Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Grössere Schrift
 
 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
8C_461/2015  
   
   
 
 
 
Urteil vom 2. November 2015  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin, 
Bundesrichter Frésard, Maillard, 
Gerichtsschreiber Jancar. 
 
Verfahrensbeteiligte 
 A.________, 
handelnd durch B.________, 
und diese vertreten durch Integration Handicap, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Zürich, 
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Hilflosenentschädigung; Revision), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 19. Mai 2015. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Die am 2. März 2012 geborene A.________ leidet am Aicardi-Syndrom mit/bei symptomatischer BNS-Epilepsie und hochpathologischem EEG mit Hypsarrhythmie, an einer schweren Hirnfehlbildung und an einer Augenfehlbildung bzw. an den Geburtsgebrechen Nr. 381, 387, 395, 415, 418, 419 und 423. Mit unangefochten in Rechtskraft erwachsener Verfügung vom 18. Dezember 2012 gewährte ihr die IV-Stelle des Kantons Zürich ab 5. April 2012 eine Hilflosenentschädigung bei leichter Hilflosigkeit. Am 20. März 2013 stellte die Versicherte ein Revisionsgesuch. Die IV-Stelle holte einen Abklärungsbericht vom 22. Januar 2014 ein. Mit Verfügung vom 13. Februar 2014 wies die IV-Stelle das Gesuch um rückwirkende Erhöhung der Hilflosenentschädigung ab; sie sprach der Versicherten ab 1. Februar 2014 eine Hilflosenentschädigung bei mittelschwerer Hilflosigkeit und einen Intensivpflegezuschlag von 4 Stunden zu. 
 
B.   
In teilweiser Gutheissung der hiegegen erhobenen Beschwerde änderte das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich die Verfügung dahingehend ab, als es feststelle, dass der Anspruch auf einen Intensivpflegezuschlag von mindestens 4 Stunden ab 1. Juli 2013 bestehe (Entscheid vom 19. Mai 2015). 
 
C.   
Mit Beschwerde beantragt die Versicherte, in Aufhebung des kantonalen Entscheids sei ihr bereits ab 1. Juni 2013, eventuell ab 1. Juli 2013, eine Hilflosenentschädigung bei einer mittelschweren Hilflosigkeit zu gewähren. 
 
Die IV-Stelle schliesst auf Beschwerdeabweisung. Gleiches tut das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) mit Eingabe vom 15. September 2015, wozu die Versicherte am 21. September 2015 Stellung nimmt. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Mit der Beschwerde kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren beanstandeten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1 S. 389). Es kann die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG in Verbindung mit Art. 105 Abs. 2 BGG). Rechtsfragen sind die vollständige Feststellung erheblicher Tatsachen sowie die Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes bzw. der Beweiswürdigungsregeln nach Art. 61 lit. c ATSG und der Anforderungen an den Beweiswert von Arztberichten (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232). Die auf einen Abklärungsbericht an Ort und Stelle (BGE 140 V 543 E. 3.2.1 S. 547) gestützten Feststellungen über Einschränkungen in bestimmten Lebensverrichtungen bzw. den daraus resultierenden Betreuungsaufwand betreffen - wie die entsprechenden ärztlichen Angaben - Tatfragen; Gleiches gilt für die konkrete Beweiswürdigung (nicht publ. E. 1 des Urteils BGE 135 V 306; SVR 2009 IV Nr. 30 S. 85 E. 3.2 [9C_431/2008]; Urteil 8C_641/2013 vom 23. Dezember 2013 E. 1). 
 
2.   
Die Vorinstanz hat die Grundlagen über die Hilflosenentschädigung (Art. 9 ATSG; Art. 42 Abs. 1 IVG; Art. 37 IVV) und die massgebenden sechs alltäglichen Lebensverrichtungen (BGE 133 V 450 E. 7.2 S. 463, 121 V 88 E. 3b S. 90) richtig dargelegt. Darauf wird verwiesen. 
 
3.   
Streitig und zu prüfen ist, ob die Versicherte bereits ab 1. Juni 2013, eventuell ab 1. Juli 2013, Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung bei mittelschwerer Hilflosigkeit hat. 
 
3.1. Mit rechtskräftiger Verfügung vom 18. Dezember 2012 gewährte die IV-Stelle der Versicherten ab 5. April 2012 eine Hilflosenentschädigung bei leichter Hilflosigkeit im Sonderfall aufgrund eingeschränkter Sehfähigkeit; zudem führte sie aus, ab Januar 2013 bestehe eine Hilflosigkeit in der alltäglichen Lebensverrichtung Aufstehen/Absitzen/Abliegen, was aber für eine Hilflosenentschädigung bei mittelschwerer Hilflosigkeit nicht genüge In der strittigen Verfügung vom 13. Februar 2014 taxierte die IV-Stelle die Versicherte ab November 2013 in den vier alltäglichen Lebensverrichtungen Ankleiden/Auskleiden, Aufstehen/Absitzen/Abliegen, Essen und Fortbewegung als hilfsbedürftig und ging deshalb ab 1. Februar 2014 von einer Hilflosenentschädigung bei mittelschwerer Hilflosigkeit aus (vgl. Art. 88a Abs. 2 IVV).  
 
3.2. Die Vorinstanz erwog, ab April 2013 bestehe ein relevanter Mehraufwand bei der Nahrungsaufnahme. Der Bereich der Fortbewegung sei ab März 2013 zu berücksichtigen. Gemäss Rz. 8035 des vom BSV herausgegebenen Kreisschreibens über Invalidität und Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung (KSIH) sei unter der dauernden persönlichen Überwachung eine "medizinische oder pflegerische Hilfeleistung" zu verstehen. Deren Notwendigkeit sei von Frau Dr. med. C.________, Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin, Regionaler Ärztlicher Dienst (RAD) der IV-Stelle, im Bericht vom 13. Dezember 2012 verneint worden, weshalb die Nichtanerkennung durch die IV-Stelle richtig sei.  
 
4.  
 
4.1. Die Versicherte bringt vor, die Vorinstanz habe den Bedarf an dauernder persönlicher Überwachung zu Unrecht verneint. Sie leide an starker Epilepsie mit zahlreichen Anfällen pro Tag. Da sie zudem muskulär hypoton und zu keiner Bewegung in der Lage sei, bestehe bei einem Anfall eine erhöhte Aspirationsgefahr. Zudem benötige sie praktisch täglich, sobald ein Anfall etwas länger dauere, gezielt Medikamente. Entgegen der Vorinstanz müsse die medizinische oder pflegerische Hilfeleistung nicht durch Medizinalpersonen ausgeführt werden. Massgebend sei, ob der Überwachungsbedarf aus medizinischer Sicht ausgewiesen sei, was vom RAD am 13. Dezember 2012 klar bestätigt worden sei. Damit bestehe seit Dezember 2012 - neben der leichten Hilflosigkeit aufgrund der Sehbehinderung - der Bedarf an dauernder persönlicher Überwachung. Hinzu komme ab Januar 2013 eine Hilflosigkeit beim Aufstehen/Absitzen und gemäss der Vorinstanz ab März 2013 eine solche bei der Fortbewegung. Demnach sei ab März 2013 eine mittelschwere Hilflosigkeit ausgewiesen, sodass ihr ab Juni 2013 eine Hilflosenentschädigung bei mittelschwerer Hilflosigkeit zustehe.  
 
4.2. Das BSV räumt ein, dass die dauernde persönliche Überwachung nach Art. 37 IVV (hierzu vgl. BGE 107 V 136 E. 1b S. 139; SVR 2015 IV Nr. 30 S. 92 E. 5.2.1 [9C_598/2014]) - entgegen der Vorinstanz - nicht durch Medizinalfachpersonen ausgeübt werden muss. Dem ist beizupflichten. Diese Überwachung kann vielmehr durch die Eltern der versicherten Person erbracht werden (vgl. SVR 2012 IV Nr. 54 S. 195 E. 3.2 [8C_756/2011]; Urteil I 72/05 vom 6. Oktober 2005 E. 3.1; siehe auch AHI 2003 S. 330 und Urteil I 386/06 vom 1. März 2007 E. 6.2).  
 
4.3.  
 
4.3.1. Das BSV wendet aber ein, entgegen der Versicherten führe der Überwachungsbedarf aus medizinischer Sicht (auch seitens des RAD) nicht automatisch zur Anerkennung der Überwachung im Sinne der Hilflosenentschädigung. Die Notwendigkeit der Überwachung sei aus medizinischer Sicht sicher angebracht. Bei Minderjährigen sei indessen nur der Mehrbedarf an Hilfeleistungen und persönlicher Überwachung im Vergleich zu nicht behinderten Minderjährigen gleichen Alters zu berücksichtigen (Art. 37 Abs. 4 IVV). Gemäss Anhang III des KSIH könne die Überwachung im Normalfall erst ab 6 Jahren berücksichtigt werden. Natürlich seien Abweichungen möglich, wenn besondere Schwierigkeiten vorlägen. Die ab 1. Januar 2015 gültige KSIH-Version sage explizit, dass bei Kindern mit häufigen Epilepsie-Anfällen oder Absenzen - je nach Schwergrad und Situation - die Überwachung schon ab 4 Jahren anerkannt werden könne. Dies bedeute umgekehrt, dass eine Überwachung bei Epilepsie in keinem Fall vor 4 Jahren berücksichtigt werden dürfe. Diese Altersangaben seien vorgängig der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie unterbreitet und von dieser gebilligt worden. Es könne somit davon ausgegangen, dass es medizinisch (resp. wissenschaftlich und fachlich) anerkannt sei, dass auch bei ausgewiesener Überwachungsbedürftigkeit bei Epilepsie diese frühestens ab 4 Jahren zu einem Mehrbedarf an Überwachung im Vergleich zu nicht behinderten Minderjährigen führe. Bei der Beschwerdeführerin werde in den Arzt-, Kinderspitex- und Abklärungsberichten angegeben, dass sie eine Überwachung wegen Epilepsie und Aspirationsproblemen brauche. Es gebe jedoch keine Anzeichen dafür, dass diese Überwachung ein Ausmass annehme, das eine Ausnahme von den Richtlinien zu begründen vermöge.  
 
4.3.2. Diese Argumentation überzeugt nicht. Zum einen stützt sich das BSV auf eine Version des KSIH mit Anhängen, die zur Zeit des Erlasses der strittigen Verfügung vom 13. Februar 2014 noch nicht in Kraft war. Die ab 1. Januar 2014 bis 31. Dezember 2014 gültig gewesene Version des KSIH-Anhangs III - "Richtlinien zur Bemessung der massgebenden Hilflosigkeit bei Minderjährigen" - sah hinsichtlich des Bedarfs an persönlicher Überwachung u.a. bei Kindern mit häufigen Epilepsie-Anfällen oder Absenzen kein Mindestalter von 4 Jahren vor (vgl. auch SVR 2009 IV Nr. 30 S. 85 E. 4.4.1 [9C_431/2008]). Weiter ist mit der Beschwerdeführerin auf die Rechtsnatur des KSIH hinzuweisen. Diesem kommt als Verwaltungsweisung für das Bundesgericht keine Verbindlichkeit zu (statt vieler: BGE 140 V 543 E. 3.2.2.1 S. 447 mit Hinweisen). Im Übrigen wird sowohl in der hier anwendbaren wie auch in der seit 1. Januar 2015 geltenden Fassung der genannten Richtlinie deren Verbindlichkeitswirkung relativiert, indem eingangs ausgeführt wird, "bei den folgenden Richtlinien handelt es sich bei den Altersangabe um Orientierungswerte, die nicht in jedem Fall absolut anzuwenden sind. In den meisten Fällen kann es "normale" resp. nicht pathologisch (krankheits-) bedingte Abweichungen von den Zeitangaben sowohl nach oben als auch nach unten geben. Sie sind bei der Bemessung der Hilfsbedürftigkeit nicht zu berücksichtigen. In diesem Sinne sind die Richtlinien flexibel zu handhaben."  
 
4.3.3. Die vom BSV angeführte Altersgrenze vermag dem hier zu beurteilenden Einzelfall eines schwerstbehinderten, u.a. an Epilepsie leidenden Kindes (vgl. Sachverhalt lit. A) nicht gerecht zu werden, weshalb darauf nicht abgestellt werden kann. Die Ärzte des Kinderspitals D.________, legten nämlich im Bericht vom 23. November 2012 dar, bei der Versicherten bestehe eine schwere Hirnfehlbildung, die sich in einer schweren Mehrfachbehinderung äussere. Dazu gehöre eine Bewegungsstörung, die sich in einer Tetraspastik zeige; zudem sei die Versicherte im Rumpf hypoton. Sie gingen davon aus, dass sie nicht erlernen werde, sich fortzubewegen oder zu laufen. Zudem bestehe eine schwere Augenfehlbildung. Sie gingen davon aus, dass eine schwere Sehbehinderung/Blindheit vorliege. In allen Bereichen lägen schwere Defizite im Sinne einer schweren globalen Entwicklungsstörung, auch kognitiv, vor, so dass die Versicherte jetzt und in Zukunft in allen Bereichen des Alltags auf intensive und dauerhafte Hilfe angewiesen sein werde. Die RAD-Ärztin Frau Dr. med. C.________ führte im Bericht vom 13. Dezember 2012 aus, bei der Versicherten mache die Kombination der muskulären Hypertonie mit der Epilepsie die Lagerung noch wichtiger, weil bei einem Anfall eine etwas erhöhte Aspirationsgefahr bestehe; aus medizinischer Sicht sei es daher notwendig, dass immer eine Person in ihrer Nähe sei (vgl. auch ZAK 1989 S. 170 E. 3b S. 174). Gestützt auf diese Berichte ist davon auszugehen, dass die Versicherte einer dauernden persönlichen Überwachung im Rechtssinne bedarf.  
 
4.4. Nach dem Gesagten war die Beschwerdeführerin ab Dezember 2012 überwachungsbedürftig sowie ab Januar 2013 beim Aufstehen/ Absitzen (E. 3.1 hievor) und ab März 2013 bei der Fortbewegung (E. 3.2 hievor) hilfsbedürftig. Demnach hat sie ab 1. Juni 2013 Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung bei mittelschwerer Hilflosigkeit (Art. 37 Abs. 2 lit. b, Art. 88a Abs. 2 IVV).  
 
5.   
Die unterliegende IV-Stelle trägt die Verfahrenskosten (Art. 66 Abs. 1, Art. 68 Abs. 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 19. Mai 2015 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 13. Februar 2014 werden insofern abgeändert, als festgestellt wird, dass die Versicherte ab 1. Juni 2013 Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung bei einer Hilflosigkeit mittleren Grades hat. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen. 
 
4.   
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich zurückgewiesen. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 2. November 2015 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Leuzinger 
 
Der Gerichtsschreiber: Jancar