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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
9C_128/2018  
 
 
Urteil vom 17. Juli 2018  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichterin Glanzmann, nebenamtlicher Bundesrichter Weber, 
Gerichtsschreiberin Keel Baumann. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Christos Antoniadis, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 30. November 2017 (IV.2017.00679). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. A.________, geboren 1959, meldete sich im September 2006 zum Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung an. Mit Mitteilung vom 8. Januar 2007 erteilte die IV-Stelle des Kantons Zürich Kostengutsprache für Schuhzurichtungen an Konfektions- oder orthopädischen Spezialschuhen nach ärztlicher Verordnung vom 4. September 2006 bis 30. September 2008.  
 
A.b. Im März 2011 erfolgte eine erneute Anmeldung zum Leistungsbezug. Die IV-Stelle prüfte die Verhältnisse, wozu sie die Versicherte unter anderem durch ihren Regionalen Ärztlichen Dienst (RAD) untersuchen liess. Am 20. März 2012 erhob RAD-Ärztin med. pract. B.________, Fachärztin für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie, als Diagnose mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit eine schmerzhafte Bewegungs- und Belastungseinschränkung der Lendenwirbelsäule (LWS) bei Polyarthrose mit Radiocarpalarthrose links mehr als rechts, Rizarthrose links mehr als rechts, Omarthrose beidseits sowie ausgeprägter Arthrose beider Sprunggelenke. Des Weitern hielt RAD-Arzt med. pract. C.________, Facharzt Psychiatrie und Psychotherapie, am 17. April 2013 als Diagnose mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit eine Anpassungsstörung mit Angst und depressiver Auslenkung sowie ohne Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit eine Somatisierungsstörung fest. Mit Verfügung vom 26. November 2013 lehnte die Verwaltung den Anspruch auf eine Invalidenrente ab. Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 11. Juni 2015 gut. Es wies die Sache an die Verwaltung zurück, damit diese zusätzliche Abklärungen zur funktionellen Leistungsfähigkeit bzw. zu den Auswirkungen der somatischen Einschränkungen auf die Arbeitsfähigkeit vornehme, auch den psychischen Gesundheitszustand von A.________ ergänzend abkläre und anschliessend über den Leistungsanspruch neu verfüge.  
 
A.c. Die IV-Stelle veranlasste beim Zentrum D.________ eine bidisziplinäre (rheumatologisch/psychiatrisch) Begutachtung mit einer Evaluation der funktionellen Leistungsfähigkeit (EFL). Das psychiatrische Gutachten wurde am 12. April 2016 und das rheumatologische Gutachten zusammen mit der interdisziplinären Beurteilung am 29. April 2016 vorgelegt. Nach Einholung einer zusätzlichen Stellungnahme beim Zentrum D.________ (erstattet am 7. Juli 2016) stellte die Verwaltung mit Vorbescheid vom 23. November 2016 die Verneinung des Rentenanspruchs in Aussicht. Dagegen erhob A.________ am 6. Dezember 2016 Einwand (ergänzt am 30. Januar 2017). Am 15. Mai 2017 verfügte die IV-Stelle wie vorbeschieden.  
 
B.   
Beschwerdeweise liess A.________ die Rechtsbegehren stellen, es sei die Verfügung vom 15. Mai 2017 aufzuheben und ihr ab März 2012 eine halbe Rente auszurichten. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wies die Beschwerde mit Entscheid vom 30. November 2017 ab. 
 
C.   
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, der kantonale Entscheid sei aufzuheben und ihr eine halbe Rente zuzusprechen. Eventualiter sei die Angelegenheit zwecks Vornahme weiterer Abklärungen an die Vorinstanz und subeventualiter an die IV-Stelle zurückzuweisen. 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
 
1.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).  
 
1.2. Die Rüge des fehlerhaft festgestellten Sachverhalts bedarf einer qualifizierten Begründung (BGE 137 II 353 E. 5.1 S. 356). Es reicht nicht aus, in allgemeiner Form Kritik daran zu üben oder einen von den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz abweichenden Sachverhalt zu behaupten oder die eigene Beweiswürdigung zu erläutern. Die Rüge und ihre qualifizierte Begründung müssen in der Beschwerdeschrift selber enthalten sein. Der blosse Verweis auf Ausführungen in anderen Rechtsschriften oder auf die Akten genügt nicht (Urteil 9C_779/2010 vom 30. September 2011 E. 1.1.2 mit Hinweisen, nicht publ. in: BGE 137 V 446, aber in: SVR 2012 BVG Nr. 11 S. 44). Auf ungenügend begründete Rügen oder bloss allgemein gehaltene appellatorische Kritik am angefochtenen Entscheid geht das Bundesgericht nicht ein (BGE 134 II 244 E. 2.2 S. 246).  
 
2.   
 
2.1. Die Gutachter des Zentrums D.________ stellten fest, die Versicherte habe sich bei der EFL nicht konsistent verhalten und sich selbst limitiert, weshalb die Evaluation keine objektiv-funktionellen Resultate ergeben habe. Aus diesem Grund sei die Arbeitsfähigkeit abschliessend medizinisch-theoretisch zu beurteilen. In einer sehr leichten, wechselbelastenden Tätigkeit (Sitzen während der Hälfte bis zwei Drittel der Arbeitszeit) ohne hochrepetitive Hand- und Fingerbelastungen sei die Beschwerdeführerin für die Dauer/Präsenz von fünf Stunden pro Tag arbeitsfähig. Die Vorinstanz erachtete diese zeitliche Einschränkung als nicht nachvollziehbar. Demgegenüber hält die Beschwerdeführerin diese gutachterliche Beurteilung für massgebend; sie leitet daraus den Anspruch auf eine halbe Invalidenrente ab.  
 
2.2. Die Arbeitsunfähigkeit stellt einen unbestimmten Rechtsbegriff des formellen Gesetzes (Art. 6 ATSG) dar. Die medizinische Beurteilung stellt keinen abschliessenden Entscheid über die Folgen der erhobenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen dar. Vielmehr ist sie durch die rechtsanwendenden Behörden im Rahmen der rechtlichen Vorgaben zu würdigen (BGE 140 V 193 E. 3.1 und 3.2 S. 194 ff.). Weil die gesetzliche Definition der Arbeitsfähigkeit somit keine rein medizinische ist, können sich Konstellationen ergeben, bei welchen von der im medizinischen Gutachten festgestellten Arbeitsunfähigkeit abzuweichen ist, ohne dass dieses seinen Beweiswert verliert (SVR 2013 IV Nr. 9 S. 21, 8C_842/2011 E. 4.2.2; vgl. auch BGE 130 V 352 E. 3 S. 356 sowie Urteil 9C_651/2014 vom 23. Dezember 2014 E. 5.1).  
 
2.3. Die Beschwerdeführerin trifft eine Mitwirkungspflicht bei den ärztlichen und fachlichen Untersuchungen (Art. 43 Abs. 2 ATSG). Indem die Beschwerdeführerin bei der EFL keine zuverlässige Leistungsbereitschaft zeigte, sich selbst limitierte und sich zum Teil nicht einmal entsprechend einer Minimalperformance belasten liess, hat sie letztlich die Abklärung ihrer Leistungsfähigkeit mittels EFL verunmöglicht. Im Rahmen der psychiatrischen Begutachtung wurden keine Gründe festgestellt, welche die Selbstlimitierung und die unzuverlässige Leistungsbereitschaft erklären würden. Vielmehr gab der psychiatrische Gutachter Dr. med. E.________, Psychiatrie und Psychotherapie FMH, an, aus psychiatrischer Sicht bestehe keine Arbeitsunfähigkeit. Er stellte insbesondere fest, dass das fehlende Bearbeitungstempo, die fehlende Konzentrations- und Sorgfaltsleistung bei gleichzeitig objektiv unauffälligen psychiatrischen Befunden in sehr grossem Widerspruch zu den objektiven Untersuchungsbefunden und dem geschilderten Aktivitätsniveau einschliesslich Fahrtauglichkeit ständen und damit nicht auf eine psychiatrische Krankheit nach ICD-10 zurückzuführen seien. Nach seiner Einschätzung gibt es demnach keine medizinisch erklärbaren Gründe für die fehlende Leistungsbereitschaft und die Inkonsistenzen bei der EFL. Daraus muss geschlossen werden, dass die Beschwerdeführerin sich willentlich selber limitierte, dadurch eine aussagekräftige EFL verhinderte und damit die ihr obliegende Mitwirkungspflicht verletzte.  
 
2.4. Die Beschwerdeführerin beruft sich für die Massgeblichkeit der medizinisch-theoretischen Festlegung der Arbeitsfähigkeit auf das Urteil 9C_840/2009 vom 2. Dezember 2009 E. 5.1. Aus diesem Entscheid lässt sich jedoch nicht ableiten, dass die Festlegung der medizinisch-theoretischen Arbeitsfähigkeit durch die Gutachter für das Gericht in jedem Fall bindend und keiner Überprüfung zugänglich ist. Es wurde dort lediglich festgehalten, dass ein auf die medizinisch-theoretische Beurteilung abstellender Entscheid nicht bundesrechtswidrig ist. Bei der medizinisch-theoretischen Festlegung der Arbeitsfähigkeit durch die Ärzte des Zentrums D.________ handelt es sich um eine gutachterliche Schätzung, welche erforderlich war, weil die Beschwerdeführerin eine genaue Ermittlung der Arbeitsfähigkeit durch ihr Verhalten verunmöglicht hatte. Es ist nicht einzusehen, weshalb gerade bei einer solchen Konstellation die gutachterlich angenommene Arbeitsfähigkeit verbindlich und keiner richterlichen Überprüfung zugänglich sein soll.  
 
2.5. Die Gutachter des Zentrums D.________ begründen (insbesondere in der somatischen Beurteilung) nicht nachvollziehbar, weshalb der Versicherten eine adaptierte Tätigkeit nur während fünf Stunden täglich zumutbar sein soll. Einer Schmerzkumulation bei ununterbrochener Belastung der Strukturen muss bei einer angepassten Tätigkeit - anders als bei der angestammten - gerade nicht entgegengewirkt werden, denn es handelt sich bei dieser um eine sehr leichte, wechselbelastende Tätigkeit, wo hochrepetitive Hand- und Fingerbelastungen nicht vorkommen dürfen. Die somatische Gutachterin Dr. med. F.________, FMH Physikalische Medizin und Rehabilitation, begründete auch in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 7. Juli 2016 die zeitliche Einschränkung bei einer adaptierten Tätigkeit nicht. Da die Gutachter des Zentrums D.________ selbst bei der Festlegung der Arbeitsfähigkeit in einer leichten Tätigkeit nicht aufführten, dass einer Schmerzkumulation entgegengewirkt werden müsse, bestand für die Vorinstanz, entgegen den Vorbringen der Beschwerdeführerin, auch keine Veranlassung zu entsprechenden Rückfragen.  
 
2.6. Nachdem für die zeitliche Einschränkung bei einer körperlich angepassten Tätigkeit keine nachvollziehbare Erklärung im Rahmen der Festlegung der medizinisch-theoretischen Arbeitsfähigkeit vorliegt, war die Vorinstanz nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, diesbezüglich eine entsprechende eigene Beurteilung im Rahmen ihrer Beweiswürdigung vorzunehmen. Sie setzte sich dabei nachvollziehbar mit dem von der Beschwerdeführerin anlässlich der Begutachtung geschilderten Aktivitätsniveau auseinander und schloss daraus auf eine Arbeitsfähigkeit von 80 % in einer ihren Einschränkungen angepassten Tätigkeit. Eine solche Beweiswürdigung kann, anders als die Beschwerdeführerin dafürhält, nicht als willkürlich qualifiziert werden. Zudem verwies auch der psychiatrische Gutachter des Zentrums D.________, Dr. med. E.________, auf das Aktivitätsniveau (einschliesslich Fahrtauglichkeit), als er sich mit dem fehlenden Bearbeitungstempo und der fehlenden Konzentrations- und Sorgfaltsleistung der Beschwerdeführerin auseinandersetzte (psychiatrisches Gutachten vom 12. April 2016). Schon aus diesem Grund kann das Heranziehen des Aktivitätsniveaus nicht als sachfremdes Kriterium für die Ermittlung der Dauer, während welcher der Versicherten eine Tätigkeit zumutbar ist, betrachtet werden. Darüber hinaus ist festzustellen, dass die RAD-Ärztin med. pract. B.________ in ihrer Stellungnahme vom 14. November 2016 auf eine volle Arbeitsfähigkeit in einer angepassten Tätigkeit schloss und dies auch mit den Feststellungen, die sie bei der Untersuchung vom 20. März 2012 gemacht hatte, belegte. Die entsprechenden Untersuchungsergebnisse hat auch die somatische Gutachterin des Zentrums D.________, Dr. med. F.________, nicht in Frage gestellt. Sie kritisierte lediglich, der RAD habe keine ausführliche Arbeitsanamnese erhoben. Demgegenüber hielt Dr. med. F.________ sogar eine bessere Wirbelsäulenbeweglichkeit, keinen positiven Lasègue (also keine radikuläre Problematik mehr) und eine deutlich bessere Schulterbeweglichkeit beidseits gegenüber dem Zeitpunkt der RAD-Beurteilung fest (ergänzende Stellungnahme vom 7. Juli 2016). Für die Ermittlung der Arbeitsfähigkeit in einer den Einschränkungen angepassten Tätigkeit ist jedoch die Arbeitsanamnese, die sich primär auf die angestammte Tätigkeit bezieht, nicht weiter relevant. Auch wenn die Erkenntnisse der RAD-Ärztin med. pract. B.________ beigezogen werden, wonach die Arbeitsfähigkeit in einer angepassten Tätigkeit 100 % und nicht bloss 80 % beträgt, ist die Festlegung des zeitlichen Ausmasses einer solchen Tätigkeit im angefochtenen Entscheid als willkürfrei zu betrachten.  
 
3.   
Zusammenfassend ergibt sich, dass die vorinstanzliche Festlegung der Arbeitsfähigkeit in einer leidensangepassten Tätigkeit weder offensichtlich unrichtig ist noch auf einer Rechtsverletzung beruht. Die Beschwerdeführerin stellt die beiden Vergleichseinkommen im Übrigen (d.h. abgesehen vom Arbeitspensum in einer adaptierten Tätigkeit, welches das Invalideneinkommen betrifft) nicht in Frage. Ein rentenbegründender Invaliditätsgrad ist damit zu verneinen. Dies führt zur Abweisung der Beschwerde. 
 
4.   
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 17. Juli 2018 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Die Gerichtsschreiberin: Keel Baumann