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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
9C_722/2009 
 
Urteil vom 21. Dezember 2009 
II. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident, 
Bundesrichter Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber, 
Gerichtsschreiberin Dormann. 
 
Parteien 
IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
J.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Andreas Edelmann, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Invalideneinkommen), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 6. Mai 2009. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
Der 1964 geborene J.________ meldete sich im September 2006 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach Abklärungen und Durchführung des Vorbescheidverfahrens verneinte die IV-Stelle des Kantons Aargau mit Verfügung vom 12. Februar 2008 bei einem Invaliditätsgrad von 38 % einen Rentenanspruch. 
 
B. 
In teilweiser Gutheissung der Beschwerde des J.________ hob das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 6. Mai 2009 die Verfügung vom 12. Februar 2008 auf und sprach ihm ab 1. September 2006 eine Viertelsrente der Invalidenversicherung zu. 
 
C. 
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt die Aufhebung des Entscheids vom 6. Mai 2009. 
J.________ lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen, das kantonale Gericht und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
1.1 Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Neue Tatsachen und Beweismittel dürfen nur soweit vorgebracht werden, als erst der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass gibt (Art. 99 Abs. 1 BGG). 
Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
1.2 Das Bundesgericht prüft seine Zuständigkeit und die (weiteren) Eintretensvoraussetzungen von Amtes wegen und mit freier Kognition (vgl. BG 135 II 94 E. 1 S. 96; Urteil 8C_264/2009 vom 19. Mai 2009 E. 1; je mit Hinweisen). 
 
1.3 Die Beschwerdeführerin rügt die Verletzung von Bundesrecht (vgl. E. 2.3 und 3.2), soweit im angefochtenen Entscheid aufgrund psychischer Leiden eine eingeschränkte Arbeitsfähigkeit angenommen und bei der Bestimmung des Invalideneinkommens ein Abzug vom Tabellenlohn vorgenommen wurde. Dabei handelt es sich um Vorbringen rechtlicher Art, welche nicht vom Novenverbot von Art. 99 Abs. 1 BGG erfasst werden. Zwar ging die IV-Stelle selber im Verwaltungsverfahren von einer (teilweisen) Einschränkung der Arbeitsfähigkeit aus, und auch im kantonalen Beschwerdeverfahren vertrat sie keine andere Auffassung. Dennoch ist es ihr (als beschwerte Partei; vgl. Art. 89 Abs. 1 lit. c BGG) nicht verwehrt, letztinstanzlich die fehlende Bundesrechtskonformität des Rentenentscheids geltend zu machen, zumal Gegenstand des vorinstanzlichen Verfahrens (vgl. BGE 125 V 413 E. 1 und 2 S. 414 ff.; ULRICH MEYER, in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2008, N. 27 zu Art. 99 BGG) der Anspruch des Versicherten gegen die IV-Stelle auf eine Rente der Invalidenversicherung - welchen die kantonale Beschwerdeinstanz umfassend zu prüfen hat (vgl. Art. 61 lit. c und d ATSG; SR 830.1) - bildete, wobei insbesondere der Umfang der Arbeitsfähigkeit umstritten war. Auf die Beschwerde ist daher einzutreten. 
 
2. 
2.1 Mit Bezug auf die Arbeitsfähigkeit des Beschwerdegegners hat das kantonale Gericht nicht offensichtlich unrichtig (E. 1.1) festgestellt, in orthopädischer Hinsicht sei dieser arbeitsfähig in einer körperlich leichten bis mittelschweren Tätigkeit in wechselnder Position, mit einer Hebe- und Traglimite von 15 kg und ohne länger dauernde Zwangshaltungen von Hals- und Lendenwirbelsäule. Umstritten ist die Frage, ob aus den psychischen Leiden eine sozialversicherungsrechtlich relevante Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit resultiert. Diesbezüglich hat die Vorinstanz eine Leistungseinschränkung von 20 % in leichten Tätigkeiten angenommen. 
 
2.2 Somatoforme Schmerzstörungen und ähnliche aetiologisch-pathogenetisch unerklärliche syndromale Leidenszustände vermögen in der Regel keine lang dauernde, zu einer Invalidität im Sinne von Art. 4 Abs. 1 IVG führende Einschränkung der Arbeitsfähigkeit zu bewirken (BGE 130 V 352 E. 2.2.2 und 2.2.3 S. 353 f.; 132 V 65; 131 V 49; 130 V 396). Die - nur in Ausnahmefällen anzunehmende - Unzumutbarkeit einer willentlichen Schmerzüberwindung und eines Wiedereinstiegs in den Arbeitsprozess setzt das Vorliegen einer mitwirkenden, psychisch ausgewiesenen Komorbidität von erheblicher Schwere, Intensität, Ausprägung und Dauer oder aber das Vorhandensein anderer qualifizierter, mit gewisser Intensität und Konstanz erfüllter Kriterien wie chronische körperliche Begleiterkrankungen und mehrjähriger Krankheitsverlauf bei unveränderter oder progredienter Symptomatik ohne längerfristige Remission, ein ausgewiesener sozialer Rückzug in allen Belangen des Lebens, ein verfestigter, therapeutisch nicht mehr angehbarer innerseelischer Verlauf einer an sich missglückten, psychisch aber entlastenden Konfliktbewältigung (primärer Krankheitsgewinn) oder schliesslich unbefriedigende Behandlungsergebnisse trotz konsequent durchgeführter Behandlungsbemühungen (auch mit unterschiedlichem therapeutischem Ansatz) und gescheiterte Rehabilitationsmassnahmen bei vorhandener Motivation und Eigenanstrengung der versicherten Person voraus (BGE 130 V 352 E. 2.2.3 S. 354 f.). 
 
2.3 Die ärztlichen Stellungnahmen zum psychischen Gesundheitszustand und zu dem aus medizinischer Sicht (objektiv) vorhandenen Leistungspotential bilden unabdingbare Grundlage für die Beurteilung der Rechtsfrage, ob und gegebenenfalls inwieweit einer versicherten Person unter Aufbringung allen guten Willens die Überwindung ihrer Schmerzen und die Verwertung ihrer verbleibenden Arbeitskraft zumutbar (E. 2.2) ist. Im Rahmen der freien Beweiswürdigung (Art. 61 lit. c ATSG) darf sich dabei die Verwaltung - und im Streitfall das Gericht - weder über die (den beweisrechtlichen Anforderungen [BGE 125 V 351 E. 3a S. 352] genügenden) medizinischen Tatsachenfeststellungen hinwegsetzen noch sich die ärztlichen Einschätzungen und Schlussfolgerungen zur (Rest-)Arbeitsfähigkeit unbesehen ihrer konkreten sozialversicherungsrechtlichen Relevanz und Tragweite zu eigen machen. Letzteres gilt namentlich dann, wenn die begutachtende Fachperson allein aufgrund der Diagnose einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit attestiert. Die rechtsanwendenden Behörden haben diesfalls mit besonderer Sorgfalt zu prüfen, ob die ärztliche Einschätzung der Arbeitsunfähigkeit auch invaliditätsfremde Gesichtspunkte (insbesondere psychosoziale und soziokulturelle Belastungsfaktoren) mit berücksichtigt, welche vom sozialversicherungsrechtlichen Standpunkt aus unbeachtlich sind (vgl. BGE 127 V 299 Erw. 5a; AHI 2000 S. 153 Erw. 3), und ob die von den Ärzten anerkannte (Teil-)Arbeitsunfähigkeit auch im Lichte der für eine Unüberwindlichkeit der Schmerzsymptomatik massgebenden rechtlichen Kriterien standhält (BGE 130 V 352 E. 2.2.5 S. 355 f.). 
 
2.4 Die Vorinstanz hat mit Bezug auf die medizinischen Tatsachenfeststellungen das Gutachten des Begutachtungsinstitutes X.________ vom 1. August 2007 zu Recht als beweiskräftig bezeichnet (BGE 125 V 351 E. 3a S. 352), was auch von den Parteien nicht in Frage gestellt wird. Gestützt darauf und unter Würdigung weiterer medizinischer Unterlagen hat sie festgestellt, dass eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung vorliege, während von einer mitwirkenden, psychisch ausgewiesenen Komorbidität von erheblicher Schwere, Intensität, Ausprägung und Dauer nicht gesprochen werden könne. Orthopädisch liessen sich lediglich beginnende degenerative Veränderungen im unteren zervikalen Bereich und eine - die intensiven Nacken- und Kopfschmerzen nicht erklärende - Syringomyelie feststellen, weshalb chronische körperliche Begleiterkrankungen zu verneinen seien. Ebensowenig liege ein mehrjähriger unveränderter Krankheitsverlauf vor. Ein sozialer Rückzug in allen Belangen des Lebens sei nicht ausgewiesen und es sei kein primärer Krankheitsgewinn vorhanden. Das Kriterium unbefriedigender Behandlungsergebnisse trotz konsequent durchgeführter ambulanter und/oder stationärer Behandlungsbemühungen und gescheiterter Rehabilitationsmassnahmen bei vorhandener Motivation und Eigenanstrengung sei erfüllt. Diese Feststellungen sind weder offensichtlich unrichtig noch beruhen sie auf einer Rechtsverletzung, weshalb sie für das Bundesgericht verbindlich sind (E. 1.1). Damit sind die massgeblichen Kriterien (E. 2.2) offensichtlich nicht (genügend) erfüllt, weshalb der vorinstanzlichen Folgerung, insgesamt sei dem Beschwerdegegner ein Wiedereinstieg in den Arbeitsprozess nicht unzumutbar, beizupflichten ist. Unter diesen Umständen bleibt aber in rechtlicher Hinsicht - entgegen der auf dem Gutachten des Begutachtungsinstitutes X.________ beruhenden Auffassung des kantonalen Gerichts - kein Raum für die Annahme einer mit psychischen Leiden begründeten (teilweisen) Einschränkung der Arbeitsfähigkeit. 
 
3. 
3.1 Für die Bemessung des Invaliditätsgrades setzte die Verwaltung das Valideneinkommen auf Fr. 75'270.- und das Invalideneinkommen, gestützt auf die Tabellenlöhne der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung des Bundesamtes für Statistik und - zu Unrecht (E. 2.4) - unter Berücksichtigung einer um 20 % reduzierten Arbeitsfähigkeit, auf Fr. 46'932.- fest. Die Vorinstanz hat diese Beträge übernommen; das Invalideneinkommen hat sie jedoch "aufgrund der zu berücksichtigenden orthopädischen Einschränkungen" um einen Abzug von 10 % reduziert. Die Beschwerdeführerin sieht in Letztem eine Verletzung von Bundesrecht. 
 
3.2 Ob (vgl. zur Qualifikation als Rechtsfrage BGE 132 V 393 E. 3.3 S. 399) und in welchem Ausmass Tabellenlöhne herabzusetzen sind, ist von sämtlichen persönlichen und beruflichen Umständen des konkreten Einzelfalls (leidensbedingte Einschränkung, Alter, Dienstjahre, Nationalität/Aufenthaltskategorie und Beschäftigungsgrad) abhängig. Der Einfluss sämtlicher Merkmale auf das Invalideneinkommen ist nach pflichtgemässem Ermessen gesamthaft zu schätzen, wobei der Abzug auf höchstens 25 % zu begrenzen ist (BGE 126 V 75 E. 5 S. 78 ff.; 129 V 472 E. 4.3.2. S. 481). 
 
3.3 Die Rechtsprechung gewährt insbesondere dann einen Abzug auf dem Invalideneinkommen, wenn eine versicherte Person selbst im Rahmen körperlich leichter Hilfsarbeitertätigkeit in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt ist (BGE 126 V 75 E. 5a/bb S. 78). Sind hingegen leichte bis mittelschwere Arbeiten zumutbar, ist allein deswegen auch bei eingeschränkter Leistungsfähigkeit noch kein Abzug gerechtfertigt (Urteile 8C_559/2008 vom 15. Dezember 2008 E. 4; 9C_343/2008 vom 21. August 2008 E. 3.2; 8C_765/2007 vom 11. Juli 2008 E. 4.3.2), weil der Tabellenlohn im Anforderungsniveau 4 bereits eine Vielzahl von leichten und mittelschweren Tätigkeiten umfasst (Urteil 9C_72/2009 vom 30. März 2009 E. 3.4). 
 
3.4 Dem Beschwerdegegner sind leichte bis mittelschwere, adaptierte Tätigkeiten ohne weitere Einschränkung zumutbar (E. 2.1) und weitere konkrete Umstände, welche für die Vornahme eines Abzuges sprechen, sind nicht ersichtlich und wurden auch nicht geltend gemacht. Letztlich kann jedoch die Frage nach der Zulässigkeit eines Abzuges offen bleiben: Wird das Invalideneinkommen auf Fr. 58'665.- (ohne Einschränkung der Arbeitsfähigkeit, vgl. E. 2.4) oder - unter Berücksichtigung eines Abzuges von 10 % - auf Fr. 52'798.- festgesetzt, ergibt sich bei einem Valideneinkommen von Fr. 75'270.- ein Invaliditätsgrad von 22 oder 30 %, was beides einen Anspruch auf eine Invalidenrente ausschliesst (Art. 28 IVG). Die Beschwerde ist begründet. 
 
4. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten dem Beschwerdegegner aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 6. Mai 2009 aufgehoben. 
 
2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt. 
 
3. 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten des vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau zurückgewiesen. 
 
4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
Luzern, 21. Dezember 2009 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: 
 
Meyer Dormann