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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
7B_190/2022  
 
Endverfügung vom 23. Oktober 2023 
 
II. strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Hurni, als Einzelrichter 
Gerichtsschreiberin Lustenberger 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Fürsprecher Philipp Kunz, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Amt für Justizvollzug des Kantons Solothurn Abteilung Straf- und Massnahmenvollzug, Ambassadorenhof, Riedholzplatz 3, 4509 Solothurn, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Entschädigung (Verlängerung der stationären Massnahme; ungerechtfertigte Haft); Rückzug der Beschwerde, 
 
Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Solothurn, Beschwerdekammer, vom 16. August 2022 (BKBES.2022.87). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Das Amtsgericht Olten-Gösgen ordnete gegenüber A.________ mit Urteil vom 18. November 2020 eine stationäre suchttherapeutische Massnahme i.S.v. Art. 60 StGB an. Die gleichzeitig ausgesprochene Freiheitsstrafe von vier Jahren schob es zugunsten der Massnahme auf. 
Am 8. Februar 2022 beantragte das Amt für Justizvollzug des Kantons Solothurn die Verlängerung der stationären Massnahme um ein Jahr. 
A.________ entzog sich am 25. April 2022 durch Nichtrückkehr aus einem Beziehungsurlaub dem Massnahmenvollzug. Am 10. Mai 2022 konnte er angehalten und in das Untersuchungsgefängnis U.________ verlegt werden, wo er bis zu seiner Entlassung am 17. August 2022 verweilte. 
Am 13. Juni 2022 hiess das Amtsgericht Olten-Gösgen die vom Amt für Justizvollzug beantragte Verlängerung der Massnahme um ein Jahr ab dem 24. Juni 2022 gut und ordnete bis zum Eintritt der Rechtskraft ihres Entscheids ab dem 24. Juni 2022 Sicherheitshaft an. 
 
B.  
Gegen diesen Entscheid erhob A.________ Beschwerde beim Obergericht des Kantons Solothurn. Dieses hiess die Beschwerde mit Urteil vom 16. August 2022 gut, hob den nachträglichen Entscheid vom 13. Juni 2022 auf und wies die Verlängerung ab. Der Beschwerdeführer wurde unverzüglich aus der Sicherheitshaft entlassen. Sämtliche durch die Verfahren entstandenen Verfahrens- und Prozesskosten gingen zu Lasten des Staates. 
 
C.  
 
C.a. Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt A.________ dem Bundesgericht, der Beschwerdeentscheid sei insoweit aufzuheben, als ihm keine Entschädigung für die ausgestandene und ungerechtfertigte Sicherheitshaft zugesprochen wurde. Der Kanton Solothurn sei zu verpflichten, ihm die im Zeitraum vom 24. Juni 2022 bis 17. August 2022 ausgestandene und ungerechtfertigte Sicherheitshaft von insgesamt 55 Tagen zu je Fr. 200.-- pro Tag, insgesamt ausmachend Fr. 11'000.-- zzgl. 5% Zins seit dem 16. August 2022, zu entschädigen. Eventualiter sei die Sache zur neuen Beurteilung betreffend Entschädigung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Weiter sei ihm für das bundesgerichtliche Verfahren die unentgeltliche Rechtspflege zu erteilen.  
 
C.b. Mit Verfügung vom 24. Juli 2023 wurden die Vorinstanz und das Amt für Justizvollzug des Kantons Solothurn zur Vernehmlassung eingeladen.  
Das Amt für Justizvollzug des Kantons Solothurn hat mit Eingabe vom 10. August 2023 auf eine eigentliche Vernehmlassung verzichtet. 
Die Vorinstanz beantragte am 18. August 2023 eine Erstreckung der Vernehmlassungsfrist bis am 18. September 2023. Diese wurde mit Verfügung vom 24. August 2023 gewährt. 
 
C.c. Mit nachträglichem Beschluss vom 12. September 2023 sprach die Vorinstanz A.________ für die im Zeitraum vom 24. Juni 2022 bis 17. August 2022 ausgestandene Sicherheitshaft von 55 Tagen eine Entschädigung von Fr. 5'500.-- zzgl. Zins seit dem 17. August 2022 zu. Weiter setzte es die Entschädigung des amtlichen Verteidigers auf pauschal Fr. 900.-- fest.  
 
C.d. Gleichentags beantragte die Vorinstanz unter Hinweis auf den nachträglichen Beschluss, die Beschwerde sei ohne Kostenfolge als gegenstandslos abzuschreiben.  
A.________ verzichtete mit Eingabe vom 10. Oktober 2023 auf weitere Bemerkungen. 
 
 
Der Einzelrichter zieht in Erwägung:  
 
1.  
Mit der Eröffnung des nachträglichen Beschlusses der Vorinstanz vom 12. September 2023, mit welchem dem Begehren des Beschwerdeführers um Ausrichtung einer Entschädigung für die umstrittene Sicherheitshaft entsprochen wird, ist die Beschwerde gegenstandslos geworden. Das Verfahren ist folglich in Anwendung von Art. 32 Abs. 2 BGG durch den Instruktionsrichter als Einzelrichter als erledigt abzuschreiben. 
 
2.  
Über die Verfahrenskosten entscheidet der Einzelrichter anhand einer summarischen Beurteilung aufgrund der Sachlage vor Eintritt des Erledigungsgrunds (Art. 71 BGG i.V.m. Art. 72 des Bundesgesetzes vom 4. Dezember 1947 über den Bundeszivilprozess [BZP; SR 273]). Es ist auf den mutmasslichen Ausgang des Prozesses abzustellen (BGE 125 V 373 E. 2a; Urteil 7B_146/2022 vom 25. August 2023 E. 2.2 mit Hinweisen). 
 
3.  
Der Beschwerdeführer rügt in seiner Beschwerde, die Vorinstanz habe Art. 429 und Art. 431 StPO verletzt, indem sie ihn nicht von Amtes wegen für die erlittene Überhaft entschädigt habe. Denn die nach Erreichen der Höchstdauer der Massnahme angeordnete Sicherheitshaft i.S.v. Art. 364a StPO habe sich nachträglich, d.h. mit dem Beschluss der Vorinstanz vom 16. August 2022, als ungerechtfertigt erwiesen. Da er sich weit über die ursprünglich ausgesprochene Freiheitsstrafe in Freiheitsentzug befunden habe, lasse sich diese Zeit auch nicht mit anderweitigen Sanktionen verrechnen. Er habe sich daher insgesamt 55 Tage in ungerechtfertigter Sicherheitshaft befunden, woraus ihm ein Genugtuungsanspruch in der Höhe von Fr. 200.-- pro Tag erwachse. Die Vorinstanz wäre von Amtes wegen gehalten gewesen, diesen Anspruch zu prüfen und ihm die Entschädigung zuzusprechen. 
 
3.1.  
 
3.1.1. Wird die beschuldigte Person ganz oder teilweise freigesprochen oder wird das Verfahren gegen sie eingestellt, so hat sie nach Art. 429 Abs. 1 lit. c StPO insbesondere Anspruch auf Genugtuung für besonders schwere Verletzungen ihrer persönlichen Verhältnisse, insbesondere bei Freiheitsentzug.  
Auch wenn die Bestimmung nach ihrem Wortlaut primär auf den Fall der Einstellung bzw. des Freispruchs der beschuldigten Person zugeschnitten ist, gilt sie auch für andere Personen mit beschuldigtenähnlicher Stellung in besonderen Verfahrensarten. Es sind dies insbesondere etwa Personen, gegen die sich - wie vorliegend gegen den Beschwerdeführer - ein Verfahren bezüglich eines nachträglichen richterlichen Entscheids (Art. 363 f. StPO) richtet (Schmid/Jositsch, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 4. Aufl. 2023, N. 3 zu Art. 429 StPO). 
 
3.1.2. Gemäss Art. 429 Abs. 2 Satz 1 StPO muss die Strafbehörde den Entschädigungsanspruch von Amtes wegen prüfen. Daraus folgt, dass sie die betroffene Partei zu der Frage mindestens anzuhören und gegebenenfalls gemäss Art. 429 Abs. 2 Satz 2 StPO aufzufordern hat, ihre Ansprüche zu beziffern und zu belegen (BGE 144 IV 207 E. 1.3.1 mit Hinweisen).  
 
3.1.3. Sind gegenüber der beschuldigten Person rechtswidrig Zwangsmassnahmen angewandt worden, so spricht ihr die Strafbehörde eine angemessene Entschädigung und Genugtuung zu (Art. 431 Abs. 1 StPO); im Fall von Untersuchungs- und Sicherheitshaft besteht der Anspruch, wenn die zulässige Haftdauer überschritten ist und der übermässige Freiheitsentzug nicht an die wegen anderen Straftaten ausgesprochenen Sanktionen angerechnet werden kann (Art. 431 Abs. 2 StPO). Art. 431 StPO gewährleistet mithin den Anspruch auf Entschädigung und Genugtuung bei rechtswidrigen Zwangsmassnahmen (Abs. 1) oder bei Überhaft (Abs. 2). Sogenannte Überhaft liegt vor, wenn die Untersuchungs- und/oder Sicherheitshaft unter Einhaltung der formellen und materiellen Voraussetzungen rechtmässig angeordnet wurde, diese Haft den im Entscheid ausgesprochenen Freiheitsentzug aber überschreitet, also länger dauert als die tatsächlich ausgefällte Sanktion. Bei Überhaft nach Art. 431 Abs. 2 StPO ist also nicht die Haft per se, sondern nur die Haftlänge ungerechtfertigt. Sie wird erst im Nachhinein, das heisst nach Fällung des Urteils, übermässig (BGE 141 IV 236 E. 3.2; Urteil 6B_1420/2022 vom 10. März 2023 E. 2.3.1; je mit Hinweisen).  
 
3.2. Die Rüge des Beschwerdeführers wäre nach summarischer Prüfung begründet, was sich auch am nachträglichen Beschluss der Vorinstanz vom 12. September 2023 zeigt. Nach den genannten Grundsätzen hätte die Vorinstanz nach Art. 429 Abs. 2 StPO einen Entschädigungsanspruch des Beschwerdeführers von Amtes wegen prüfen und ihn hierzu mindestens anhören müssen. Dies hat sie indessen nicht getan, obwohl sie mit ihrem Beschwerdeentscheid den Nachentscheid vom 13. Juni 2022 des Amtsgerichts Olten-Gösgen aufhob und die auf den 23. Juni 2022 begrenzte Massnahme nicht verlängerte. Wie sie in ihrem nachträglichen Beschluss selber ausführt, wurde der materiellrechtliche Vollzugstitel (Art. 60 Abs. 4 StGB) mit der Aufhebung des erstinanzlichen Entscheids aufgehoben; gleichzeitig entfiel auch der zur Sicherung des Massnahmevollzugs während des Rechtsmittelverfahrens erstinstanzlich angeordnete strafprozessuale Hafttitel (Art. 364a StPO). Die Sicherheitshaft ab dem 24. Juni 2022 (rechnerisches Strafende der ursprünglichen Massnahme ist am 23. Juni 2022) bis zum 17. August 2022 (Tag der Entlassung) erweist sich somit nachträglich als ungerechtfertigt und ist entsprechend zu entschädigen.  
 
4.  
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und Abs. 4 BGG). Der Kanton Solothurn ist zu verpflichten, dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers eine angemessene Entschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 1 BGG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird damit gegenstandslos. 
 
 
Demnach verfügt der Einzelrichter:  
 
1.  
Das Verfahren wird infolge Rückzugs der Beschwerde abgeschrieben. 
 
2.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.  
Der Kanton Solothurn hat Fürsprecher Philipp Kunz für das bundesgerichtliche Verfahren eine Entschädigung von Fr. 3'000.-- zu bezahlen. 
 
4.  
Diese Verfügung wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Solothurn, Beschwerdekammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 23. Oktober 2023 
 
Im Namen der II. strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Einzelrichter: Hurni 
 
Die Gerichtsschreiberin: Lustenberger