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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 7} 
I 1017/06 
 
Urteil vom 19. Juni 2007 
I. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Ursprung, Präsident, 
Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Schön, 
Gerichtsschreiberin Hofer. 
 
Parteien 
D.________, 1947, Beschwerdeführerin, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. iur. Hardy Landolt, Schweizerhofstrasse 14, 8750 Glarus, 
 
gegen 
 
IV-Stelle Glarus, Zwinglistrasse 6, 8750 Glarus, Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Glarus 
vom 30. Oktober 2006. 
 
Sachverhalt: 
A. 
Die IV-Stelle Glarus wies das Gesuch um Leistungen der Invalidenversicherung der 1947 geborenen D.________ gestützt auf das multidisziplinäre Gutachten der Medizinischen Begutachtungsstelle X.________ vom 25. Januar 2006 mit durch Einspracheentscheid vom 22. August 2006 bestätigter Verfügung vom 13. Februar 2006 ab. 
B. 
D.________ liess gegen den Einspracheentscheid Beschwerde beim Verwaltungsgericht des Kantons Glarus führen. Dieses forderte sie am 25. September 2006 auf, bis zum 25. Oktober 2006 einen Kostenvorschuss von Fr. 600.- zu bezahlen, verbunden mit der Androhung, dass bei Nichtleisten innert Frist auf das Rechtsmittel nicht eingetreten werde. Mit Eingabe vom 24. Oktober 2006 teilte der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin dem Gericht mit, seine Klientin habe ihn gebeten, rückwirkend ab Beschwerdeerhebung ein Gesuch um unentgeltliche Rechtsverbeiständung zu stellen, da es ihr nicht möglich sei, den Kostenvorschuss und die Anwaltskosten zu bezahlen. Das URP-Formular werde nach Erhalt zugestellt. Das Gesuchsformular samt Unterlagen reichte er dem Gericht mit vom 28. Oktober 2006 datiertem, am 30. Oktober 2006 der Post übergebenem Schreiben ein. Das kantonale Gericht trat mit Entscheid vom 30. Oktober 2006 auf die Beschwerde nicht ein, da die Beschwerdeführerin innert der ihr gesetzten Frist mit Bezug auf die amtlichen Kosten weder ein förmliches noch begründetes Gesuch um unentgeltliche Prozessführung eingereicht habe. 
C. 
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt D.________ beantragen, es sei der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben und das kantonale Gericht anzuweisen, die Beschwerde materiell zu behandeln. Für das letztinstanzliche Verfahren sei die unentgeltliche Rechtspflege zu bewilligen. 
Das Verwaltungsgericht des Kantons Glarus beantragt Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
 
1. 
1.1 Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110) ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395). 
1.2 Seit dem Inkrafttreten der "Massnahmen zur Verfahrensstraffung" auf den 1. Juli 2006 (AS 2006 2003, 2006; BBl 2005 3079) ist das kantonale Beschwerdeverfahren bei Leistungsstreitigkeiten der Invalidenversicherung - abweichend von Art. 61 lit. a ATSG - kostenpflichtig (Art. 69 Abs. 1bis IVG [Fassung gemäss Ziff. I des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005]). Bisheriges Recht, das Kostenfreiheit vorsah (vgl. Art. 61 lit. a ATSG), ist nach den Schlussbestimmungen zur Änderung vom 16. Dezember 2005 nur auf die im Zeitpunkt des Inkrafttretens am 1. Juli 2006 bereits (hier beim kantonalen Gericht) hängigen Beschwerden anwendbar (lit. c). Der kantonale Prozess wurde erst im September 2006 eingeleitet. Er unterliegt daher der Kostenpflicht. Die Kosten werden nach dem Verfahrensaufwand und unabhängig vom Streitwert im Rahmen von 200 bis 1000 Franken festgelegt. 
1.3 Die Vorinstanz hat gestützt auf Art. 133 Abs. 1 des kantonalen Gesetzes über die Verwaltungsrechtspflege vom 4. Mai 1986 (VRG), wonach die kantonalen Behörden von der Partei, die ein Beschwerde-, Klage- oder Revisionsverfahren einleitet, einen angemessenen Vorschuss für die ihr möglicherweise aufzuerlegenden amtlichen Kosten erheben, einen Kostenvorschuss von Fr. 600.- einverlangt. Abs. 3 dieser Bestimmung lautet: "Leistet die Partei den Kostenvorschuss trotz Androhung der Folgen nicht binnen der eingeräumten Frist, wird auf ihr Begehren nicht eingetreten; die Frist zur Leistung des Kostenvorschusses ist nicht erstreckbar. Soll der Kostenvorschuss nur für die Vornahme eines bestimmten Verfahrensschrittes geleistet werden, hat die Nichtbezahlung dessen Unterlassung zur Folge." 
1.4 Der Anspruch auf unentgeltliche Prozessführung wird durch das kantonale Prozessrecht geregelt. Unabhängig davon greifen die direkt auf Art. 29 Abs. 3 BV gestützten Rechtsprechungsgrundsätze ein, die ein Mindestmass an Rechtsschutz gewährleisten. Im Kanton Glarus ergibt sich der Anspruch auf Befreiung von den amtlichen Kosten aus Art. 139 Abs. 1 VRG. Danach befreit die Behörde eine Partei, der die Mittel fehlen, um neben dem Lebensunterhalt für sich und ihre Familie die Verfahrenskosten aufzubringen, auf Gesuch hin ganz oder teilweise von der Kosten- und Vorschusspflicht, sofern das Verfahren nicht aussichtslos ist. Nach Art. 139 Abs. 3 VRG obliegt der Nachweis der Bedürftigkeit der Partei, die ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege stellt. Nach Art. 139 Abs. 4 VRG wird über das Gesuch im Rahmen des Endentscheids befunden, wenn kein Zwischenentscheid verlangt wird. Hinsichtlich des unentgeltlichen Rechtsbeistandes gilt Art. 61 lit. f ATSG
2. 
2.1 Über das Gesuch der Beschwerdeführerin um unentgeltliche Rechtspflege hat die Vorinstanz nicht formell entschieden. Sie ist vielmehr auf die Beschwerde in der Hauptsache nicht eingetreten, da innert Frist zur Bezahlung des Kostenvorschusses weder ein förmliches noch ein begründetes Gesuch um unentgeltliche Prozessführung eingereicht, noch der Kostenvorschuss bezahlt worden sei. Damit sind ihrer Ansicht nach die angedrohten Säumnisfolgen eingetreten. Dazu hat sie erwogen, da die Frist zur Leistung des Kostenvorschusses gemäss Art. 133 Abs. 3 VRG nicht erstreckbar sei, müsse die Beschwerde führende Partei innerhalb der gerichtlich angesetzten Frist entweder den verlangten Kostenvorschuss einbezahlen oder ein begründetes Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege mit Bezug auf die amtlichen Verfahrenskosten einreichen. Der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin habe am zweitletzten Tag der angeordneten Frist lediglich mitgeteilt, seine Mandantin habe ihn gebeten, rückwirkend ab Beschwerdeerhebung ein Gesuch um unentgeltliche Rechtsverbeiständung zu stellen. 
2.2 Soweit die Beschwerdeführerin eine Verletzung von Bundesrecht rügt, weil das kantonale Verfahren von Bundesrechts wegen nicht kostenpflichtig und Art. 133 VRG somit nicht anwendbar sei, kann ihr nach dem in Erwägung 1.2 hievor Gesagten nicht beigepflichtet werden. 
2.3 Weiter bringt die Beschwerdeführerin vor, Art. 138 Abs. 1 VRG mache die Befreiung von der Kosten- und Vorschusspflicht nur von der Gesuchstellung, nicht aber von der Einreichung der Gesuchsunterlagen abhängig. Zudem sei die Auslegung von Art. 133 VRG durch die Vorinstanz verfassungswidrig, indem durch die von ihr gehandhabte Formstrenge die Ausübung des Grundrechts auf unentgeltliche Rechtspflege verweigert oder zumindest unverhältnismässig eingeschränkt werde. Vor Ablauf der Kostenvorschusspflicht habe sie ein Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege gestellt und vor Erlass des angefochtenen Entscheids die Gesuchsunterlagen eingereicht. 
2.4 Fest steht, dass der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin dem kantonalen Gericht vor Ablauf der Frist zur Leistung des Kostenvorschusses mitgeteilt hat, er sei mit der Einreichung eines Gesuchs um unentgeltliche Rechtsverbeiständung beauftragt. Als Grund gab er an, seine Mandantin könne den Kostenvorschuss und die Anwaltskosten nicht bezahlen. Das Schreiben vom 24. Oktober 2006 beinhaltet somit - zumindest sinngemäss - auch ein Gesuch um Befreiung von den Gerichtskosten. Das in diesem Schreiben in Aussicht gestellte URP-Formular samt Unterlagen zur Begründung der Bedürftigkeit wurde mit vom 28. Oktober 2006 datiertem und am 30. Oktober 2006 der Post übergebenem Schreiben nachgereicht und ging gemäss Eingangsstempel am 31. Oktober 2006 beim kantonalen Gericht ein. Der angefochtene Entscheid datiert vom 30. Oktober 2006. 
2.5 Die Beschwerdeführerin hat somit innert der ihr angesetzten Frist ein Gesuch um unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung eingereicht. Dass es ihr dabei nicht um eine Verlängerung der Frist zur Zahlung des Kostenvorschusses an sich ging, was rechtsmissbräuchlich wäre, hat sie dadurch untermauert, dass sie umgehend auch die erforderlichen Unterlagen nachgereicht hat. Sie durfte bei diesen Gegebenheiten davon ausgehen, dass ihr Gesuch behandelt und eine allfällige Abweisung des Gesuchs nicht unmittelbar Rechtsnachteile in der Hauptsache nach sich ziehen würde. Indem die Vorinstanz auf die Beschwerde nicht eintrat, ohne der Beschwerdeführerin zuvor eine neue Frist für die Leistung des Kostenvorschusses angesetzt zu haben, hat sie eine formelle Rechtsverweigerung begangen. 
Ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde somit aus diesem Grund gutzuheissen, braucht nicht geprüft zu werden, ob Art. 133 Abs. 3 VRG in der seit 7. Mai 2006 geltenden Fassung bundesrechtskonform ist. 
3. 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 156 Abs. 1 und 2 OG; zudem lösen Verwaltungsgerichtsbeschwerden wegen Verweigerung der unentgeltlichen Rechtspflege praxisgemäss keine Kostenpflicht aus [SVR 1994 IV Nr. 29 S. 75 E. 4; Urteil I 916/06 vom 18. Januar 2007]); das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren wird damit gegenstandslos. Der obsiegenden Beschwerdeführerin steht für das Verfahren vor Bundesgericht eine Parteientschädigung zu (Art. 159 Abs. 1 OG in Verbindung mit Art. 135 OG). Diese geht zu Lasten des Kantons Glarus, da der Gegenpartei des Hauptprozesses im Verfahren um die Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege keine Parteistellung zukommt (SVR 1996 UV Nr. 40 S. 123). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Glarus vom 30. Oktober 2006 aufgehoben. Die Sache wird an die Vorinstanz zurückgewiesen, damit sie im Sinne der Erwägungen verfahre. 
2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
3. 
Der Kanton Glarus hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem Bundesgericht eine Parteientschädigung von Fr. 1800.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen. 
4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Glarus, der Kantonalen Ausgleichskasse Glarus und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt. 
Luzern, 19. Juni 2007 
 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: