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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_395/2022  
 
 
Urteil vom 4. November 2022  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichter Stadelmann, 
Bundesrichterin Moser-Szeless, 
Gerichtsschreiberin Dormann. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Markus Zimmermann, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau, 
Beschwerdegegnerin, 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 16. Juni 2022 (VBE.2021.365). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die IV-Stelle des Kantons Aargau sprach der 1971 geborenen A.________ mit Verfügung vom 9. November 2012 eine ganze Invalidenrente vom 1. März bis zum 31. Juli 2010 zu. Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau bestätigte diese Verfügung mit Urteil vom 7. Mai 2013. Im August 2017 meldete sich A.________ erneut zum Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung an. Nach Abklärungen und Durchführung des Vorbescheidverfahrens, in dessen Verlauf insbesondere das psychiatrisch-orthopädische Gutachten der medexperts ag (nachfolgend: medexperts) vom 15. April 2021 eingeholt wurde, verneinte die IV-Stelle mit Verfügung vom 22. Juni 2021 einen Rentenanspruch (Invaliditätsgrad von 36 %). 
 
B.  
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Urteil vom 16. Juni 2022 ab. 
 
C.  
A.________ lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragen, unter Aufhebung des Urteils vom 16. Juni 2022 sei ihr eine Viertelsrente der Invalidenversicherung zuzusprechen; eventualiter sei die Sache zur ordnungsgemässen Abklärung des rechtserheblichen Sachverhalts an das kantonale Gericht zurückzuweisen. 
 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.  
Der Rentenanspruch ist abgestuft: Bei einem Invaliditätsgrad von mindestens 40 % resp. 50 %, 60 % oder 70 % besteht Anspruch auf eine Viertelsrente resp. halbe Rente, Dreiviertelsrente oder ganze Rente (Art. 28 Abs. 2 IVG in der bis zum 31. Dezember 2021 geltenden und hier anwendbaren Fassung; vgl. BGE 144 V 210 E. 4.3.1).  
 
Für die Bestimmung des Invaliditätsgrades von erwerbstätigen Versicherten wird das Erwerbseinkommen, das die versicherte Person nach Eintritt der Invalidität und nach Durchführung der medizinischen Behandlung und allfälliger Eingliederungsmassnahmen durch eine ihr zumutbare Tätigkeit bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage erzielen könnte, in Beziehung gesetzt zum Erwerbseinkommen, das sie erzielen könnte, wenn sie nicht invalid geworden wäre (Art. 16 ATSG i.V.m. Art. 28a Abs. 1 Satz 1 IVG). 
 
3.  
Das kantonale Gericht hat gestützt auf das Gutachten der medexperts vom 15. April 2021 festgestellt, dass die Beschwerdeführerin in angepasster Tätigkeit zu 60 % arbeitsfähig sei. Es hat den 1. Februar 2018 als frühest möglichen Rentenbeginn betrachtet und bezogen auf diesen Zeitpunkt den Invaliditätsgrad bemessen. Das Valideneinkommen hat es auf Fr. 51'341.- (Tätigkeit als Näherin/Schneiderin) resp. auf maximal Fr. 53'381.- (entsprechend einem Vollzeitpensum als Verkäuferin bei einer Tankstelle) festgelegt. Für das Invalideneinkommen hat es einen Tabellenlohn der Lohnstrukturerhebung des Bundesamtes für Statistik (LSE) herangezogen (LSE 2018, Tabelle TA1, Kompetenzniveau 1, Total Frauen). Unter Berücksichtigung der betriebsüblichen Wochenarbeitszeit und des zumutbaren Pensums, aber ohne einen Tabellenlohnabzug zu gewähren, hat es ein Invalideneinkommen von Fr. 32'809.- festgestellt. Beim resultierenden Invaliditätsgrad von höchstens 39 % hat es einen Rentenanspruch verneint. 
 
4.  
 
4.1. Die Beschwerdeführerin kritisiert, dass die Vorinstanz den Einkommensvergleich nicht als Prozentvergleich vorgenommen hat. Dabei würde ohne Weiteres ein Invaliditätsgrad von 40 % und somit ein Anspruch auf eine Viertelsrente resultieren. Wenn es aber bei der Bezifferung der Vergleichseinkommen bleibe, so hätte die Vorinstanz für das Invalideneinkommen nicht auf einen Tabellenlohn abstellen dürfen, sondern die konkreten Einkommensverhältnisse berücksichtigen müssen. Jedenfalls sei aber aufgrund der Anforderungen an eine zumutbare Tätigkeit ein (leidensbedingter) Abzug vom Tabellenlohn angezeigt.  
 
4.2. Der Einkommensvergleich (Art. 16 ATSG) hat in der Regel in der Weise zu erfolgen, dass die beiden hypothetischen Erwerbseinkommen (Validen- und Invalideneinkommen) ziffernmässig möglichst genau ermittelt und einander gegenübergestellt werden, worauf sich aus der Einkommensdifferenz der Invaliditätsgrad bestimmen lässt. Insoweit die fraglichen Erwerbseinkommen ziffernmässig nicht genau ermittelt werden können, sind sie nach Massgabe der im Einzelfall bekannten Umstände zu schätzen und die so gewonnenen Annäherungswerte miteinander zu vergleichen. Wird eine Schätzung vorgenommen, so muss diese nicht unbedingt in einer ziffernmässigen Festlegung von Annäherungswerten bestehen. Vielmehr kann auch eine Gegenüberstellung blosser Prozentzahlen genügen. Das ohne Invalidität erzielbare hypothetische Erwerbseinkommen ist alsdann mit 100 % zu bewerten, während das Invalideneinkommen auf einen entsprechend kleineren Prozentsatz veranschlagt wird, so dass sich aus der Prozentdifferenz der Invaliditätsgrad ergibt (sogenannter Prozentvergleich; BGE 114 V 310 E. 3a; vgl. auch Urteil 8C_213/2022 vom 4. August 2022 E. 4.6.1).  
 
Weshalb in concreto keine ziffernmässige Ermittlung der Vergleichseinkommen möglich gewesen sein soll, ist nicht ersichtlich und wird auch nicht dargelegt. Die Vorinstanz hat kein Recht verletzt, indem sie keinen Prozentvergleich vorgenommen hat. 
 
4.3. Bei der Ermittlung des Einkommens, daseine versicherte Personerzielen könnte, wäre sie nicht invalid geworden (Valideneinkommen), ist in der Regel am zuletzt erzielten, nötigenfalls der Teuerung und der realen Einkommensentwicklung angepassten Lohn anzuknüpfen, da es empirischer Erfahrung entspricht, dass die bisherige Tätigkeit ohne Gesundheitsschaden fortgesetzt worden wäre. Ausnahmen müssen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erstellt sein (BGE 139 V 28 E. 3.3.2; SVR 2022 UV Nr. 4 S. 12, 8C_134/2021 E. 3.2).  
 
Das kantonale Gericht hat offengelassen, ob für das Valideneinkommen an die am 1. April 2014 aufgenommene und "aktuelle" Tätigkeit als Verkäuferin bei einer Tankstelle oder aber an die frühere, bis im Jahr 2006 ausgeübte Tätigkeit als Näherin/Schneiderin anzuknüpfen sei. Ob das Valideneinkommen in maximaler Höhe von Fr. 53'381.- (Verkäuferin) oder in Höhe von Fr. 51'341.- (Näherin/Schneiderin) berücksichtigt wird, spielt (auch) für den Ausgang dieses Verfahrens keine Rolle (vgl. nachfolgende E. 4.5.3). 
 
4.4. Für die Festsetzung des Invalideneinkommens ist primär von der beruflich-erwerblichen Situation auszugehen, in welcher die versicherte Person konkret steht. Übt sie nach Eintritt der Invalidität eine Erwerbstätigkeit aus, bei der - kumulativ - besonders stabile Arbeitsverhältnisse gegeben sind und anzunehmen ist, dass sie die ihr verbleibende Arbeitsfähigkeit in zumutbarer Weise voll ausschöpft, und erscheint zudem das Einkommen aus der Arbeitsleistung als angemessen und nicht als Soziallohn, gilt grundsätzlich der tatsächlich erzielte Verdienst als Invalidenlohn. Ist kein solches tatsächlich erzieltes Erwerbseinkommen gegeben, namentlich weil die versicherte Person nach Eintritt des Gesundheitsschadens keine oder jedenfalls keine ihr an sich zumutbare neue Erwerbstätigkeit aufgenommen hat, so können Tabellenlöhne der LSE herangezogen werden (BGE 148 V 174 E. 6.2; 143 V 295 E. 2.2; 135 V 297 E. 5.2).  
 
Die Vorinstanz hat auf die in den Jahren 2017, 2018 und 2019 erzielten Jahreseinkommen verwiesen und festgestellt, die Beschwerdeführerin habe ihre Restarbeitsfähigkeit nicht voll ausgeschöpft. Diese Feststellung bleibt unbestritten und für das Bundesgericht verbindlich (vgl. vorangehende E. 1). Damit ist das Heranziehen von Tabellenlöhnen der LSE zur Feststellung des Invalideneinkommens bundesrechtskonform. 
 
4.5.  
 
4.5.1. Zu prüfen bleibtein leidensbedingter Abzug vom Tabellenlohn (zur Qualifikation als Rechtsfrage vgl. BGE 148 V 174 E. 6.5; 146 V 16 E. 4.2), dessen "überragende Bedeutung als Korrekturinstrument bei der Festsetzung eines möglichst konkreten Invalideneinkommens" das Bundesgericht in BGE 148 V 174 E. 9.2.2 und 9.2.3 betonte.  
 
4.5.2. Wird das Invalideneinkommen auf der Grundlage von statistischen Lohndaten wie namentlich der LSE ermittelt, ist der so erhobene Ausgangswert allenfalls zu kürzen. Damit soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass persönliche und berufliche Merkmale, wie Art und Ausmass der Behinderung, Lebensalter, Dienstjahre, Nationalität oder Aufenthaltskategorie und Beschäftigungsgrad Auswirkungen auf die Lohnhöhe haben können, und die versicherte Person je nach Ausprägung deswegen die verbliebene Arbeitsfähigkeit auch auf einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt nur mit unterdurchschnittlichem erwerblichem Erfolg verwerten kann (BGE 135 V 297 E. 5.2; 126 V 75 E. 5b/aa i.f.). Der Abzug soll aber nicht automatisch erfolgen. Er ist unter Würdigung der Umstände im Einzelfall nach pflichtgemässem Ermessen gesamthaft zu schätzen und darf 25 % nicht übersteigen (BGE 135 V 297 E. 5.2; 134 V 322 E. 5.2; 126 V 75 E. 5b/bb-cc). Die Rechtsprechung gewährt insbesondere dann einen Abzug vom Invalideneinkommen, wenn eine versicherte Person selbst im Rahmen körperlich leichter Hilfsarbeitertätigkeit in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt ist. Allfällige bereits in der Beurteilung der medizinischen Arbeitsfähigkeit enthaltene gesundheitliche Einschränkungen dürfen nicht zusätzlich in die Bemessung des leidensbedingten Abzugs einfliessen und so zu einer doppelten Anrechnung desselben Gesichtspunkts führen (BGE 148 V 174 E. 6.3; 146 V 16 E. 4.1).  
 
4.5.3. Das kantonale Gericht hat mit Blick auf die sprachlichen Schwierigkeiten, die Nationalität und das Alter der Beschwerdeführerin keinen Anlass für einen Abzug erkannt. Darauf ist nicht weiter einzugehen. Indessen hat es bei der Frage nach einem Abzug vom Tabellenlohn der Art und dem Ausmass der Behinderung keine Rechnung getragen. Diesbezüglich lässt sich dem als beweiskräftig qualifizierten medexperts-Gutachten Folgendes entnehmen: Das Heben/Tragen von Gewichten über 10 kg sollte vermieden werden. Das Heben/Tragen sollte grundsätzlich nur fallweise gefordert sein mit anschliessend ausreichender Ruhezeit. Ausserdem sollten alle Arbeiten mit verschiedenen Zwangshaltungen, mit Bücken unter Tischkantenniveau, im Knien oder in Hockestellung, mit Überwindung von Niveauunterschieden (z.B. Treppensteigen), mit Höhenexposition (z.B. auf Leitern und Gerüsten) und Überkopfarbeiten vermieden werden. Stehend/gehend auszuübende Tätigkeiten sind eingeschränkt möglich. Zumutbar sind leichte, wechselbelastende Tätigkeiten mit der Möglichkeit zu vermehrten Ruhepausen. Damit steht fest, dass die Beschwerdeführerin selbst im Rahmen körperlich leichter Hilfsarbeitertätigkeit in ihrer Leistungsfähigkeit (quantitativ zu 40 %) eingeschränkt ist. Dem ist rechtsprechungsgemäss (vgl. vorangehende E. 4.5.2) mit einem (leidensbedingten) Abzug Rechnung zu tragen. Die Vorinstanz hat Recht verletzt, indem sie keinen solchen gewährt hat. Die darauf beruhende Feststellung des Invalideneinkommens ist nicht verbindlich.  
 
Der Abzug ist auf mindestens 10 % festzulegen, wodurch sich das Invalideneinkommen auf (höchstens) Fr. 29'528.- reduziert. Daraus resultiert im Vergleich zum Valideneinkommen von Fr. 53'381.- resp. Fr. 51'341.- (vgl. vorangehende E. 4.3) ein Invaliditätsgrad von (gerundet) 45 % resp. 42 %. Folglich hat die Beschwerdeführerin Anspruch auf eine Viertelsrente ab dem 1. Februar 2018. Die Beschwerde ist begründet. 
 
5.  
 
5.1. Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zu entrichten (Art. 68 Abs. 2 BGG).  
 
5.2. Die Sache ist zur Neuverlegung der Kosten und Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an die Vorinstanz zurückzuweisen (Art. 67 und Art. 68 Abs. 5 BGG).  
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 16. Juni 2022 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Aargau vom 22. Juni 2021 werden aufgehoben. Die Beschwerdegegnerin hat der Beschwerdeführerin eine Viertelsrente ab dem 1. Februar 2018 auszurichten. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.  
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen. 
 
4.  
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau zurückgewiesen. 
 
5.  
Dieses Urteil wird den Parteien, der Allianz Suisse Lebensversicherungs-Gesellschaft AG, Berufliche Vorsorge, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 4. November 2022 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Die Gerichtsschreiberin: Dormann