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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
8C_453/2013  
   
   
 
 
 
Urteil vom 13. Januar 2014  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin, 
Bundesrichter Maillard, Bundesrichterin Heine, 
Gerichtsschreiber Jancar. 
 
Verfahrensbeteiligte 
AGV Aargauische Gebäudeversicherung, Bleichemattstrasse 12/14, 5000 Aarau,  
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Beat Frischkopf, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
H.________, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Unfallversicherung (Prozessvoraussetzung; Verjährung), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid 
des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau 
vom 8. Mai 2013. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Der 1954 geborene H.________ war zuletzt als Lehrer angestellt und bei der Aargauischen Gebäudeversicherung (AGV) obligatorisch unfallversichert. Im Jahre 1979 kam es nach seiner Darstellung zu zwei Ereignissen, die eine Kreuzbandläsion links zur Folge gehabt hätten, welche operiert worden sei. In den folgenden Jahren meldete er der AGV insgesamt sechs Ereignisse, das letzte am 2. November 2009: Demnach habe er am 7. Oktober 2009 beim Golfen während eines Abschlags einen Stich und starke Schmerzen im linken Knie verspürt, wobei es sich um Spätfolgen eines Knieunfalls vom 20. Juni 1979 handle. Mit Verfügung vom 28. September 2012 verneinte die AGV ihre Leistungspflicht für die Kniebeschwerden links. Die dagegen erhobene Einsprache wies sie mit Entscheid vom 17. Dezember 2012 ab. Zur Begründung führte sie aus, die aktuellen Kniebeschwerden stünden überwiegend wahrscheinlich im Zusammenhang mit den Ereignissen aus dem Jahre 1979; für die Versicherungsleistungen seien die damals geltenden "Allgemeinen Bedingungen (AVB) für die Unfall- und Haftpflichtversicherung der kantonalen Angestellten" massgebend. Gemäss Art. 15 AVB verjährten Forderungen gegenüber der kantonalen Unfallversicherung 10 Jahre nach Eintritt des Unfallereignisses; diese 10-Jahrefrist sei längstens abgelaufen und damit die entsprechende Leistungspflicht der AGV erloschen. 
 
B.   
In teilweiser Gutheissung der dagegen von H.________ geführten Beschwerde hob das Versicherungsgericht des Kantons Aargau den Einspracheentscheid auf und wies die Sache zur Vornahme weiterer Abklärungen im Sinne der Erwägungen sowie zur anschliessenden Neuverfügung an die AGV zurück (Entscheid vom 8. Mai 2013). 
 
C.   
Mit Beschwerde beantragt die AGV die Aufhebung des kantonalen Entscheides. 
H.________, die Vorinstanz und das Bundesamt für Gesundheit verzichten auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen und mit freier Kognition, ob ein Rechtsmittel zulässig ist (BGE 138 III 46 E. 1 Ingress). Beim angefochtenen Entscheid betreffend Anordnung weiterer Abklärungen durch die Verwaltung handelt es sich um einen Rückweisungsentscheid und damit um einen - selbstständig eröffneten - Vor- oder Zwischenentscheid im Sinne von Art. 93 BGG (BGE 137 V 314 E. 1 S. 315). Die Beschwerde ist somit nur unter den Voraussetzungen von Abs. 1 dieser Bestimmung zulässig. Es obliegt der beschwerdeführenden Partei, darzutun, dass die Eintretensvoraussetzungen gemäss Art. 93 BGG erfüllt sind, soweit deren Vorliegen nicht offensichtlich in die Augen springt (nicht publ. E. 1.1.1 des Urteils BGE 4A_103/2013; BGE 138 III 46 E. 1.2 S. 47, 137 III 324 E. 1.1 S. 329). Im angefochtenen Entscheid wird ausgeführt, die in Art. 15 Abs. 3 AVB der AGV statuierte 10-jährige Verjährungsfrist für Forderungen beziehe sich nicht auf Rückfälle und Spätfolgen (vgl. E. 5.2 hienach). Ob damit eine materielle Vorgabe gemacht wird, welche für die AGV grundsätzlich einen Nachteil nach Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG bildet (vgl. nicht publ. E. 1.2 des Urteils BGE 135 V 279, aber in: SVR 2009 UV Nr. 40 S. 137 [8C_531/2008]; SVR 2013 UV Nr. 3 S. 7 E. 1 [8C_398/2012]) kann offenbleiben, da die Beschwerde ohnehin abzuweisen ist. 
 
2.   
Die AGV wendet ein, der Beschwerdegegner hätte gemäss Art. 15 AVB (vgl. E. 5.1 hienach) im Klageverfahren vorgehen sollen, was er nicht getan habe. Demnach hätte die Vorinstanz ihre sachliche Zuständigkeit gar nicht bejahen dürfen. Diesen Einwand brachte die AGV vorinstanzlich nicht vor. In dieser Hinsicht liess sie sich auf die Beschwerde vorbehaltlos ein, weshalb auf ihre Zuständigkeitsrüge nicht einzutreten ist (Art. 99 Abs. 2 BGG). 
 
3.   
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Der vorinstanzliche Entscheid stützt sich in der Sache auf kantonales Recht. Als Beschwerdegrund kommt zur Hauptsache die Verletzung von Bundesrecht, insbesondere von verfassungsmässigen Rechten der Bundesverfassung in Frage (Art. 95 BGG). Die Anwendung des kantonalen Rechts als solches bildet nicht Beschwerdegrund. Überprüft werden kann insoweit nur, ob der angefochtene Entscheid auf willkürlicher Gesetzesanwendung beruht oder ob das Gesetz oder seine Anwendung sonst wie gegen übergeordnetes Recht verstossen (vgl. BGE 133 II 249 E. 1.2.1 S. 251 f.). Hinsichtlich der Verletzung von Grundrechten und von kantonalem und interkantonalem Recht gilt eine qualifizierte Rügepflicht. Das Bundesgericht prüft eine solche Rüge nur insofern, als sie in der Beschwerde präzise vorgebracht und begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 136 I 49 E. 1.4.1 S. 53). Wird eine Verletzung des Willkürverbots geltend gemacht, muss im Einzelnen dargelegt werden, inwiefern der angefochtene Entscheid an einem qualifizierten und offensichtlichen Mangel leidet. Auf ungenügend begründete Rügen und bloss allgemein gehaltene, appellatorische Kritik am angefochtenen Entscheid tritt es nicht ein (BGE 130 I 258 E. 1.3 S. 262; 129 I 113 E. 2.1 S. 120; nicht publ. E. 1.2 des Urteils BGE 138 V 310). 
Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG). 
 
4.   
Die Vorinstanz erwog, die aktuellen Kniebeschwerden des Beschwerdegegners stünden in einem natürlichen Kausalzusammenhang zu einem der Ereignisse im Jahre 1979. Die AGV habe jedoch keine ernsthaften Bemühungen unternommen, zuverlässige Informationen bezüglich der Versicherungsdeckung sowie des Hergangs der beiden Unfälle einzuholen. Es sei auch fraglich, ob der Beschwerdegegner im Jahre 1979 bei der AGV angestellt und damit versichert gewesen sei. Sie habe abzuklären, ob es sich bei den Unfallereignissen im Jahre 1979 um versicherte Ereignisse gehandelt habe. 
Die AGV anerkennt, dass die aktuellen Kniebeschwerden in einem natürlichen Kausalzusammenhang zu einem der Ereignisse des Jahres 1979 stehen. 
 
5.  
 
5.1. Streitig und zu prüfen ist, ob Ansprüche des Beschwerdegegners aus Unfällen im Jahre 1979 aufgrund des damals geltenden Art. 15 AVB der AGV erloschen sind. Diese Bestimmung steht unter dem Titel "Rechtsmittel und Erlöschen der Versicherungsansprüche" und lautet wie folgt: Streitigkeiten über Versicherungsleistungen werden endgültig durch das Aarg. Versicherungsgericht erledigt (Abs. 1). Entschädigungsansprüche, welche nicht innert drei Monaten seit der Ablehnung durch die Unfallversicherung beim Aarg. Versicherungsgericht geltend gemacht werden, sind erloschen (Abs. 2). Ebenso kann jede Leistung der Unfallversicherung durch diese als verwirkt erklärt werden, wenn ihre Zahlung nicht binnen zwei Jahren nach Eintritt des Unfallereignisses bei ihr verlangt wurde. Forderungen an die kantonale Unfallversicherung verjähren grundsätzlich 10 Jahre nach Eintritt des Unfallereignisses (Abs. 3).  
 
5.2. Die Vorinstanz erwog, das Bundesgericht habe unter anderem mit BGE 105 V 31 E. 1c S. 35 vom 13. März 1979, also vor Inkrafttreten des UVG, bestätigt, nach konstanter Praxis seien Rückfälle und Spätfolgen von der Unfallversicherung zu übernehmen, wenn die gemeldete Verschlimmerung des Gesundheitszustandes eine dauernde weitere Verminderung der Erwerbsfähigkeit bewirke oder befürchten lasse. Versicherte Personen hätten demnach bereits im Jahre 1979 ein Rückfallmelderecht gehabt. Eine Wegbedingung der Leistungspflicht nach Ablauf von 10 Jahren nach dem Unfallereignis und somit eine Wegbedingung des Rückfallmelderechts, wie die AGV die AVB auslege, sei somit nicht rechtens. Art. 15 AVB sei aber wohl auch nicht in diesem Sinne auszulegen. Vielmehr regle diese Bestimmung, dass erstmalige Forderungen aus einem Unfall 10 Jahre danach verjährten. Eine Leistungsübernahme aufgrund von Rückfällen oder Spätfolgen werde hingegen nicht ausgeschlossen.  
 
6.  
 
6.1. Nach Art. 118 Abs. 1 UVG werden Versicherungsleistungen für Unfälle, die sich vor dem Inkrafttreten des UVG, d.h. vor dem 1. Januar 1984, ereignet haben, nach altem Recht gewährt.  
Die AGV macht im Wesentlichen geltend, bei ihrem Versicherungsprodukt handle es sich nicht um ein solches nach dem bis 31. Dezember 1983 in Kraft gestandenen KUVG. Gemäss diesem Gesetz seien die Kranken- und Unfallversicherung für gewisse Berufsgruppen (z.B. Lehrpersonen) freiwillig gewesen. Die Kantone seien jedoch befugt gewesen, das Obligatorium allgemein oder für gewisse Bevölkerungsklassen einzuführen. Zum versicherten Personenkreis der AGV gehörten z.B. die Lehrpersonen, die nicht obligatorisch bei der SUVA versichert gewesen seien. Der Kanton sei berechtigt gewesen, seine versicherten Leistungen und Bedingungen eigenständig zu definieren. Eine Police bezüglich des Versicherungsschutzes der kantonalen Angestellten aus dem massgebenden Zeitraum 1979 existiere bei der AGV nicht mehr, da der Kanton Aargau sich nur für 10 Jahre als leistungspflichtig erachtet habe und diese Frist längst abgelaufen sei. Der von der Vorinstanz ins Feld geführte BGE 105 V 31 sei ein Anwendungsfall des Art. 81 Abs. 1 KUVG und daher mit der hier streitigen Sache nicht vergleichbar. Gemäss dem eindeutigen Wortlaut des Art. 15 Abs. 3 Satz 2 AVB werde entgegen der Vorinstanz nicht von erstmaligen Forderungen gesprochen. Somit gälten die 10 Jahre auch für allfällige Rückfälle oder Spätfolgen. Diese hätten nicht zusätzlich ausgeschlossen, sondern - im Gegenteil - in Abänderung des Wortlauts von Art. 15 AVB zusätzlich eingeschlossen werden müssen, wenn sie auch nach Ablauf von 10 Jahren noch übernommen werden müssten. 
 
6.2. Bei der hier in Frage stehenden Unfallversicherung handelt es sich unbestrittenermassen um eine solche des kantonalen öffentlichen Rechts. Demnach hat die Auslegung der AVB nach den gewöhnlichen Regeln der Gesetzesauslegung zu geschehen (vgl. BGE 134 V 170 E. 4.1 S. 174, 130 V 80 E. 3.2.2 S. 81). Die AGV legt nicht rechtsgenüglich dar, inwiefern die vorinstanzliche Auslegung, wonach die in Art. 15 Abs. 3 Satz 2 AGV statuierte Verjährung erstmalige Forderungen aus einem Unfall, nicht aber Forderungen aus Rückfällen oder Spätfolgen erfasse, willkürlich sei; Gleiches gilt hinsichtlich des Beizugs des BGE 105 V 31 als Auslegungshilfe (vgl. nicht publ. E. 7.1 des Urteils BGE 136 V 346). Vielmehr erschöpfen sich die Ausführungen der AGV in bloss allgemein gehaltener, appellatorischer Kritik am vorinstanzlichen Entscheid, weshalb darauf nicht näher einzugehen ist (vgl. E. 3 hievor). Soweit sie sich neu auf die Dissertation des Hans Bosch, Die Lehrer- und Schülerversicherungen an den aargauischen öffentlichen Lehranstalten, Bern-Leipzig 1936, beruft, fällt dies zwar nicht unter das Novenverbot (nicht publ. E. 2.3 des Urteils BGE 136 V 395, in SVR 2011 KV Nr. 5 S. 20 E. 2.3 [9C_334/2010]); indessen ergeben sich aus den von ihr daraus zitierten Textpassagen keine Argumente, die zu einem anderen Ergebnis führen.  
 
7.   
Die AGV bringt weiter vor, mit Schreiben vom 18. März 2010 habe sie den Beschwerdegegner informiert, dass für die Behandlung des linken Knies keine Leistungen erbracht werden könnten. Weil er damals entgegen Art. 15 Abs. 2 ABV nicht innert 3 Monaten das kantonale Gericht angerufen habe, hätte er keinen Leistungsanspruch mehr, selbst wenn keine auf 10 Jahre begrenzte Leistungspflicht bestünde. Dieser Einwand ist ebenfalls unbehelflich. Im Verwaltungs- und Einspracheverfahren war der Beschwerdegegner nicht anwaltlich vertreten. Im Schreiben vom 18. März 2010 machte ihn die AGV nicht auf Art. 15 Abs. 2 ABV aufmerksam. Vielmehr erliess sie nach seinen schriftlichen Einwänden vom 22. Mai 2012 gegen dieses Schreiben eine leistungsablehnende Verfügung vom 28. September 2012, worin sie ihn auf ein Einspracherecht innert 30 Tagen hinwies. Seine Einsprache wies sie mit Entscheid vom 17. Dezember 2012 ab, wobei sie ihm eröffnete, er könne innert 30 Tagen Beschwerde beim kantonalen Gericht erheben. Im kantonalen Gerichtsverfahren rügte die AGV nicht, er habe seinen Leistungsanspruch mangels Klageeinreichung innert 3 Monaten seit ihrem Schreiben vom 18. März 2010 verwirkt. Dieser neue Einwand ist somit nicht zu hören. 
 
8.   
Bei diesem Verfahrensausgang ist die AGV kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1, Art. 68 Abs. 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 13. Januar 2014 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Leuzinger 
 
Der Gerichtsschreiber: Jancar