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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
6S.252/2006 /bri 
 
Urteil vom 17. August 2006 
Kassationshof 
 
Besetzung 
Bundesrichter Wiprächtiger, präsidierendes Mitglied, 
Bundesrichter Karlen, Zünd, 
Gerichtsschreiber Weissenberger. 
 
Parteien 
X.________, 
Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecherin Beatrice Gurzeler, 
 
gegen 
 
Generalprokurator des Kantons Bern, Postfach 7475, 3001 Bern. 
 
Gegenstand 
Einfache Verletzung von Verkehrsregeln, 
 
Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Bern, 1. Strafkammer, vom 26. April 2006. 
 
Sachverhalt: 
A. 
Am Nachmittag des 15. Dezember 2004 fuhr A.________ mit ihrem Personenwagen auf der Simmentalstrasse talauswärts in Richtung Wimmis hinter einem Traktor, der mit einer Geschwindigkeit von 25 bis 30 km/h fuhr. Nach einer Linkskurve setzte sie zum Überholen des Traktors an und wechselte dafür auf die Gegenfahrspur. Gleichzeitig bog X.________ mit seinem Personenwagen von seiner Hausausfahrt rückwärts in die Simmentalstrasse ein, um danach talaufwärts (also in Richtung Erlenbach/Zweisimmen) zu fahren. Dabei stiess er mit dem Fahrzeug von A.________ zusammen, das - aus ihrer Sicht - auf der Überholspur fuhr. 
 
Die signalisierte Höchstgeschwindigkeit auf der Simmentalstrasse beträgt 60 km/h. In der fraglichen Linkskurve ist eine Sicherheitslinie markiert, die in Richtung Wimmis betrachtet kurz vor der Hausausfahrt von X.________ endet und in eine Leitlinie übergeht. Die Sichtverhältnisse waren für X.________ beim Rückwärtsfahren stark eingeschränkt. Er konnte talaufwärts in Richtung des herannahenden Personenwagens A.________ die Fahrbahnhälfte des Gegenverkehrs 10 m weit überblicken. A.________ führte das Überholmanöver in einem für sie übersichtlichen Bereich aus. 
B. 
Mit Urteil vom 29. November 2005 sprach der Gerichtspräsident 1 des Gerichtskreises XII Frutigen-Niedersimmental X.________ in Anwendung von Art. 90 Ziff. 1 und Art. 36 Abs. 4 SVG sowie Art. 15 Abs. 3 VRV der Verletzung der Verkehrsregeln durch Nichtgewähren des Vortritts beim Rückwärtseinfügen in eine Hauptstrasse schuldig und bestrafte ihn mit einer Busse von 300 Franken. Gleichzeitig verurteilte er A.________ wegen Verletzung von Verkehrsregeln durch Überfahren der Sicherheitslinie (Art. 90 Ziff. 1 SVG und Art. 73 Abs. 6 lit. a SSV) zu einer Busse von 100 Franken. 
 
X.________ erhob gegen seine Verurteilung Appellation. Mit Urteil vom 26. April 2006 bestätigte das Obergericht des Kantons Bern, 1. Strafkammer, das angefochtene Urteil im Schuld- und Strafpunkt. Da nicht genau ermittelt werden konnte, an welcher Stelle A.________ die Sicherheitslinie überfuhr, geht das Obergericht im Zweifel zu Gunsten von X.________ davon aus, sie habe die Sicherheitslinie mehr als 10 m vor ihrem Ende überfahren und der Beschwerdeführer habe sie bis unmittelbar vor der Kollision nicht sehen können (angefochtenes Urteil, S. 14 f.). 
C. 
X.________ erhebt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts des Kantons Bern vom 26. April 2006 aufzuheben und die Sache zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. 
D. 
Das Obergericht des Kantons Bern hat auf eine Stellungnahme zur Beschwerde verzichtet. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Der Beschwerdeführer stellt die gemäss Art. 277bis Abs. 1 BStP verbindlichen tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz in Frage (Beschwerde, S. 3 - 7). Damit ist er nicht zu hören. 
2. 
Der Beschwerdeführer beruft sich auf den Vertrauensgrundsatz. Er macht im Wesentlichen geltend, er habe sich darauf verlassen dürfen, dass die Fahrzeuge auf der Gegenfahrbahn die unmittelbar vor seiner Ausfahrt endende Sicherheitslinie beachten und vorher nicht rechtswidrig überholen würden. Er habe nicht mit vortrittsberechtigten Fahrzeugen rechnen müssen, die links der Sicherheitslinie im für ihn sichttoten Bereich überholten (Beschwerde, S. 8 ff.). 
2.1 Gemäss Art. 36 Abs. 4 SVG darf der Fahrzeugführer, der sein Fahrzeug in den Verkehr einfügen, wenden oder rückwärts fahren will, andere Strassenbenützer nicht behindern. Diese haben den Vortritt. Nach Art. 15 Abs. 3 VRV muss der Fahrzeuglenker, der aus Fabrik-, Hof- oder Garagenausfahrten, aus Feldwegen, Radwegen, Parkplätzen, Tankstellen und dergleichen oder über ein Trottoir auf eine Haupt- oder Nebenstrasse fährt, den Benützern dieser Strassen den Vortritt gewähren. Ist die Stelle unübersichtlich, so muss der Fahrzeugführer anhalten und, wenn nötig, eine Hilfsperson beiziehen, die das Fahrmanöver überwacht. 
 
Der Fahrzeuglenker, der rückwärts aus einer Ausfahrt kommend, sich in den Verkehr einfügen will, hat nach Art. 36 Abs. 4 SVG allen auf der Strasse verkehrenden Fahrzeugen, ob sie von rechts oder links kommen, den Vortritt zu gewähren und zwar auf der ganzen Strassenbreite. Es liegt daher an ihm, die nach den Umständen und Sichtverhältnissen gebotenen Massnahmen zu treffen, um eine Beeinträchtigung oder Gefährdung herannahender Vortrittsberechtigter zu verhindern (vgl. nur BGE 122 IV 133 E. 2a; 117 IV 498 E. 6 S. 503; 106 IV 58 E. 2, je mit Hinweisen). 
 
Demgegenüber muss der Überholende auf die übrigen Strassenbenützer, namentlich auf jene, die er überholen will, besonders Rücksicht nehmen (Art. 35 Abs. 3 SVG). Sicherheitslinien dürfen von Fahrzeugen weder überfahren noch überquert werden (Art. 73 Abs. 6 lit. a Signalisationsverordnung, SSV; SR 741.21). 
2.2 Nach dem aus Art. 26 Abs. 1 SVG abgeleiteten Vertrauensgrundsatz darf jeder Strassenbenützer darauf vertrauen, dass sich die anderen Verkehrsteilnehmer ordnungsgemäss verhalten. Ein solches Vertrauen ist jedoch nicht gerechtfertigt und muss einem Misstrauen weichen, wenn Anzeichen dafür bestehen, dass sich ein Strassenbenützer nicht richtig verhalten wird oder wenn ein Fehlverhalten eines anderen Verkehrsteilnehmers auf Grund einer unklaren Verkehrssituation oder anderen Gefahrenquelle nach der allgemeinen Erfahrung unmittelbar in die Nähe rückt (BGE 125 IV 83 E. 2b S. 87 f.; 120 IV 252). Das wird von Art. 26 Abs. 2 SVG dahin gehend umschrieben, dass besondere Vorsicht geboten ist gegenüber Kindern, Gebrechlichen und alten Leuten, sowie wenn Anzeichen dafür bestehen, dass sich ein Strassenbenützer nicht richtig verhalten wird. Anzeichen für fehlerhaftes Verhalten eines Strassenbenützers liegen vor, wenn aufgrund seines bisherigen Verhaltens damit gerechnet werden muss, dass er sich in verkehrsgefährdender Weise verkehrsregelwidrig verhalten wird. Ein Fehlverhalten eines anderen Verkehrsteilnehmers kann sich aber auch aus der Unklarheit oder Ungewissheit einer bestimmten Verkehrslage aufdrängen, die nach allgemeiner Erfahrung die Möglichkeit fremden Fehlverhaltens unmittelbar in die Nähe rückt. In solchen Situationen liegen zwar keine konkreten Anzeichen für unrichtiges Verhalten vor, doch ist angesichts ihrer besonderen Gefahrenneigung risikoarmes Verhalten gefordert (BGE 125 IV 83 E. 2b S. 87 f.). 
 
Das Vertrauensprinzip kann auch der Wartepflichtige anrufen, insbesondere der von einer Hausausfahrt rückwärts in eine Hauptstrasse einbiegende Fahrzeuglenker. Erlaubt ihm die Verkehrslage, sich ohne Behinderung eines Vortrittsberechtigten in den Verkehr einzufügen, so ist ihm auch dann keine Vortrittsverletzung vorzuwerfen, wenn dadurch ein Vortrittsberechtigter in seiner Weiterfahrt behindert wird, weil dieser sich in einer nicht vorhersehbaren Weise verkehrsregelwidrig verhält (vgl. nur BGE 125 IV 83 E. 2c S. 88; 120 IV 252 E. 2d/aa). Bei fehlenden gegenteiligen Anzeichen muss der Ein- oder Abbiegende insbesondere nicht damit rechnen, dass ein nachfolgendes Fahrzeug überraschend auftauchen könnte oder dass ein bereits sichtbarer Fahrzeugführer seine Geschwindigkeit plötzlich stark erhöhen werde, um verkehrsregelwidrig links zu überholen (vgl. BGE 125 IV 83 E. 2c zum Linksabbieger). Im Interesse der Verkehrssicherheit wird jedoch nicht leichthin anzunehmen sein, der Wartepflichtige habe nicht mit der Vorbeifahrt eines Vortrittsberechtigten bzw. mit dessen Behinderung rechnen müssen (BGE 120 IV 252 E. 2d/aa). 
3. 
Der Beschwerdeführer fuhr rückwärts auf eine Hauptstrasse hinaus. Die Sichtverhältnisse waren für ihn stark eingeschränkt. Er war gegenüber den auf der Hauptstrasse in beide Richtungen fahrenden Fahrzeugen vortrittsbelastet. Mit seinem Fahrmanöver schuf er eine an und für sich gefährliche Verkehrssituation und war deshalb verpflichtet, die nach den Umständen und den beschränkten Sichtverhältnissen gebotenen Massnahmen zu treffen, um eine Beeinträchtigung oder Gefährdung herannahender Vortrittsberechtigter zu verhindern. 
 
Bevor der Beschwerdeführer auf die Hauptstrasse hinausfuhr, erblickte er auf der Gegenfahrspur in rund 10 m Distanz einen langsam herannahenden Traktor. Die Fahrstrecke hinter dem Traktor konnte er nicht überblicken. Da die Sicherheitslinie talauswärts her betrachtet kurz vor seiner Ausfahrt endete, war objektiv damit zu rechnen, dass ein Fahrzeug beim Ende der Sicherheitslinie unmittelbar zum Überholen des Traktors ansetzen könnte. Der Beschwerdeführer konnte bei dieser Situation sein Fahrmanöver nicht ausführen, ohne die Verkehrsteilnehmer, die möglicherweise verkehrsregelgemäss den Traktor an der erwähnten Stelle überholen wollten, in ihrer Fahrt zu behindern oder gar zu gefährden. Er hätte aufgrund der unklaren Verkehrslage daher warten müssen, bis der Traktor an ihm vorbeigefahren war, bevor er sich rückwärts in die Hauptstrasse einfügte. Indem er gleichwohl losfuhr, hat er die ihm obliegende Sorgfaltspflicht verletzt, und er kann sich daher nicht auf den Vertrauensgrundsatz berufen. Damit ist unerheblich, ob und in welchem Ausmass sich die Unfallbeteiligte einer Verkehrsregelverletzung schuldig gemacht hat. Die vom Beschwerdeführer vorgenommenen Berechnungen (vgl. Beschwerde, S. 4 f.) sind unbehelflich. Der Schuldspruch wegen Missachtung des Vortritts mit Unfallfolge verletzt kein Bundesrecht. 
4. 
Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Höhe der Busse. Er macht geltend, diese sei im Vergleich zur Busse gegen A.________ ohne stichhaltige Begründung auffallend hoch. 
 
Die Vorinstanz legt dar, dass die Busse nach Massgabe der Richtlinien des Verbandes Bernischer Richter und Richterinnen (VBR) erfolgte und insbesondere unter Berücksichtigung des schwer getrübten fahrerischen Leumunds des Beschwerdeführers angemessen sei (angefochtenes Urteil, S. 20). Die Begründung ist ohne weiteres nachvollziehbar. Die Busse erscheint für sich genommen nicht als unhaltbar hart und bewegt sich im Rahmen des der Vorinstanz zustehenden Ermessens. 
 
Aus der Begründung im angefochtenen Urteil zu den Verfahrenskosten geht hervor, dass die Vorinstanz das Verschulden des Beschwerdeführers als deutlich höher als jenes der Unfallbeteiligten einstuft. Auch das ist bundesrechtlich nicht zu beanstanden. Der Beschwerdeführer hat das Vortrittsrecht der Unfallbeteiligten verletzt und dabei die erforderliche Sorgfalt bei einer unklaren Verkehrslage nicht aufgebracht. Sein Verhalten begründete eine erhöhte abstrakte Gefährdung von Motorfahrzeuglenkern, die an der fraglichen Stelle unmittelbar vor seiner Ausfahrt korrekt, d.h. ohne Überschreitung der Sicherheitslinie, zum Überholen auf die Gegenfahrspur hätten ausscheren können. Demgegenüber überfuhr A.________ die Sicherheitslinie an einer für sie übersichtlichen Stelle nur um wenige Meter. Damit erscheint die Busse gegen den Beschwerdeführer auch im Vergleich zu der gegen A.________ ausgesprochenen Strafe nicht als unangemessen. 
5. 
Die Beschwerde ist abzuweisen. Dementsprechend hat der Beschwerdeführer die Kosten des Verfahrens zu tragen (Art. 278 Abs. 1 BStP). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
1. 
Die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
2. 
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt. 
3. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Generalprokurator des Kantons Bern und dem Obergericht des Kantons Bern, 1. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 17. August 2006 
Im Namen des Kassationshofes 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Das präsidierende Mitglied: Der Gerichtsschreiber: