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Eidgenössisches Versicherungsgericht 
Tribunale federale delle assicurazioni 
Tribunal federal d'assicuranzas 
 
Sozialversicherungsabteilung 
des Bundesgerichts 
 
Prozess 
{T 7} 
I 137/05 
 
Urteil vom 26. Oktober 2005 
IV. Kammer 
 
Besetzung 
Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiberin Weber Peter 
 
Parteien 
IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
G.________, 1951, Beschwerdegegner, vertreten durch Fürsprecher Felix Bangerter, Bälliz 62, 3600 Thun 
 
Vorinstanz 
Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern 
 
(Entscheid vom 12. Januar 2005) 
 
Sachverhalt: 
A. 
Der 1951 geborene G.________ meldete sich am 28. August 1998 bei der Invalidenversicherung für berufliche Eingliederungsmassnahmen an. Nach diversen Abklärungen gewährte ihm die IV-Stelle Bern mit Verfügungen vom 18. und 26. Juli 2002 die Umschulung zum Naturheilpraktiker als berufliche Massnahme für die Zeit vom 14. Oktober 2002 bis 13. Oktober 2003 und während der Dauer der Eingliederungsmassnahme ein Taggeld. Am 14. November 2002 liess der Versicherte nochmals die Ausrichtung einer IV-Rente bis zum Beginn der Umschulung beantragen. Mit Verfügung vom 20. Mai 2003 sprach ihm die IV-Stelle vom 1. Januar 1998 bis 31. Oktober 2002 (Ausbildungsbeginn) eine ganze Rente auf der Basis eines Invaliditätsgrades von 100 % zu. Auf Einsprache hin, mit welcher der Versicherte an Stelle einer Invalidenrente ein Taggeld geltend machte, wurde die Verfügung vom 20. Mai 2003 aufgehoben (Einspracheentscheid vom 4. März 2004). 
 
In der Folge anerkannte die IV-Stelle mit Verfügung vom 11. März 2004 den Anspruch des Versicherten auf ein Wartezeittaggeld ab 1. September 2000 bis 13. Oktober 2002, stellte jedoch mit Verweis auf die Schadenminderungspflicht eine Kürzung aufgrund eines zu 50 % zumutbaren hypothetischen Einkommens im Umfange von Fr. 1'911.- pro Monat in Aussicht. Mit Verfügungen vom 16., 17. und 18. Juni 2004 sprach sie für die besagte Zeit ein gekürztes Wartezeittaggeld von Fr. 64.30 zu. Die dagegen erhobene Einsprache wies sie mit der Begründung ab, der Versicherte habe seine Schadenminderungspflicht verletzt (Einspracheentscheid vom 20. August 2004). 
B. 
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern hiess mit Entscheid vom 12. Januar 2005 die hiegegen eingereichte Beschwerde gut, hob den Einspracheentscheid auf und sprach dem Versicherten ungekürzte Wartezeittaggelder von Fr. 96.60 für die Zeit vom 1. September bis 31. Dezember 2000 und von Fr. 99.60 für die Zeit vom 1. Januar 2001 bis 13. Oktober 2002 zu. 
C. 
Die IV-Stelle Bern führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, der kantonale Gerichtsentscheid betreffend Zusprache von ungekürzten Wartezeittaggeldern sei aufzuheben. 
 
Während G.________ auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen lässt, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung. 
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Mit der Vorinstanz steht fest und ist unbestritten, dass dem Versicherten ein Anspruch auf Wartezeittaggelder für die der Eingliederung vorausgehende Wartezeit vom 1. September 2000 bis 13. Oktober 2002 zusteht. Streitig und zu prüfen ist einzig die Frage, ob diese unter Anrechnung eines hypothetischen Einkommens festzulegen und mithin entsprechend zu kürzen sind, da der Versicherte - was dem Standpunkt der beschwerdeführenden IV-Stelle entspricht - in Missachtung der Schadenminderungspflicht auf die Ausübung einer an sich zumutbaren Tätigkeit verzichtet habe. 
2. 
2.1 Da nach der Rechtsprechung in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung hatten (BGE 130 V 259 Erw. 3.5, 333 Erw. 2.3, 425 Erw.1.1, 447 Erw. 1.2.1, je mit Hinweisen) sind mit dem kantonalen Gericht zur Beurteilung der vorstehenden materiellrechtlichen Frage die bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Bestimmungen des IVG und seiner Ausführungserlasse anwendbar und nicht das seit 1. Januar 2003 in Kraft stehende ATSG. 
2.2 Im vorinstanzlichen Entscheid werden die Bestimmungen und Grundsätze über den Anspruch auf Taggelder während der Eingliederung (alt Art. 22 Abs. 1 Satz 1 IVG) sowie auf Taggelder während der Wartezeit (alt Art. 22 Abs. 3 IVG in Verbindung mit alt Art. 18 IVV) zutreffend wiedergegeben. Darauf wird verwiesen. 
 
Zu betonen bleibt, dass nach Rz 5042 (bis 31. Dezember 2000; Rz 2027) der bundesamtlichen Wegleitung über die Berechnung und Auszahlung der Taggelder sowie ihre beitragsrechtliche Erfassung (WTG) für die Kürzung des Taggeldes eines Versicherten, der die vom Arzt für die Zeit der Eingliederung als zumutbar erklärte Teilerwerbstätigkeit nicht ausübt, der Lohn massgebend ist, den er erzielen könnte. Diese Verwaltungspraxis hat das Eidgenössische Versicherungsgericht im Urteil G. vom 14. April 2000 (SVR 2001 IV Nr. 28) für zulässig erklärt. Denn es ergibt sich aus dem Rechtsgleichheitsgebot, dass nicht nur der tatsächlich erzielte, sondern auch der aus invaliditätsfremden Gründen nicht erwirtschaftete mögliche Verdienst für die Kürzung heranzuziehen ist. Es wäre mit Art. 8 Abs. 1 BV schlechterdings nicht vereinbar, den teilweise arbeitsunfähigen Versicherten, der in Erfüllung der generell in der Sozialversicherung geltenden Schadenminderungspflicht (vgl. BGE 117 V 278 Erw. 2b, 400, je mit Hinweisen) während der Umschulung oder Wartezeit eine Erwerbstätigkeit ausübt, schlechter zu stellen, als den im gleichen Ausmass Arbeitsunfähigen, der im selben Zeitraum keiner ihm an sich zumutbaren Arbeit nachgeht (Urteil S. vom 11. August 2003, I 806/02; SVR 2001 IV Nr. 28 Erw. 2b). Mit der Vorinstanz ist eine Anrechnung von hypothetischen Erwerbseinkommen allerdings folgerichtig nur zulässig, wenn und soweit eine Verletzung der generell in der Sozialversicherung geltenden Schadenminderungspflicht (vgl. BGE 117 V 278 Erw. 2b, 400, je mit Hinweisen) vorliegt. Dabei sind alle objektiven und subjektiven Umstände miteinzubeziehen, welche die Realisierung eines Einkommens verhindern oder erschweren (vgl. Thomas Locher, Grundriss des Sozialversicherungsrechts, 3. Aufl. Bern 2003, § 40, Nr. 34). Die Anrechenbarkeit bestimmt sich unter dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit aufgrund der konkreten Gegebenheiten, beispielsweise der Lage am Arbeitsmarkt (vgl. Urteil S. vom 11. August 2003, I 806/02) oder allgemein der schwierigen Vermittelbarkeit (BGE 129 V 460 Erw. 4.3). Erzielt die versicherte Person aus Gründen, welche nicht von ihr zu vertreten sind, während der Wartezeit kein Einkommen, so ist in Bestätigung der Rechtsprechung des kantonalen Gerichts (publiziert in SVR 2002 IV Nr. 36 Erw. 3) von der Aufrechnung des hypothetischen Verdienstes abzusehen. 
3. 
3.1 Die Vorinstanz hat in Würdigung der gesamten Aktenlage zu Recht erkannt, dass die Voraussetzungen für die Herabsetzung des Wartezeittaggeldes vorliegend nicht erfüllt sind. Mit Blick auf die gesamten Umstände kann nicht gesagt werden, dass der Beschwerdegegner seiner Schadenminderungspflicht nicht gehörig nachgekommen ist. Gemäss Gutachten des Psychiaters Dr. med. I.________, welches im Auftrag der IV-Stelle am 4. Dezember 2001 erstattet wurde, ist der Versicherte seit September 2000 in einer angepassten Tätigkeit (Belastbarkeit unter Stress, Hektik, Druck und emotionalen Kampf- und Konfliktsituationen markant vermindert) zu 75% arbeitsfähig. Auf körperlicher Ebene, hinsichtlich der durchgemachten Herzerkrankung, bestand keine Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit mehr. Der Gutachter empfahl ein Arbeitsfeld in sozialen, helferischen und soweit möglich in emotional harmonischen, kreativen Gebieten und stellte fest, dass der geeignete Tätigkeitsbereich berufsberaterisch zu konkretisieren sei. Im Schreiben vom 12. März 2002 hielt die IV-Stelle, berufliche Eingliederung, selbst fest, dass realistisch gesehen eine Tätigkeit für den Versicherten ohne eine vorangehende gründliche Ausbildung kaum zu realisieren sei. Mit Verfügungen vom 18. Juli und 26. Juli 2002 wurde daraufhin die Umschulung zum Naturheilpraktiker bewilligt. Wie der Beschwerdegegner zu Recht anführt, teilte die IV-Stelle offenbar diese Einschätzung, gewährte sie ihm doch mit Verfügung vom 20. Mai 2003 eine ganze IV-Rente für die Zeit vom 1. Januar 1998 (Anmeldung) bis 31. Oktober 2002 (Beginn der bewilligten Umschulung) basierend auf einem Invaliditätsgrad von 100 %. Entgegen den Ausführungen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde kann nicht von einer Erwerbsfähigkeit von 75 % seit September 2000 ausgegangen werden. In den Jahren 1998 und 1999 hatte der Versicherte aktenkundig Arbeitslosentaggelder bezogen, welche jedoch nach Zusprache der Invalidenrente von der Arbeitslosenkasse wieder zurückgefordert wurden (Einspracheentscheid vom 2. Juli 2003). Mit der Vorinstanz hat der Beschwerdegegner in dieser Zeit folglich trotz ausreichender Arbeitsbemühungen keine Arbeit gefunden. Unter Berücksichtigung, dass er seit längerer Zeit nicht mehr im Arbeitsprozess stand und gesundheitsbedingt nur in beschränktem Rahmen einsetzbar war, ist mit Blick auf die Arbeitsmarktlage in den Jahren 2000 bis 2003 nicht davon auszugehen, dass es ihm bei entsprechenden Arbeitsbemühungen zumutbar gewesen wäre, zumindestens einer teilweisen Erwerbstätigkeit nachzugehen oder eine Teilzeitstelle zu finden, in einem Arbeitsgebiet, in welchem er vorher nicht tätig war. Vielmehr ist in Bestätigung des kantonalen Gerichtsentscheides davon auszugehen, dass er aus Gründen, welche nicht von ihm zu vertreten sind, während der Wartezeit kein Erwerbseinkommen erzielen konnte. 
3.2 Was in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde dagegen vorgetragen wird, führt zu keinem andern Ergebnis. Dass sich der Versicherte in den Jahren 2000 bis 2003 weiterhin vergeblich um Arbeit bemüht hatte - wie die Vorinstanz annahm - ist zwar beweismässig nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erstellt, sondern lediglich glaubhaft gemacht. Daraus vermag die Beschwerdeführerin jedoch nichts zu ihren Gunsten abzuleiten. Auch ohne zusätzliche Beweisvorkehren bezüglich der behaupteten Arbeitsbemühungen kann mit Blick auf die gesamte Ausganglage nicht von einem pflichtwidrigen Verhalten von Seiten des Beschwerdegegners gesprochen werden. 
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
1. 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen. 
2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
3. 
Die IV-Stelle des Kantons Bern hat dem Beschwerdegegner für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 1500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen. 
4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt. 
Luzern, 26. Oktober 2005 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
 
Der Präsident der IV. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: