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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
1B_279/2020  
 
 
Urteil vom 23. Juni 2020  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Chaix, Präsident, 
Bundesrichterin Jametti, Bundesrichter Haag, 
Gerichtsschreiber Störi. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern. 
 
Gegenstand 
Strafverfahren; Haftentlassungsgesuch, 
 
Beschwerde gegen die Verfügung des Obergerichts 
des Kantons Bern, 2. Strafkammer, Präsident, 
vom 1. Mai 2020 (SK 20 183). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Das Regionalgericht Bern-Mittelland verurteilte A.________ am 12. Dezember 2019 wegen mehrfachen und qualifizierten Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz zu einer Freiheitsstrafe von 50 Monaten und verhängte gleichentags Sicherheitshaft gegen ihn. Gegen dieses Urteil meldete A.________ am 17. Dezember 2019 Berufung beim Obergericht des Kantons Bern an. Am 17. März 2020 verfügte der Verfahrensleiter des Obergerichts, A.________ habe in Sicherheitshaft zu bleiben. 
Am 23. April 2020 stellte A.________ ein Haftentlassungsgesuch, welches vom Obergericht am 1. Mai 2020 abgewiesen wurde. 
 
B.   
Mit Beschwerde vom 29. Mai 2020 beantragt A.________, diesen Entscheid des Obergerichts aufzuheben und ihn aus der Haft zu entlassen. Ausserdem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege. 
 
C.   
Das Obergericht verzichtet auf Vernehmlassung. 
A.________ hält mit Eingabe vom 17. Juni 2020 an der Beschwerde fest. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Haftentscheid. Dagegen ist die Beschwerde in Strafsachen nach den Art. 78 ff. BGG gegeben. Der Beschwerdeführer ist durch die Verweigerung der Haftentlassung in seinen rechtlich geschützten Interessen betroffen und damit zur Beschwerde befugt (Art. 81 Abs. 1 BGG). Er macht die Verletzung von Bundesrecht geltend, was zulässig ist (Art. 95 lit. a BGG). Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, sodass auf die Beschwerde einzutreten ist. 
 
2.   
Untersuchungs- und Sicherheitshaft kann unter anderem angeordnet werden, wenn ein dringender Tatverdacht in Bezug auf ein Verbrechen oder Vergehen sowie Flucht-, Kollusions- oder Wiederholungsgefahr besteht (Art. 221 Abs. 1 StPO). Nach der Auffassung des Obergerichts im angefochtenen Entscheid ist nebst dem allgemeinen Haftgrund des dringenden Tatverdachts Fluchtgefahr gegeben. 
Aus der erstinstanzlichen Verurteilung ergibt sich, dass der Beschwerdeführer eines Verbrechens dringend verdächtig ist; der allgemeine Haftgrund ist unumstritten gegeben. Vor Obergericht war auch nicht umstritten, dass Fluchtgefahr besteht. Diesen Haftgrund stellt der Beschwerdeführer nunmehr in seiner eigenhändigen Beschwerde wieder in Frage, was allerdings nicht zu überzeugen vermag: Ausgehend von der erstinstanzlichen Verurteilung hat der Beschwerdeführer bei Erfolglosigkeit seiner Berufung mit einer Freiheitsstrafe von 50 Monaten zu rechnen. Davon hat er Ende April 2020 zwei Drittel verbüsst, womit damals noch ein Strafrest von gut 16 Monaten offen war. Auch wenn seither wiederum 2 Monate vergangen sind, muss der Beschwerdeführer damit rechnen, im für ihn schlimmsten Fall noch 14 Monate verbüssen zu müssen. Das stellt einen erheblichen Fluchtanreiz dar. Er hat nach seiner Darstellung sowohl in Kroatien als auch in Belgien Verwandtschaft und könnte in beiden Ländern leben und untertauchen; er hat denn auch gar nicht die Absicht, nach Verbüssung der Strafe in der Schweiz zu bleiben, auch wenn zwei Töchter hierzulande leben. Dies dürfte er wohl ohnehin nicht, droht ihm doch nach Art. 66a Abs. 1 lit. o StGB auch eine obligatorische Landesverweisung. Zusammenfassend besteht somit für ihn ein erheblicher Anreiz, sich der weiteren Strafverfolgung in der Schweiz zu entziehen und sich ins Ausland abzusetzen. Das Obergericht hat kein Bundesrecht verletzt, indem es Fluchtgefahr annahm. 
 
3.  
 
3.1. Gemäss Art. 31 Abs. 3 BV und Art. 5 Ziff. 3 EMRK hat eine in strafprozessualer Haft gehaltene Person Anspruch darauf, innerhalb einer angemessenen Frist richterlich abgeurteilt oder während des Strafverfahrens aus der Haft entlassen zu werden. Eine übermässige Haftdauer stellt eine unverhältnismässige Beschränkung dieses Grundrechts dar. Nach Art. 212 Abs. 3 StPO dürfen deshalb Untersuchungs- und Sicherheitshaft nicht länger dauern als die zu erwartende Freiheitsstrafe, wobei nach ständiger Praxis bereits zu vermeiden ist, dass die Haftdauer in grosse Nähe zur zu erwartenden Freiheitsstrafe rückt (BGE 143 IV 168 E. 5.1 S. 173 mit Hinweisen). Diese Grenze ist insbesondere deshalb bedeutsam, weil das erkennende Gericht dazu neigen könnte, die Dauer der erstandenen Haft bei der Strafzumessung mitzuberücksichtigen (BGE 133 I 270 E. 3.4.2 S. 282; 124 I 208 E. 6 S. 215; Urteil 1B_413/2017 23. Oktober 2017 E. 4.2; je mit Hinweisen).  
Liegt bereits ein richterlicher Entscheid über das Strafmass vor, stellt dieser ein wichtiges Indiz für die mutmassliche Dauer der tatsächlich zu verbüssenden Strafe dar (BGE 143 IV 160 E. 4.1 S. 165 mit Hinweisen). Nach der Rechtsprechung ist zudem bei der Prüfung der zulässigen Haftdauer der Umstand, dass die in Aussicht stehende Freiheitsstrafe bedingt oder teilbedingt ausgesprochen werden kann, wie auch die Möglichkeit einer bedingten Entlassung aus dem Strafvollzug im Grundsatz nicht zu berücksichtigen (BGE 143 IV 168 E. 5.1 S. 173; 160 E. 4.2 S. 166; je mit Hinweisen). Vom Grundsatz der Nichtberücksichtigung der Möglichkeit einer bedingten Entlassung ist nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung indes dann eine Ausnahme zu machen, wenn es die konkreten Umstände des Einzelfalls gebieten (Urteile 1B_153/2013 vom 17. Mai 2013 E. 2.4 und 1B_51/2008 vom 19. März 2008 E. 4.1), insbesondere wenn absehbar ist, dass eine bedingte Entlassung mit grosser Wahrscheinlichkeit erfolgen dürfte (BGE 143 IV 160 E. 4.2; Urteil 1B_122/2009 vom 10. Juni 2009 E. 2.3). 
 
3.2. Das Obergericht hat diesbezüglich ausgeführt, es sei nicht erstellt, dass die Voraussetzungen für eine bedingte Entlassung mit hoher Wahrscheinlichkeit erfüllt seien. Obwohl sich der Beschwerdeführer im Vollzug offenbar tadellos verhalte, so weise er doch eine, wenn auch länger zurückliegende einschlägige italienische Vorstrafe aus dem Jahre 2006 auf, und er habe während der Probezeit einer Verurteilung wegen Fahrens in fahrunfähigem Zustand vom 10. Februar 2015 delinquiert, was prognostisch ungünstig sei. Die Einschätzung des Obergerichts, dass die Legalprognose für das künftige Wohlverhalten des Beschwerdeführers nicht von vornherein zwingend günstig ausfällt und die Voraussetzungen für eine bedingte Entlassung damit nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit erfüllt sind, ist jedenfalls nachvollziehbar. Es besteht daher im vorliegenden Fall kein Anlass, vom Grundsatz, dass die Möglichkeit der bedingten Entlassung nicht zu berücksichtigen ist, ausnahmsweise abzuweichen.  
 
3.3. Damit bleibt zu prüfen, ob die Haftdauer unabhängig von der Nichtberücksichtigung der Möglichkeit der bedingten Entlassung in grosse Nähe zur zu erwartenden Freiheitsstrafe rückt. Das Bundesgericht hat dabei in zwei Fällen aus dem Jahr 2000, in denen die Prognose der bedingten Entlassung unsicher schien, die Aufrechterhaltung der Sicherheitshaft nach Ablauf von drei Vierteln der Strafe, die im Rechtsmittelverfahren nur noch verkürzt, aber nicht mehr erhöht werden konnte, als unverhältnismässig angesehen (Urteile 1P.219/2000 vom 20. April 2000 E. 2d und 1P.256/2000 vom 12. Mai 2000 E. 2d). Auch in neueren Urteilen hat das Bundesgericht zum Teil auf das Mass von drei Vierteln hingewiesen (vgl. etwa Urteil 1B_23/ 2019 vom 28. Januar 2019 E. 2.2), freilich ohne dass es jemals die Regel formuliert hätte, dass nach deren Ablauf automatisch von Überhaft auszugehen wäre. Im Sinne einer Klarstellung ist deshalb zu bestätigen, dass der Verhältnismässigkeitsgrundsatz von den Behörden verlangt, umso zurückhaltender zu sein, als sich die Haft der zu erwartenden Freiheitsstrafe nähert; dabei ist jedoch nicht das Verhältnis der erstandenen Haftdauer zur zu erwartenden Freiheitsstrafe als solches entscheidend, sondern ist vielmehr auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen (Zusammenfassung der Rechtsprechung in BGE 145 IV 179 E. 3).  
 
3.4. Der Beschwerdeführer wurde erstinstanzlich zu einer Freiheitsstrafe von 50 Monaten verurteilt. Da die Staatsanwaltschaft das Strafurteil unangefochten liess, kann die Strafe im Rechtsmittelverfahren nicht erhöht werden. Im Zeitpunkt des angefochtenen Entscheids hatte der Beschwerdeführer rund 33 1/3 Monate in Haft verbracht, im jetzigen Zeitpunkt sind es gut 35 Monate. Angesichts des verbleibenden zu erwartenden Strafrests von immerhin 15 Monaten droht auch im jetzigen Zeitpunkt noch keine Überhaft.  
Wie es sich damit verhält, wenn der Beschwerdeführer bis zur auf den 19. - 21. Januar 2021 angesetzten Berufungsverhandlung in Haft gehalten werden soll - bis dahin wird er rund 42 Monate bzw. über ¾ der maximal möglichen Strafe verbüsst haben - ist eine andere Frage. Sie stellt sich hier zwar (noch) nicht, doch ist im Hinblick auf den weiteren Verlauf des Verfahrens auf die unter E. 3.3 angeführte Praxis und auf das Urteil 1B_585/2019 vom 30. Dezember 2019 E. 3.1 hinzuweisen. Darin sind verschiedene Urteile aufgeführt, in welchem der unter dem Gesichtspunkt des Beschleunigungsgebots zulässige Zeitbedarf für eine ähnliche Konstellation - die Durchführung der erstinstanzlichen Hauptverhandlung nach Eingang der Anklage - konkretisiert wird. 
 
4.   
Die Beschwerde ist somit abzuweisen. Damit wird der Beschwerdeführer an sich kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Er hat indessen ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gestellt, welches gutzuheissen ist, da die Beschwerde nicht aussichtslos war und die Prozessarmut des Beschwerdeführers ausgewiesen scheint (Art. 64 Abs. 1 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen. 
 
3.   
Es werden keine Kosten erhoben. 
 
4.   
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, Rechtsanwalt B.________, der Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern und dem Obergericht des Kantons Bern, 2. Strafkammer, Präsident, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 23. Juni 2020 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Chaix 
 
Der Gerichtsschreiber: Störi