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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
1B_93/2019  
 
 
Urteil vom 14. Mai 2019  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Merkli, präsidierendes Mitglied, 
Bundesrichter Karlen, Muschietti, 
Gerichtsschreiber Härri. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
vertreten durch Rechtsanwalt Paul Hofer, 
 
gegen  
 
Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau. 
 
Gegenstand 
Strafverfahren; amtliche Verteidigung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, vom 16. Januar 2019 (SBK.2018.327). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Am 25. Mai 2018 kam es in der Justizvollzugsanstalt Lenzburg zu einer Schlägerei zwischen zahlreichen Gefangenen. Dabei standen sich arabische Gefangene einerseits und albanische anderseits gegenüber. Es gab mehrere Verletzte. 
Mit Strafbefehl vom 24. September 2018 verurteilte die Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau A.________ wegen Raufhandels zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 60 Tagen. Dagegen erhob A.________ am 1. Oktober 2018 Einsprache. 
Am 9. November 2018 stellte er das Gesuch um Einsetzung von Rechtsanwalt Paul Hofer als amtlichen Verteidiger. 
Mit Verfügung vom 12. November 2018 wies die Staatsanwaltschaft das Gesuch ab. 
Die von A.________ dagegen erhobene Beschwerde wies das Obergericht des Kantons Aargau (Beschwerdekammer in Strafsachen) am 16. Januar 2019 ab. Es befand, es liege kein Fall notwendiger Verteidigung vor. Es handle sich um einen Bagatellfall. Dieser biete im Übrigen keine tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten, denen A.________ allein nicht gewachsen wäre. 
 
B.  
A.________ führt Beschwerde in Strafsachen mit dem Antrag, den Entscheid des Obergerichts und die Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 12. November 2018 aufzuheben. Rechtsanwalt Hofer sei als amtlicher Verteidiger einzusetzen. 
 
C.  
Das Obergericht und die Staatsanwaltschaft haben auf Vernehmlassung verzichtet. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Gegen den angefochtenen Entscheid ist gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG die Beschwerde in Strafsachen gegeben. Ein kantonales Rechtsmittel steht nicht zur Verfügung. Die Beschwerde ist somit nach Art. 80 BGG zulässig. Der Beschwerdeführer ist gemäss Art. 81 Abs. 1 lit. a und b Ziff. 1 BGG zur Beschwerde berechtigt. Der angefochtene Entscheid stellt einen Zwischenentscheid dar, der dem Beschwerdeführer einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG bewirken kann (BGE 140 IV 202 E. 2.2 S. 205 mit Hinweis). Auf die Beschwerde in Strafsachen ist somit grundsätzlich einzutreten. Damit scheidet die vom Beschwerdeführer miterhobene subsidiäre Verfassungsbeschwerde gemäss Art. 113 BGG aus.  
 
1.2. Nicht eingetreten werden kann auf den Antrag, auch die Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 12. November 2018 aufzuheben. Aufgrund des Devolutiveffekts ist der obergerichtliche Entscheid an deren Stelle getreten. Die Verfügung der Staatsanwaltschaft ist somit nicht mehr Anfechtungsgegenstand (vgl. BGE 139 II 404 E. 2.5 S. 415; Urteil 1A.12/2004 vom 30. September 2004 E. 1.3, in: ZBl 106/2005 S. 43; je mit Hinweisen).  
 
2.  
 
2.1. Der Beschwerdeführer bringt vor, er verbüsse eine Freiheitsstrafe von 7 ½ Jahren wegen qualifizierter Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz. Sollte er des Raufhandels schuldig gesprochen werden, müsse er damit rechnen, dass ihm die bedingte Entlassung nach zwei Drittel der Strafe, also fünf Jahren, verweigert werde und er die Freiheitsstrafe von 7 ½ Jahren gegebenenfalls voll verbüssen müsse. Nebst der Freiheitsstrafe von 60 Tagen drohe ihm also ein weiterer Freiheitsentzug von bis zu 2 ½ Jahren. Damit sei ein Fall notwendiger Verteidigung gemäss Art. 130 lit. b StPO gegeben.  
 
2.2. Gemäss Art. 130 lit. b StPO muss die beschuldigte Person verteidigt werden, wenn ihr eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr (...) droht.  
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist insoweit der drohende Widerruf einer bedingten Freiheitsstrafe mit zu berücksichtigen (BGE 129 I 281 E. 4.1 S. 285 f.; Urteil 1B_444/2013 vom 31. Januar 2014 E. 2.1). Die notwendige Verteidigung rechtfertigt sich insoweit durch die schwerwiegenden Konsequenzen, die der Ausgang des Verfahrens für den Betroffenen haben kann. Für diesen entscheidend ist im Ergebnis die gesamte Dauer der vollziehbaren Strafe. Ob und wie sie sich zusammensetzt, ist hingegen von untergeordneter Bedeutung. Bei der Beurteilung der Notwendigkeit der Verteidigung ist daher von der gesamten vollstreckbaren Strafdauer auszugehen (BGE 129 I 281 E. 4.1 S. 286). 
Nach der kantonalen Rechtsprechung und dem Schrifttum ist ebenso der drohende Widerruf einer bedingten Entlassung aus dem Strafvollzug zu berücksichtigen (Entscheid des Kassationsgerichts des Kantons Zürich vom 31. Oktober 2000, in: ZR 100/2001 Nr. 16 S. 46 ff.; SCHMID/JOSITSCH, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 3. Aufl. 2018, N. 8 zu Art. 130 StPO; VIKTOR LIEBER, in: Donatsch und andere [Hrsg.], Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 17 zu Art. 130 StPO; NIKLAUS RUCKSTUHL, in: Schweizerische Strafprozessordnung, Basler Kommentar, 2. Aufl. 2014, N. 18 zu Art. 130 StPO). 
 
2.3. Hat der Gefangene zwei Drittel seiner Strafe (...) verbüsst, so ist er gemäss Art. 86 Abs. 1 StGB durch die zuständige Behörde bedingt zu entlassen, wenn es sein Verhalten im Strafvollzug rechtfertigt und nicht anzunehmen ist, er werde weitere Verbrechen oder Vergehen begehen.  
Nach der Rechtsprechung können Tätlichkeiten gegenüber Mitgefangenen zur Verweigerung der bedingten Entlassung führen (BGE 133 IV 201 E. 2.3 S. 204; 119 IV 5 E. 1a/bb S. 7). Im Falle einer Verurteilung wegen Raufhandels muss der Beschwerdeführer daher damit rechnen, dass seine bedingte Entlassung nach zwei Drittel der Strafe abgelehnt wird und er bis zu 2 ½ Jahren länger im Strafvollzug bleiben muss. Der Ausgang des Verfahrens kann für den Beschwerdeführer daher schwerwiegende Konsequenzen haben. Im Lichte der dargelegten bundesgerichtlichen Rechtsprechung, wonach es auf den dem Beschuldigten gesamthaft drohenden Freiheitsentzug ankommt, ist damit die Auffassung des Beschwerdeführers, seine Verteidigung sei nach Art. 130 lit. b StPO notwendig, nicht von Vornherein von der Hand zu weisen. Im aktuellen Verfahren droht ihm allerdings eine Freiheitsstrafe von lediglich 60 Tagen. Die Freiheitsstrafe von 7 ½ Jahren wurde bereits früher ausgesprochen und über die bedingte Entlassung nach zwei Drittel entscheidet die zuständige Behörde in einem späteren separaten Verfahren. Ob dies zum Ausschluss von Art. 130 lit. b StPO führt, kann dahingestellt bleiben, da der Beschwerdeführer jedenfalls aus folgenden Erwägungen Anspruch auf amtliche Verteidigung hat. 
 
2.4. Gemäss Art. 132 StPO ordnet die Verfahrensleitung eine amtliche Verteidigung an, wenn die beschuldigte Person nicht über die erforderlichen Mittel verfügt und die Verteidigung zur Wahrung ihrer Interessen geboten ist (Abs. 1 lit. b). Zur Wahrung der Interessen der beschuldigten Person ist die Verteidigung namentlich geboten, wenn es sich nicht um einen Bagatellfall handelt und der Straffall in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten bietet, denen die beschuldigte Person allein nicht gewachsen wäre (Abs. 2). Ein Bagatellfall liegt jedenfalls dann nicht mehr vor, wenn eine Freiheitsstrafe von mehr als 4 Monaten oder eine Geldstrafe von mehr als 120 Tagessätzen zu erwarten ist (Abs. 3).  
Die Mittellosigkeit des seit mehreren Jahren inhaftierten Beschwerdeführers ergibt sich aus den Akten. Zwar ist ein Bagatellfall anzunehmen, da dem Beschwerdeführer im jetzigen Verfahren lediglich eine Freiheitsstrafe von 60 Tagen droht. Die Grenze nach Art. 132 Abs. 3 StPO ist damit deutlich unterschritten. Im Übrigen bietet der Fall nach der zutreffenden Ansicht der Vorinstanz auch keine tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten, denen der Beschwerdeführer allein nicht gewachsen wäre. Sein Anspruch auf amtliche Verteidigung ist gleichwohl zu bejahen. 
 
2.5. Wie sich aus dem in Art. 132 Abs. 2 StPO enthaltenen Wort "namentlich" ergibt, umschreibt diese Bestimmung nicht abschliessend, wann die Verteidigung zur Wahrung der Interessen des Beschuldigten geboten ist. Die Verteidigung kann daher auch geboten sein, wenn ein Bagatellfall vorliegt oder der Fall in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht keine Schwierigkeiten bietet, denen der Beschuldigte allein nicht gewachsen wäre (BGE 143 I 164 E. 3.4 S. 173 f. und E. 3.6 S. 174 f. mit Hinweisen).  
Eine derartige Konstellation ist hier anzunehmen. Dem Beschwerdeführer droht nebst der Freiheitsstrafe von 60 Tagen ein zusätzlicher Freiheitsentzug von bis zu 2 ½ Jahren. Für den Beschwerdeführer steht damit viel auf dem Spiel. Art. 130 lit. b StPO muss zumindest als Massstab dafür dienen, wann die Verteidigung zur Wahrung der Interessen des Beschuldigten nach Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO geboten ist. Wiegen die dem Beschuldigten drohenden Konsequenzen vergleichbar schwer, ist der Anspruch auf amtliche Verteidigung nach Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO zu bejahen. So verhält es sich hier. Dem Beschwerdeführer droht bei einer Verurteilung wegen Raufhandels gesamthaft ein Freiheitsentzug von deutlich über einem Jahr. Deshalb ist die Verteidigung zur Wahrung seiner Interessen geboten und hat er nach Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO Anspruch auf amtliche Verteidigung. 
 
2.6. Die Beschwerde ist deshalb, soweit darauf eingetreten werden kann, gutzuheissen. Der vorinstanzliche Entscheid wird aufgehoben und Rechtsanwalt Paul Hofer als amtlicher Verteidiger des Beschwerdeführers in dem gegen diesen geführten Strafverfahren eingesetzt.  
 
3.  
Bei diesem Ausgang des Verfahrens werden keine Gerichtskosten erhoben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der Kanton hat dem Vertreter des Beschwerdeführers eine Entschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 f. BGG). Bei deren Festsetzung wird dem Umstand erhöhend Rechnung getragen, dass die Vorinstanz die bei ihr eingereichte Beschwerde hätte gutheissen müssen, womit der Beschwerdeführer Anspruch auf eine Parteientschädigung gehabt hätte (Art. 436 Abs. 3 StPO; BGE 142 IV 163 E. 3.2.2 S. 169 f.; Urteil 6B_1324/2015 vom 23. November 2016 E. 2.4). Auf die Rückweisung der Akten an die Vorinstanz zur Neufestsetzung der kantonalen Entschädigungsfolgen kann daher verzichtet werden. 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird, soweit darauf eingetreten werden kann, gutgeheissen und der Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau vom 16. Januar 2019 aufgehoben. Rechtsanwalt Paul Hofer wird als amtlicher Verteidiger des Beschwerdeführers eingesetzt. 
 
2.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.  
Der Kanton Aargau hat dem Vertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt Paul Hofer, eine Entschädigung von Fr. 3'000.-- zu bezahlen. 
 
4.  
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau und dem Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 14. Mai 2019 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Das präsidierende Mitglied: Merkli 
 
Der Gerichtsschreiber: Härri