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Urteilskopf

103 IV 41


10. Urteil des Kassationshofes vom 12. Januar 1977 i.S. M. und N. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau

Regeste

Art. 32 Abs. 1 SVG; Geschwindigkeit:
1. Im Hinblick auf Aquaplaning. Eine Bestrafung wegen übersetzter Geschwindigkeit setzt voraus, dass die kritische Reibwertgrenze überschritten wurde. Wo die Grenze zwischen noch vorhandenem und fehlendem Reibwert liegt, lässt sich weder generell noch abstrakt, sondern nur im Einzelfall und konkret aufgrund feststehender Werte bezüglich der massgebenden Faktoren bestimmen (Erw. 2).
2. Im Hinblick auf ein Hindernis. Eine Geschwindigkeit ist nicht schon jedesmal dann übersetzt, wenn vor einem Hindernis nicht rechtzeitig angehalten werden konnte. Entscheidend ist, ob der Führer die Geschwindigkeit so bemessen hat, dass er innerhalb der als frei erkannten Strecke anhalten konnte, d.h. innerhalb der Strecke, auf der weder ein Hindernis sichtbar ist noch mit dem Auftauchen eines solchen gerechnet werden muss (Erw. 4).

Sachverhalt ab Seite 42

BGE 103 IV 41 S. 42
M. und N. führten am 12. August 1975 nach 8 Uhr ihre Personenwagen mit einer Geschwindigkeit von ca. 100 km/h in einem Abstand von ca. 100 m auf der infolge starken Regens nassen Fahrbahn der Autobahn N 1 in Richtung Zürich. Bei Killwangen fuhren sie nacheinander auf den ins Schleudern geratenen, nach mehreren Kollisionen mit den Leitplanken quer zur Fahrtrichtung auf den beiden inneren Fahrspuren der dreispurigen Strasse zum Stillstand kommenden Personenwagen der Frau R, auf.
Das Obergericht des Kantons Aargau büsste M. und N. wegen Widerhandlung gegen Art. 32 Abs. 1 SVG.
Mit Nichtigkeitsbeschwerde beantragen M. und N. Rückweisung der Sache zur Freisprechung.
Die Staatsanwaltschaft beantragt Abweisung der Beschwerden.

Erwägungen

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
I. Beschwerde M.

1. Die Vorinstanz führt aus, die Geschwindigkeit des M. von ca. 100 km/h sei - unabhängig von der Tatsache, dass er mit dem verunfallten Wagen zusammenstiess - wegen der durch den starken Regenfall hervorgerufenen Gefahr des Aquaplaning übersetzt gewesen. Dieser erfahrungsgemäss bei ca. 80 km/h einsetzenden und mit zunehmender Geschwindigkeit sich erhöhenden Gefahr müsse zum vorneherein Rechnung getragen werden.
M. wendet ein, die Auffassung der Vorinstanz, seine Geschwindigkeit habe den Gefahren des Aquaplaning nicht Rechnung getragen, werde durch die tatsächlichen Geschehnisse unmittelbar vor dem Zusammenstoss widerlegt. Die Vorinstanz stelle für diese Phase, wo die Bodenhaftung des Fahrzeuges angesichts einer plötzlich eingeleiteten Vollbremsung
BGE 103 IV 41 S. 43
unter extremsten Bedingungen einer ungewollten Prüfung ausgesetzt war, selber fest, es habe sich keine Spur von Schleudern oder Aquaplaning gezeigt.

2. a) Ob und wann bei nasser Fahrbahn sog. Aquaplaning auftritt, d.h. ein Aufschwimmen der Reifen auf einem Wasserkeil mit Verlust der Steuer- und Bremsmöglichkeit, hängt von verschiedenen Faktoren ab; der Dicke des Wasserfilms (abhängig von Dauer und Intensität des Regens und vom Oberflächenverlauf der Strasse), der Beschaffenheit des Belags (Oberflächentextur), Art und Zustand der Reifen (Profilstruktur und -tiefe, Querschnitt, Gummimischung) und der Geschwindigkeit des Fahrzeugs. Wo die Grenze zwischen noch vorhandenem und fehlendem Reibwert liegt, lässt sich daher weder generell noch abstrakt, sondern nur im Einzelfall und konkret aufgrund feststehender Werte bezüglich der massgebenden Faktoren bestimmen. Aus einem von der Staatsanwaltschaft eingereichten Bericht von Ing. Weller über von namhaften Firmen durchgeführte Versuchsreihen (Automobil-Revue vom 13. November 1975) ergibt sich, dass je nach den Verhältnissen Aquaplaning schon bei Geschwindigkeiten unter 80 km/h oder erst über 100 km/h auftreten kann. Geschwindigkeiten in diesem Bereich können also nicht generell als den Verhältnissen nicht angepasst bezeichnet werden, wie es die Vorinstanz getan hat. Etwas anderes ergibt sich auch nicht etwa aus der als Regel durchaus beherzigenswerten Empfehlung der Beratungsstelle für Unfallverhütung - worauf die Vorinstanz vermutlich abgestellt hat - bei starkem Regen 80 km/h nicht zu überschreiten. Eine Bestrafung wegen übersetzter Geschwindigkeit setzt vielmehr voraus, dass im konkreten Fall wegen der hohen Geschwindigkeit im Zusammenhang mit den übrigen massgebenden Faktoren tatsächlich die kritische Reibwertgrenze überschritten wurde. Ist nachgewiesen, dass das Fahrzeug normal gelenkt und abgebremst werden konnte, so wurde diese Grenze nicht erreicht.
b) Die Vorinstanz stellt fest, bei der von M. durchgeführten Vollbremsung habe sich "keine Spur" von Schleudern oder Aquaplaning gezeigt. So war es auch bei der von N. vorgenommenen Bremsung. Die Vorinstanz hat M. denn auch nicht wegen der an dieser, sondern vorher an anderer, nicht näher bezeichneten Stelle gefahrenen gleichen Geschwindigkeit bestraft. Inwiefern dort die für Aquaplaning bestimmenden
BGE 103 IV 41 S. 44
Bedingungen - es könnte sich nur um eine andere Beschaffenheit der Fahrbahnoberfläche und um eine verschiedene Wasserfilmdicke gehandelt haben - schlechter waren, und zwar dermassen, dass eine naheliegende und erkennbare Gefahr des Aquaplaning bestand, versäumt die Vorinstanz darzulegen.
M. ist daher freizusprechen.
II. Beschwerde N.

3. Soweit die Vorinstanz N. vorwirft, wegen der erfahrungsgemäss bei 80 km/h einsetzenden Gefahr des Aquaplaning sei auch er vor dem Unfall mit einer den Strassenverhältnissen nicht angepassten Geschwindigkeit gefahren, ist auf das vorstehend Ausgeführte zu verweisen. Wie M. ist auch ihm gegenüber dieser Vorwurf unbegründet, und er ist deshalb insoweit ebenfalls freizusprechen.

4. Die Geschwindigkeit das N. war nach Auffassung der Vorinstanz auch unmittelbar vor dem Unfall übersetzt. Als er plötzlich 40-60 m vor sich zwei Autos auf der Fahrbahn feststellte, habe er zu bremsen versucht, aber nicht mehr rechtzeitig anhalten können. Ganz unabhängig von seiner effektiven Geschwindigkeit müsse daraus gefolgert werden, dass er zu schnell fuhr, um vor einem plötzlich auftauchenden Hindernis noch rechtzeitig und ohne Kollision anhalten zu können.
Die Vorinstanz begründet ihren Schuldspruch wegen Verletzung von Art. 32 Abs. 1 SVG einzig mit der Tatsache der Kollision zwischen dem Wagen des Beschwerdeführers und jenem der Frau R. bzw. des M. Eine solche Betrachtungsweise ist nicht haltbar. Zwar trifft zu, dass derjenige, der vor einem plötzlich auftauchenden Hindernis nicht rechtzeitig anzuhalten vermag, mit bezug auf dieses zu schnell fährt, nämlich schneller als mit jener Geschwindigkeit, die ihm gerade noch ein gefahrloses Anhalten erlaubt hätte. Allein, mit dieser Feststellung ist nichts gewonnen. Art. 32 Abs. 1 SVG, der vom Fahrzeuglenker eine Anpassung der Geschwindigkeit an die Umstände, namentlich an die Strassen-, Verkehrs- und Sichtverhältnisse verlangt, stellt für die Frage nach der angemessenen Geschwindigkeit nicht darauf ab, ob vor einem Hindernis noch rechtzeitig angehalten werden konnte oder nicht. Eine
BGE 103 IV 41 S. 45
Geschwindigkeit ist deshalb nicht schon jedesmal dann übersetzt, wenn ein Anhalten nicht möglich war (vgl. BGE 99 IV 172). Für die Anwendbarkeit von Art. 32 Abs. 1 SVG ist vielmehr entscheidend, ob der Fahrzeuglenker die Geschwindigkeit so bemessen hat, dass er innerhalb der als frei erkannten Strecke anhalten konnte, d.h. innerhalb jener Strecke, auf der weder ein Hindernis sichtbar noch mit dem Auftauchen eines solchen gerechnet werden muss (BGE 99 IV 230 mit Verweisungen). Das war vorliegend der Fall. Es musste nicht damit gerechnet werden, dass innerhalb der überblickbaren Strecke von mehreren hundert Metern durch einen nach einem Schleudermanöver von der mittleren Leitplanke zurückrollenden, quer zur Fahrtrichtung auf den beiden inneren Fahrspuren zum Stillstand kommenden und einen darauf auffahrenden Personenwagen die Fahrbahn für nachfolgende Fahrzeuge blockiert würde. Solange nicht erkennbar war, dass ihm der Weg abgeschnitten wurde, bestand für N. keine Pflicht zur Herabsetzung der Geschwindigkeit im Hinblick auf ein eventuelles solches Ereignis. Der Vorwurf, die Geschwindigkeit unmittelbar vor dem Unfall nicht den Umständen angepasst zu haben, ist daher unbegründet, und N. auch insoweit freizusprechen.

Dispositiv

Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Nichtigkeitsbeschwerden werden gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 9. Juni 1976 aufgehoben und die Sache zur Freisprechung der Beschwerdeführer an die Vorinstanz zurückgewiesen.

Inhalt

Ganzes Dokument
Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 1 2 3 4

Dispositiv

Referenzen

BGE: 99 IV 172, 99 IV 230

Artikel: Art. 32 Abs. 1 SVG