstanz den Beizug einer rechtskundigen Person als angezeigt betrachtete. 
 
Damit ist der Anspruch des Beschwerdegegners auf unentgeltliche Verbeiständung im Einspruchverfahren zu bejahen. 
7. 
Verwaltungsgerichtsbeschwerden wegen Verweigerung der unentgeltlichen Rechtspflege unterliegen grundsätzlich nicht der Kostenpflicht (nicht publizierte Erwägung 4 des Urteils RKUV 2001 Nr. U 415 S. 91; SVR 1994 IV Nr. 29 S. 76 Erw. 4; Urteil R. vom 25. März 2003 Erw. 6, I 864/02). Da der Beschwerdegegner obsiegt, ist ihm zu Lasten der Ausgleichskasse eine Parteientschädigung zuzusprechen (Art. 135 in Verbindung mit Art. 159 OG). Das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung für das letztinstanzliche Verfahren erweist sich damit als gegenstandslos. 
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
1. 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen. 
2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
3. 
Die Ausgleichskasse des Kantons Zürich hat dem Beschwerdegegner für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 1500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen. 
4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt. 
Luzern, 23. September 2003 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
Die Präsidentin der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber: