Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Grössere Schrift
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht 
Tribunale federale delle assicurazioni 
Tribunal federal d'assicuranzas 
 
Sozialversicherungsabteilung 
des Bundesgerichts 
 
Prozess 
{T 7} 
I 513/02 
 
Urteil vom 21. Juli 2003 
I. Kammer 
 
Besetzung 
Präsident Schön, Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Meyer; Gerichtsschreiberin Keel Baumann 
 
Parteien 
Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern, Beschwerdeführer, 
 
gegen 
 
L.________, 1987, Beschwerdegegnerin, vertreten durch ihre Mutter R.________, 
 
Vorinstanz 
Versicherungsgericht des Kantons Solothurn, Solothurn 
 
(Entscheid vom 11. Juli 2002) 
 
Sachverhalt: 
A. 
L.________ (geb. 1987) leidet an einer prälingualen, unmittelbar nach der Geburt aufgetretenen höchstgradigen, an Gehörlosigkeit grenzenden Schwerhörigkeit beidseits, links mehr als rechts bei Status nach Frühgeburt und neonataler Sepsis. 
 
Mit Verfügung vom 24. Dezember 1996 erteilte die IV-Stelle Aargau Kostengutsprache für die Versorgung mit einem Cochlea-Implantat (nachfolgend: CI) links. Am 6. Juni 1997, rund ein halbes Jahr nach dem Eingriff (16. Januar 1997), musste das CI infolge eines Defektes ersetzt werden, wobei die Invalidenversicherung auch diesen Eingriff übernahm (Verfügung der IV-Stelle Aargau vom 29. Mai 1997). 
 
Da sich in der Folge herausstellte, dass das entfernte CI aus einer Serie stammte, bei der häufig Ausfälle auftraten, erklärte sich die Lieferfirma bereit, das CI im Falle eines Defektes zu ersetzen. Im Weitern übernahm sie die Kosten der Versorgung rechts (d.h. die Kosten für das Gerät und die Operation), um bei einem allfälligen Ausfall des linken CI die auditive Kommunikationsfähigkeit der Versicherten zu garantieren. 
 
Mit Verfügung vom 22. November 2001 lehnte die nunmehr zuständige IV-Stelle des Kantons Solothurn (nach Rücksprache mit dem Bundesamt für Sozialversicherung [BSV]) ein Gesuch um Übernahme eines CI rechts, welches sich sinngemäss einzig auf die Übernahme der durch die Lieferfirma nicht gedeckten Folgekosten bezog, ab. Zur Begründung gab sie an, bei einem Ausfall des linken Gehörs könne davon ausgegangen werden, dass innert zumutbarer kurzer Zeit ein Implantat rechts eingesetzt werden könne. Es bestehe somit keine drohende Invalidität und die Operation würde aus rein vorsorglichen Gründen durchgeführt. 
B. 
Beschwerdeweise beantragte die Mutter der Versicherten die Übernahme der inzwischen durchgeführten und von der Lieferfirma bezahlten CI-Implantation (Service und Reparaturen, Anpassungen, Batterien etc.) durch die Invalidenversicherung. Sie machte geltend, der Ausfall des fehlerhaften CI links - gemäss Prof. Dr. med. P.________, Klinik X.________, liegt die Defektwahrscheinlichkeit bei über 50 % und ist mit einer Wartezeit für ein neues CI von rund einem halben Jahr zu rechnen (Bericht vom 4. Februar 2002) - würde wegen zu befürchtender schulischer Lücken, der drohenden Ausbildungsverzögerung und wegen der vorübergehenden Gehörlosigkeit eine wesentliche Beeinträchtigung der Entwicklung der Versicherten bedeuten. 
 
Mit Entscheid vom 11. Juli 2002 hiess das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn die Beschwerde gut, hob die angefochtene Verfügung auf und verpflichtete die IV-Stelle des Kantons Solothurn, die CI-Implantation rechts (Einstellung, regelmässige Kontrollen, Betriebskosten) zu übernehmen. 
C. 
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das Bundesamt für Sozialversicherung, der kantonale Entscheid sei aufzuheben. Die Mutter der Versicherten schliesst auf Abweisung und die IV-Stelle auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. 
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Invalidenversicherungsbereich geändert worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1), und weil ferner das Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 22. November 2001) eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE 121 V 366 Erw. 1b), sind im vorliegenden Fall die bis zum 31. Dezember 2002 geltenden Bestimmungen anwendbar. 
2. 
Nach Art. 12 Abs. 1 IVG hat ein Versicherter Anspruch auf medizinische Massnahmen, die nicht auf die Behandlung des Leidens an sich, sondern unmittelbar auf die berufliche Eingliederung gerichtet und geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit dauernd und wesentlich zu verbessern oder vor wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren. Um Behandlung des Leidens an sich geht es in der Regel bei der Heilung oder Linderung labilen pathologischen Geschehens. Die Invalidenversicherung übernimmt in der Regel nur solche medizinische Vorkehren, die unmittelbar auf die Beseitigung oder Korrektur stabiler oder wenigstens relativ stabilisierter Defektzustände oder Funktionsausfälle hinzielen und welche die Wesentlichkeit und Beständigkeit des angestrebten Erfolges gemäss Art. 12 Abs. 1 IVG voraussehen lassen (BGE 120 V 279 Erw. 3a mit Hinweisen). 
3. 
Bei nichterwerbstätigen minderjährigen Versicherten ist zu beachten, dass diese als invalid gelten, wenn ihr Gesundheitsschaden künftig wahrscheinlich eine Erwerbsunfähigkeit zur Folge haben wird (Art. 5 Abs. 2 IVG). Nach der Rechtsprechung können daher medizinische Vorkehren bei Jugendlichen schon dann überwiegend der beruflichen Eingliederung dienen und trotz des einstweilen noch labilen Leidenscharakters von der Invalidenversicherung übernommen werden, wenn ohne diese Vorkehren eine Heilung mit Defekt oder ein sonst wie stabilisierter Zustand einträte, wodurch die Berufsbildung oder die Erwerbsfähigkeit oder beide beeinträchtigt würden (BGE 105 V 20; AHI 2000 S. 64 Erw. 1). 
4. 
Es steht fest und ist unbestritten, dass die beidseitige hochgradige Schwerhörigkeit der Versicherten medizinischen Massnahmen im Sinne von Art. 12 IVG zugänglich ist. Streitig und zu prüfen ist, ob die Invalidenversicherung die prophylaktisch durchgeführte CI-Implantation (Einstellungen, Hörtraining, Betriebskosten) als medizinische Eingliederungsmassnahme zu übernehmen hat. 
 
Ausser Betracht fällt ein Anspruch gestützt auf Art. 11 IVG in Verbindung mit Art. 23 IVV, weil es sich bei der im Rahmen dieser Bestimmung geschuldeten Vergütung von Behandlungskosten um eine Schadenersatzleistung handelt (vgl. BGE 119 V 252 Erw. 1b), welche den Eintritt eines Schadens - die Realisierung des Eingliederungsrisikos - voraussetzt. Nicht zu prüfen ist im vorliegenden Verfahren sodann, ob die Herstellerfirma, welche das Gerät und die Operation des CI rechts übernommen hat, für die Folgekosten des CI rechts haftbar gemacht werden kann, wobei an dieser Stelle immerhin auf die Bestimmung des Art. 52 IVG (Rückgriff auf haftpflichtige Dritte) verwiesen sei. 
5. 
5.1 Die Vorinstanz erwog, die beidseitige Versorgung mit einem CI wäre bei mängelfreiem CI links aus invalidenversicherungsrechtlicher Sicht nicht erforderlich gewesen. Die hohe Wahrscheinlichkeit eines Ausfalls und die damit verbundenen Risiken und Belastungen begründeten jedoch den Anspruch auf Übernahme der - im Vergleich zu den vollen Kosten - verhältnismässig bescheidenen Folgekosten des CI rechts. 
5.2 Das BSV räumt in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde ein, dass es aufgrund des erheblichen Defektrisikos sinnvoll gewesen sei, auch auf der rechten Seite ein CI einzusetzen, um einem allfälligen Unterbruch in der auditiven Kommunikation vorzubeugen. Es macht jedoch geltend, dass nicht von einer unmittelbar drohenden oder im Zeitpunkt des Eintritts ins Erwerbsleben bestehenden Invalidität ausgegangen werden könne, weil völlig ungewiss sei, ob und allenfalls wann das anfällige CI einen Defekt erleide. 
6. 
Gestützt auf das in SVR 2003 IV Nr. 12 S. 35 publizierte Urteil G. vom 31. Oktober 2002 (I 395/02) steht fest, dass die beidseitige Versorgung mit einem CI bewährter Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft entspricht und Einigkeit darin besteht, dass die beidseitige Versorgung die kommunikativen Fähigkeiten eines gehörlosen Kindes hinsichtlich Sprachverständnis und Sprachverständlichkeit erheblich zu verbessern vermag. Indessen ist - wie das Eidgenössische Versicherungsgericht in diesem Urteil entschieden hat - im Einzelfall zu prüfen, ob Indikation und Zweckmässigkeit sowie - im Rahmen von Art. 12 IVG - Dauerhaftigkeit und Wesentlichkeit der Massnahme gegeben sind. 
6.1 Gestützt auf die Berichte des Prof. Dr. med. P.________ vom 14. August 2001 und 4. Februar 2002 sowie die Stellungnahme der Mutter der Versicherten ist davon auszugehen, dass die Vorkehr aufgrund der konkreten Verhältnisse indiziert und zweckmässig ist; sie ist - dauernd und wesentlich - geeignet, den Eingliederungserfolg, d.h. die schulische Ausbildung und die Berufsbildung der Versicherten, durch Verbesserung der auditiven Kommunikation sicherzustellen: 
 
Im Hinblick auf den von der Versicherten geplanten Übertritt von der Bezirksschule (welche sie in der für Gehörlose und Schwerhörige spezialisierten Schule Y.________ besuchte) an die Kantonsschule ist die beidseitige Versorgung angezeigt, da der Unterricht an dieser höheren Schule nicht auf die Bedürfnisse Gehörloser ausgerichtet ist. Hinzu kommt, dass es der Versicherten gemäss Prof. Dr. med. P.________ - unabhängig von der Art der weiteren Ausbildung - nicht zumutbar ist, bei einem Defekt des CI links während eines halben Jahres ohne Versorgung mit einem CI zu sein. Denn die Versicherte ist, da sie seit früher Kindheit zunächst konventionelle Hörgeräte getragen hat, bevor sie wegen Verschlechterung des Resthörvermögens ein CI erhielt, seit jeher daran gewöhnt, die Sprache nicht nur mit Lippenlesen, sondern im Wesentlichen akustisch aufzunehmen. Bei einem Ausfall des einzigen CI fiele es ihr daher schwer, auf "lautlose" Kommunikation umzustellen. In diesem Sinne stellt das zweite CI einen wichtigen Sicherheitsfaktor dar, indem allfällige technische Defekte des einen Gerätes durch das andere aufgefangen werden. Aufgrund der Tatsache, dass die Versicherte bereits ein CI hat, darf schliesslich auch davon ausgegangen werden, dass eine derart hochgradige Schwerhörigkeit vorliegt, dass eine konventionelle Versorgung nicht in Frage kommt (BGE 115 V 197 Erw. 4e/bb), dass der Hörnerv und das zentrale Hörsystem auf elektrische Reize reagieren und subjektive Hörempfindungen auslösen können (BGE 115 V 198 Erw. 4e/bb) und dass der notwendige Intelligenzgrad und die Motivation vorhanden sind (BGE 115 V 198 Erw. 4e/bb). 
6.2 Erfüllt ist schliesslich auch die Voraussetzung, dass die Massnahme den therapeutischen Erfolg in einfacher Weise anstrebt, d.h. verhältnismässig ist, geht es doch vorliegend nicht um die Übernahme eines CI (Gerät und Operation), sondern lediglich um die Übernahme der relativ geringen Folgekosten. 
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
1. 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen. 
2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Solothurn, der IV-Stelle des Kantons Solothurn und der Ausgleichskasse des Kantons Solothurn zugestellt. 
Luzern, 21. Juli 2003 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
Der Präsident der I. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: