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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
1C_341/2022  
 
 
Urteil vom 6. März 2023  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Kneubühler, Präsident, 
Bundesrichter Chaix, Haag, 
Gerichtsschreiber Gelzer. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
vertreten durch Rechtsanwalt Adrian Häcki, 
 
gegen  
 
Strassenverkehrsamt des Kantons Zürich, Bereich Administrativmassnahmen, 
Lessingstrasse 33, 8090 Zürich. 
 
Gegenstand 
Führerausweisentzug, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich, 1. Abteilung, Einzelrichter, vom 13. April 2022 (VB.2021.00577). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
A.________, Jahrgang 1984, überschritt am 23. Oktober 2020 als Lenker eines Personenwagens auf der Autobahn A3 die zugelassene Geschwindigkeit von 120 km/h um 44 km/h, wofür er mit Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Rheinfelden-Laufenburg vom 1. Dezember 2020 mit einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen und einer Busse von Fr. 2'000.-- bestraft wurde. 
 
 
B.  
Aufgrund der genannten Geschwindigkeitsüberschreitung entzog das Strassenverkehrsamt des Kantons Zürich (nachstehend: Strassenverkehrsamt) A.________ mit Verfügung vom 1. Dezember 2020 den Führerausweis wegen einer schweren Widerhandlung gegen die Strassenverkehrsvorschriften für die Dauer von drei Monaten. Gemäss der Rechtsmittelbelehrung konnte diese Verfügung innert 30 Tagen, von der Mitteilung an gerechnet, beim Strassenverkehrsamt angefochten werden. 
 
Mit E-Mail vom 13. Dezember 2020 ersuchte A.________ das Strassenverkehrsamt darum, den bereits begonnenen Entzug des Führerausweises aufzuschieben. Das Strassenverkehrsamt liess A.________ folgendes Antwortschreiben vom 16. Dezember 2020 zukommen: 
 
" Wiedererwägung der Verfügung vom 01.12.2020 
Rechtliches Gehör im Administrativmassnahme-Verfahren 
Sehr geehrter Herr A.________ 
Wir haben Ihr E-Mail vom 13. Dezember 2020 erhalten. Ihren Führerausweis erhalten Sie provisorisch zurück. Sie sind ab sofort wieder fahrberechtigt. 
Nach erneuter Durchsicht der Akten haben wir festgestellt, dass uns ein Fehler unterlaufen ist. Die Entzugsdauer wurde leider nicht korrekt berechnet, weil wir eine Vorbelastung nicht berücksichtigt haben: die mit Verfügung vom 14. April 2015 angeordnete Aberkennung des ausländischen Führerausweises. 
Nach einer schweren Widerhandlung gegen die Strassenverkehrsvorschriften muss der Führerausweis für mindestens 12 Monate entzogen werden, wenn in den vorangegangenen fünf Jahren der Ausweis einmal wegen einer schweren Widerhandlung entzogen oder aberkannt war, was vorliegend der Fall ist. Ihr ausländischer Führerausweis wurde vom 24. August 2015 bis 23. November 2015 wegen einer schweren Widerhandlung aberkannt und der neu zu beurteilende Vorfall ereignete sich am 23. Oktober 2020, also innerhalb der fünfjährigen Frist. Deshalb muss der Führerausweis nun zwingend für mindestens 12 Monate entzogen werden. 
[...] Vor diesem Hintergrund müssen wir wiedererwägungsweise unsere Verfügung vom 1. Dezember 2020 aufheben und eine Entzugsdauer von 12 Monaten anordnen. Bevor wir die Administrativmassnahme festlegen, haben Sie die Möglichkeit des rechtlichen Gehörs: Sie können uns innert 10 Tagen ab Zustellung dieses Schreibens schriftlich oder telefonisch (zwischen 7.15 und 11.30 Uhr) Ihre Sichtweise mitteilen. Ebenso erhalten Sie die Gelegenheit, allfällige Wünsche zur Festsetzung des Abgabetermins für den Restvollzug bekanntzugeben. Anschliessend erlassen wir unsere Verfügung. Der Beginn des Restvollzugs wird dann durch uns festgesetzt und kann nicht mehr verschoben werden. " 
 
In seiner Vernehmlassung vom 21. Januar 2021 beantragte A.________, die Verfügung vom 1. Dezember 2020 nicht (wiedererwägungsweise) aufzuheben. 
 
Mit Verfügung vom 3. März 2021 hob das Strassenverkehrsamt seine Verfügung vom 1. Dezember 2020 wiedererwägungsweise auf und entzog A.________ gestützt auf Art. 16c Abs. 1 lit. a und Abs. 2 lit. c SVG den Führerausweis für die Dauer von 12 Monaten. Zur Begründung führte das Strassenverkehrsamt namentlich aus, zwar habe A.________ keine Einsprache gegen die Verfügung vom 1. Dezember 2020 erhoben, worauf diese in der Folge in Rechtskraft erwachsen sei. Nach Eintritt der Rechtskraft sei jedoch der Widerruf einer ursprünglich fehlerhaften Verfügung zulässig, sofern eine Interessenabwägung ergebe, dass das Interesse an der richtigen Durchsetzung des objektiven Rechts dasjenige an der Wahrung der Rechtssicherheit beziehungsweise am Vertrauensschutz überwiege. Dies treffe vorliegend zu, zumal die Verfügung vom 1. Dezember 2020 nicht in einem eingehenden Einsprache- und Ermittlungsverfahren erlassen und A.________ mit Schreiben vom 16. Dezember 2020 unverzüglich über den Fehler informiert worden sei (S. 3 f.). 
 
A.________ focht die Verfügung des Strassenverkehrsamts vom 3. März 2021 mit Rekurs an, den die Sicherheitsdirektion des Kantons Zürich mit Entscheid vom 22. Juli 2021 abwies. Eine dagegen von A.________ eingereichte Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich mit Urteil vom 13. April 2022 insoweit gut, als es die Kosten des Rekursverfahrens von Fr. 745.-- den Parteien je zur Hälfte auferlegte. Im Übrigen wies es die Beschwerde ab. 
 
C.  
A.________ erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit den sinngemässen Anträgen, das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 13. April 2022 sowie die Verfügung des Strassenverkehrsamts vom 3. März 2021 aufzuheben und den von diesem Amt am 1. Dezember 2020 verfügten Führerausweisentzug von drei Monaten zu bestätigen. 
 
Das Verwaltungsgericht beantragt, die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei. Das Strassenverkehrsamt und das Bundesamt für Strassen schliessen auf Abweisung der Beschwerde. 
 
Mit Präsidialverfügung vom 8. Juli 2022 hat das Bundesgericht der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuerkannt. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Endentscheid über einen Führerausweisentzug. Dagegen steht die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten offen (Art. 82 ff. BGG; vgl. Urteil 1C_52/2022 vom 8. Juni 2022 E. 1). Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde einzutreten.  
 
1.2. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann insbesondere die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es prüft jedoch unter Berücksichtigung der Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG) nur die geltend gemachten Rügen, sofern rechtliche Mängel des angefochtenen Entscheids nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 144 V 388 E. 2). Erhöhte Anforderungen an die Begründung gelten, soweit die Verletzung von Grundrechten gerügt wird (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 143 I 1 E. 1.4; 142 I 99 E. 1.7.2; 139 I 229 E. 2.2).  
 
2.  
 
2.1. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung darf eine materiell unrichtige Verfügung nach Ablauf der Rechtsmittelfrist grundsätzlich nicht widerrufen werden, wenn das Interesse am Vertrauensschutz gegenüber dem Interesse an der richtigen Anwendung des objektiven Rechts überwiegt. Dies trifft in der Regel zu, wenn durch die Verfügung ein subjektives Recht begründet worden oder die Verfügung in einem Verfahren ergangen ist, in dem die sich gegenüberstehenden Interessen allseitig zu prüfen und gegeneinander abzuwägen waren, oder wenn eine Privatperson von einer ihr durch die Verfügung eingeräumten Befugnis bereits Gebrauch gemacht hat (BGE 137 I 69 E. 2.3; 143 II 1 E. 5.1; je mit Hinweisen). Vor Ablauf der Rechtsmittelfrist ist der Widerruf einer Verfügung jedoch nicht denselben (strengen) Voraussetzungen unterworfen, da das Gebot der Rechtssicherheit und der Vertrauensgrundsatz bis zum Eintritt der formellen Rechtskraft der Verfügung nicht die gleiche Bedeutung haben wie nach diesem Zeitpunkt. Solange die Rechtsmittelfrist nicht abgelaufen ist, darf daher die Behörde in der Regel auf eine Verfügung zurückkommen, ohne dass besondere Voraussetzungen erfüllt sein müssen (BGE 121 II 273 E. 1a/aa mit Hinweisen). Dieser Grundsatz gilt auch für Steuerveranlagungen (BGE 121 II 273 E. 1a/bb).  
 
2.2. Unter Berufung auf diese Rechtsprechung führte die Sicherheitsdirektion in ihrem Rekursentscheid vom 21. Juli 2021 zusammengefasst aus, das Strassenverkehrsamt habe dem Beschwerdeführer die Rücknahme der Verfügung vom 1. Dezember 2020 mit Schreiben vom 16. Dezember 2020 noch vor Ablauf der Rechtsmittelfrist angekündigt, weshalb er im Zeitpunkt des Ablaufs dieser Frist nicht habe darauf vertrauen dürfen, diese Verfügung erwachse in materielle Rechtskraft. Da das Vertrauen des Beschwerdeführers in den Weiterbestand der Verfügung vom 1. Dezember 2020 nicht begründet gewesen sei, werde sein Interesse an der Nichtänderung dieser Verfügung durch das Interesse an der objektiv richtigen Anwendung des Rechts überwogen. Die Wiedererwägungsverfügung vom 3. März 2021 sei daher im Lichte der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zulässig gewesen, auch wenn damit die Verfügung vom 1. Dezember 2020 zur Einräumung des rechtlichen Gehörs erst nach Ablauf der Rechtsmittelfrist formell aufgehoben worden sei.  
 
2.3. In Abweichung von dieser Beurteilung der Sicherheitsdirektion kam die Vorinstanz zum Ergebnis, das Schreiben des Strassenverkehrsamts vom 16. Dezember 2020 sei dahingehend auszulegen, dass damit als Zwischenverfügung der am 1. Dezember 2020 verfügte Ausweisentzug aufgehoben und eine neue Entzugsverfügung in Aussicht gestellt worden sei. Daran ändere nichts, dass dieses Schreiben keine Rechtsmittelbelehrung enthalte und es damit (als Verfügung) wohl unter einem Mangel leide. Der Widerruf der Verfügung vom 1. Dezember 2020 sei damit bereits am 16. Dezember 2020 innerhalb der 30-tätigen Rekursfrist und somit vor Eintritt der formellen Rechtskraft erfolgt, weshalb er gemäss der Rechtsprechung des Bundesgerichts zulässig sei (BGE 121 II 273 E. 1a/aa).  
 
2.4. Der Beschwerdeführer wendet ein, diese vorinstanzliche Schlussfolgerung beruhe auf einer unrichtigen rechtlichen Qualifikation des Schreibens des Strassenverkehrsamts vom 16. Dezember 2020. Er habe dieses Schreiben nach Treu und Glauben so verstehen dürfen, dass damit zur Gewährung des rechtlichen Gehörs die wiedererwägungsweise Aufhebung der Verfügung vom 1. Dezember 2020 und die Verlängerung der Entzugsdauer auf 12 Monate mittels einer künftigen Verfügung erst angekündigt worden sei. Dies sei durch die Verfügung des Strassenverkehrsamts vom 3. März 2021 bestätigt worden. Demnach habe er darauf vertrauen dürfen, dass die Verfügung vom 1. Dezember 2020 nach Ablauf der Rechtsmittelfrist in formelle Rechtskraft erwachsen sei. Diese Verfügung sei urteilsähnlich, weil sie gestützt auf einen zeitlich abgeschlossenen Sachverhalt (Geschwindigkeitsüberschreitung) eine Rechtsfolge (Führerausweisentzug) festlege. Solche Verfügungen könnten nach Ablauf der Rechtsmittelfrist gemäss der Lehre und Rechtsprechung nur in Wiedererwägung gezogen werden, wenn dafür Gründe vorlägen, die eine Revision eines Urteils rechtfertigen könnten. Die vorliegend nachträglich erkannte inhaltliche Rechtswidrigkeit der Verfügung vom 1. Dezember 2020 genüge dazu nicht, weshalb ihre widerrufsweise Aufhebung mit der Verfügung des Strassenverkehrsamts vom 3. März 2021 unzulässig gewesen sei.  
 
2.5. Ob die vorinstanzliche Auslegung des Schreibens des Strassenverkehrsamts vom 16. Dezember 2020 mit dem Vertrauensprinzip vereinbar ist, kann offen bleiben. Selbst wenn mit dem Beschwerdeführer davon ausgegangen würde, das Strassenverkehrsamt habe mit diesem Schreiben nur angekündigt, es werde nach dem Ablauf der zur Stellungnahme eingeräumten Frist die Verfügung vom 1. Dezember 2020 mittels einer späteren Verfügung wiedererwägungsweise aufheben und damit die Dauer des Führerausweisentzugs auf 12 Monate verlängern, hätte er aufgrund dieser vor dem Ablauf der Rechtsmittelfrist erfolgten Ankündigung auch nach dem Ablauf dieser Frist mit der in Aussicht gestellten Wiedererwägung rechnen müssen. Er durfte daher aufgrund dieses Schreibens gemäss der zutreffenden Annahme der Sicherheitsdirektion im Zeitpunkt des Ablaufs der Rechtsmittelfrist (und auch später) nicht auf den weiteren Bestand der Verfügung vom 1. Dezember 2020 vertrauen (vgl. E. 2.1 hievor). Demnach war das Strassenverkehrsamt mangels eines schützenswertens Vertrauens des Beschwerdeführers in die Beständigkeit der materiell rechtswidrigen Verfügung vom 1. Dezember 2020 grundsätzlich befugt, auf diese Verfügung zurückkommen, ohne dass die Voraussetzungen für den Widerruf von formell rechtskräftigen Verfügungen erfüllt sein müssen. Umstände, die ein Abweichen von diesem Grundsatz rechtfertigen könnten, nennt der Beschwerdeführer nicht und sind auch nicht ersichtlich. Demnach durfte die Vorinstanz bundesrechtskonform zum Ergebnis kommen, der vom Strassenverkehrsamt vorgenommene Widerruf seiner Verfügung vom 1. Dezember 2020 sei zulässig gewesen.  
 
3.  
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde abzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird der Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 3'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
 
3.  
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Strassenverkehrsamt des Kantons Zürich, Bereich Administrativmassnahmen, dem Verwaltungsgericht des Kantons Zürich, 1. Abteilung, Einzelrichter, und dem Bundesamt für Strassen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 6. März 2023 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Kneubühler 
 
Der Gerichtsschreiber: Gelzer