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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_293/2022  
 
 
Urteil vom 1. März 2023  
 
III. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichter Stadelmann, 
Bundesrichterin Moser-Szeless, 
Gerichtsschreiberin Keel Baumann. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Andreas Dobler, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
Sanitas Grundversicherungen AG, 
Rechtsdienst, Jägergasse 3, 8004 Zürich, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Krankenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 9. März 2022 (VV.2021.44). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. Die 1974 geborene A.________ litt an einer Genderdysphorie im Sinne einer Mann-zu-Frau-Transsexualität. Am 8. August 2018 erhielt sie von der Sanitas Grundversicherungen AG (nachfolgend: Sanitas) eine Kostengutsprache für eine geschlechts- bzw. genitalangleichende Operation (Sex Reassignment Surgery [SRS]) am Spital B.________. Darauf Bezug nehmend wandte sich Dr. med. univ. Dr. phil. C.________, Leitende Ärztin der medizinischen Fachstelle für Transgenderpersonen, in einem Schreiben vom 7. Juli 2019 an die Sanitas und ersuchte im Namen von A.________ um Kostengutsprache für eine SRS-Operation in einer Klinik in Thailand. Zur Begründung führte sie an, die dort angewandte Operationstechnik sei der Goldstandard und insbesondere der in der Schweiz praktizierten Penis-Inversions-Methode mit ihren Komplikationen deutlich überlegen. Die Sanitas teilte A.________ mit, nach Prüfung durch ihren vertrauensärztlichen Dienst könne sie keinen Beitrag für die SRS-Operation in Thailand ausrichten. Ihre ablehnende Haltung begründete sie damit, dass die Operation in der Schweiz (am Spital B.________) durchgeführt werden könne und die Versicherungsdeckung eine Wunschbehandlung im Ausland ausschliesse (Schreiben vom 19. September 2019).  
 
A.b. Der von A.________ neu mandatierte Rechtsvertreter orientierte die Sanitas am 17. Dezember 2019 darüber, dass die SRS-Operation zwischenzeitlich in Thailand stattgefunden habe, und ersuchte um Erlass einer anfechtbaren Verfügung. Mit Verfügung vom 16. Januar 2020 verneinte die Sanitas einen Anspruch auf Kostenübernahme für die SRS-Operation in Thailand. Zur Begründung gab sie an, dass der Eingriff in der Schweiz in verschiedenen Spitälern durchgeführt werde und sich die Behandlungen in der Schweiz und in Thailand nicht wesentlich unterschieden, weshalb eine Operation in der Schweiz keine erheblich höheren Risiken mit sich bringe. Daran hielt sie auf Einsprache von A.________ hin fest (Entscheid vom 27. Januar 2021).  
 
B.  
 
B.a. Beschwerdeweise liess A.________ beantragen, der Einspracheentscheid sei aufzuheben. Die Sanitas habe die Kosten für die SRS-Operation im Spital D.________ in Thailand, vom 2. November 2019 zu übernehmen und ihr zu vergüten. Insbesondere habe sie Fr. 18'289.11, eventualiter THB 559'000.00, zuzüglich 5 % Zins ab 1. November 2019 für die Operation zu übernehmen und ihr zu vergüten.  
 
B.b. Das angerufene Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau ersuchte das Bundesamt für Gesundheit (BAG) und das Bundesamt für Statistik (BFS) um Mitteilung der jährlichen Operationszahlen betreffend Vaginalplastiken der Leistungserbringer in der Schweiz für die Jahre 2016 bis 2019, idealerweise gesondert nach Jahr, Leistungserbringer (eventuell Operateur) und angewandter Operationstechnik (Schreiben vom 4. Oktober 2021). In Absprache mit dem BAG übermittelte das BFS am 2. November 2021 die verfügbaren Zahlen, wobei es darauf hinwies, dass es Angaben zur Aufteilung der Fälle nach Leistungserbringer aufgrund des Bundesstatistikgesetzes (SR 431.01) und des Bundesgesetzes über den Datenschutz (SR 235.1) nicht publizieren dürfe. Den Parteien wurde die Gelegenheit gegeben, zum Schreiben des BFS vom 2. November 2021 Stellung zu nehmen. Während die Sanitas darauf verzichtete (Eingabe vom 10. November 2021), machte A.________ davon Gebrauch (Eingabe vom 12. November 2021).  
 
B.c. Mit Entscheid vom 9. März 2022 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau die Beschwerde ab.  
 
C.  
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und subsidiäre Verfassungsbeschwerde führen und die Aufhebung des Entscheides vom 9. März 2022 beantragen. Sie erneuert das im kantonalen Verfahren gestellte Rechtsbegehren. Weiter beantragt sie eventualiter die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zu neuer Entscheidung, subeventualiter an die Sanitas zur weiteren Abklärung und neuen Verfügung. Die Sanitas und das Bundesamt für Gesundheit verzichten auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Angefochten ist ein das Verfahren abschliessender Entscheid (Art. 90 BGG) eines kantonalen Gerichts (Art. 86 Abs. 1 lit. d BGG) in einer Angelegenheit des öffentlichen Rechts (Art. 82 lit. a BGG), ohne dass eine der in Art. 83 BGG aufgezählten Ausnahmen vorliegt. Damit steht die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten grundsätzlich offen und ist auf die subsidiäre Verfassungsbeschwerde nicht einzutreten.  
 
1.2. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 145 V 57 E. 4.2). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG).  
 
2.  
Streitig ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie eine Leistungspflicht der Beschwerdegegnerin im Zusammenhang mit der in Thailand durchgeführten SRS-Operation verneinte. 
 
3.  
Die von der Beschwerdeführerin vorgebrachte Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs ist aufgrund ihrer formellen Natur vorab zu prüfen (Art. 29 Abs. 2 BV; BGE 144 I 11 E. 5.3). 
 
3.1. Die Parteien haben im verwaltungs- und im verwaltungsgerichtlichen Verfahren Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV). Dessen Verletzung führt ungeachtet der materiellen Begründetheit des Rechtsmittels zur Gutheissung der Beschwerde und zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids (BGE 144 I 11 E. 5.3; 137 I 195 E. 2.2 mit Hinweis). Nach der Rechtsprechung kann eine nicht besonders schwerwiegende Verletzung des rechtlichen Gehörs als geheilt gelten, wenn die betroffene Person die Möglichkeit erhält, sich vor einer Beschwerdeinstanz zu äussern, die sowohl den Sachverhalt als auch die Rechtslage frei überprüfen kann (BGE 142 II 218 E. 2.8.1; 135 I 279 E. 2.6.1).  
Das rechtliche Gehör dient einerseits der Sachaufklärung, anderseits stellt es ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht beim Erlass eines Entscheides dar, welcher in die Rechtsstellung des Einzelnen eingreift. Dazu gehört insbesondere das Recht des Betroffenen, sich vor Erlass eines solchen Entscheids zur Sache zu äussern, erhebliche Beweise beizubringen und Einsicht in die Akten zu nehmen. Der Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst als Mitwirkungsrecht somit alle Befugnisse, die einer Partei einzuräumen sind, damit sie in einem Verfahren ihren Standpunkt wirksam zur Geltung bringen kann (BGE 144 I 11 E. 5.3; 140 I 99 E. 3.4; 135 II 286 E. 5.1). Sodann zählt zum Gehörsanspruch auch die Pflicht der Behörde, ihren Entscheid angemessen zu begründen. Die Vorbringen der Betroffenen sind ernsthaft zu prüfen und in der Entscheidfindung angemessen zu berücksichtigen. Dabei muss sich die Behörde nicht mit allen Parteistandpunkten einlässlich auseinandersetzen und jedes einzelne Vorbringen ausdrücklich widerlegen; vielmehr genügt es, wenn der Entscheid gegebenenfalls sachgerecht angefochten werden kann (BGE 142 II 49 E. 9.2; 137 II 266 E. 3.2; 136 I 184 E. 2.2.1; je mit Hinweisen). Die Begründung muss kurz die wesentlichen Überlegungen nennen, von denen sich das Gericht hat leiten lassen und auf die es seinen Entscheid stützt (BGE 142 III 433 E. 4.3.2; 141 III 28 E. 3.2.4; 139 V 496 E. 5.1; je mit Hinweisen). 
 
3.2. Wie die Beschwerdeführerin zu Recht geltend macht, setzte sich das kantonale Gericht mit den von ihr substanziiert erhobenen Rügen, wonach ihr Anspruch auf rechtliches Gehör und der Untersuchungsgrundsatz verletzt worden seien, im angefochtenen Entscheid nicht einmal ansatzweise auseinander. Es erwähnte diese zwar im Sachverhalt, als Teil der (neben den Rechtsbegehren) zusammengefasst wiedergegebenen Beschwerde- und Replikbegründung, unterliess es dann aber, ihnen im Rahmen der Erwägungen Rechnung zu tragen und sie in seiner Entscheidfindung zu berücksichtigen. So befasste es sich namentlich nicht mit dem beschwerdeführerischen Vorbringen, wonach eine vertrauensärztliche Beurteilung als wesentliche Grundlage für den Entscheid über die Kostenübernahme nie stattgefunden habe. Dabei hatte die Beschwerdeführerin diesen Einwand einlässlich und nachvollziehbar damit begründet, dass die Beschwerdegegnerin in der Verfügung vom 16. Januar 2020 auf eine Prüfung durch den Vertrauensarzt Dr. med. E.________ verwiesen habe, eine solche aber in den einverlangten, am 21. Januar 2020 übermittelten Akten nicht vorhanden gewesen und ihr auch auf ausdrückliche Nachfrage hin nicht zugestellt worden sei, und dass die Beschwerdegegnerin sodann im Einspracheentscheid vom 27. Januar 2021 den entsprechenden Einwand schlicht ignoriert und die entsprechende Abklärung nicht mehr als Entscheidungsgrundlage herangezogen habe. Ebenso wenig bezog das kantonale Gericht Stellung zu der von der Beschwerdeführerin replikweise geltend gemachten weiteren Gehörsverletzung, wonach gemäss der Beschwerdeantwort zwar (zu einem unbekannten Zeitpunkt) Anfragen bei verschiedenen Leistungserbringern erfolgt seien, aber nur ein einziger (nicht namentlich genannter) eine Rückmeldung gemacht habe, wobei auch dieses Ergebnis vorenthalten werde und die Akten selbst dem kantonalen Gericht offensichtlich nur auszugsweise vorlägen. Und schliesslich finden sich im angefochtenen Entscheid auch keine Ausführungen zum Einwand, wonach es der Beschwerdeführerin nicht zumutbar sei, sich bei Leistungserbringern behandeln zu lassen, welche ihrer gesetzlichen Aufklärungspflicht gegenüber den Patienten nicht nachkämen und Versicherern sowie Gerichten die entscheidwesentlichen Tatsachen für die Beurteilung der Leistungspflicht bewusst vorenthalten würden.  
 
3.3. Indem das kantonale Gericht eine Prüfung dieser in der Beschwerde und in der Replik ausführlich, klar und detailliert geltend gemachten Verfahrensmängel unterliess, verletzte es den Gehörsanspruch der Beschwerdeführerin. Eine Heilung im letztinstanzlichen Verfahren fällt angesichts der eingeschränkten Kognition des Bundesgerichts in tatsächlicher Hinsicht (Art. 105 BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG) von vornherein ausser Betracht (vgl. E. 3.1 hiervor). Damit ist der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen, ohne dass die von der Beschwerdeführerin vorgebrachten materiellrechtlichen Einwände zu prüfen wären.  
 
4.  
Hinsichtlich der Prozesskosten gilt die Rückweisung der Sache zu neuem Entscheid praxisgemäss als volles Obsiegen (BGE 141 V 281 E. 11.1). Die Beschwerdegegnerin hat damit die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG) und der anwaltlich vertretenen Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Auf die subsidiäre Verfassungsbeschwerde wird nicht eingetreten. 
 
2.  
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 9. März 2022 wird aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen. 
 
3.  
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
4.  
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
5.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 1. März 2023 
 
Im Namen der III. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Die Gerichtsschreiberin: Keel Baumann