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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
9C_611/2020  
 
 
Urteil vom 2. Februar 2021  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichter Stadelmann, Bundesrichterin Glanzmann, 
Gerichtsschreiberin Keel Baumann. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, vertreten durch Rechtsanwalt Philip Stolkin, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Krankenkasse Schweizerischer Metallbaufirmen, Dielsdorferstrasse 1, 8173 Neerach, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Krankenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 19. August 2020 (KV.2019.00020). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. Der 1984 geborene A.________ war bis 31. Juli 2015 (Kündigung durch die Arbeitgeberin vom 22. Juni 2015) bei der B.________ AG angestellt und dadurch bei der Krankenkasse Schweizerischer Metallbaufirmen (KSM) im Rahmen einer Kollektiv-Krankentaggeldversicherung nach KVG versichert.  
 
A.b. Am 6. September 2013 verunfallte A.________ bei der Arbeit; er zog sich ein Quetschtrauma am linken Daumen und am rechten Fuss zu. Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva) kam für die Heilbehandlung auf und erbrachte Taggelder. Mit Wirkung auf 31. Mai 2015 stellte sie die Taggeldleistungen ein mit der Begründung, es sei keine namhafte Besserung des Gesundheitszustandes mehr zu erwarten.  
 
A.c. Die IV-Stelle des Kantons Zürich erteilte A.________ Kostengutsprache für eine Umschulung zum Kaufmann und anschliessend zum Technischen Kaufmann, wobei er nur Erstere erfolgreich abschloss. Des Weitern leistete sie Taggelder (vom 7. Juli 2015 bis 16. August 2016 und vom 1. Juli 2017 bis 31. Oktober 2018).  
 
A.d. Auf die am 30. Juli 2015 erfolgte Anmeldung zum Krankentaggeldbezug hin teilte die KSM A.________ am 17. August 2015 mit, es bestehe für sie als Krankentaggeldversicherer kein Handlungsbedarf mit Blick darauf, dass die Suva von einer unfallbedingten gesundheitlichen Beeinträchtigung ausgehe und von einem mangelnden Kausalzusammenhang zum Unfallereignis keine Rede sei. Am 20. August 2015 wiederholte A.________ sein Begehren um Entgegennahme der Schadenmeldung und ersuchte unter Hinweis auf die erfolgte Kündigung des Arbeitsvertrages um eine Offerte für den Übertritt in die Einzelversicherung und Bekanntgabe der entsprechenden Konditionen. Die KSM hielt an ihrem Standpunkt betreffend ihre Leistungspflicht fest und liess dem Versicherten eine Offerte für den Übertritt in die Einzelversicherung zukommen.  
Am 8. September 2015 leitete der Versicherte gegen die KSM die Betreibung über den Betrag von Fr. 500'000.- ein. Die KSM erhob gegen den Zahlungsbefehl in der Betreibung Nr. xxx des Betreibungsamtes C.________ Rechtsvorschlag und reichte am 4. Dezember 2015 gegen A.________ beim Friedensrichteramt D.________ eine entsprechende negative Feststellungsklage ein. Am 28. Januar 2016 einigten sich die Parteien vergleichsweise darauf, dass die KSM auf die Einrede der Verjährung längstens bis zum Ablauf der Verjährungsfrist (5 Jahre, bis 6. September 2018) verzichtet und A.________ die Betreibung zurückzieht und löschen lässt. 
Am 5. September 2018 ersuchte der Versicherte die KSM um Verjährungsverzicht bis zum 6. September 2020, was diese ablehnte. Als A.________ am 12. September 2018 erneut die Betreibung einleitete (Nr. yyy), erhob die KSM gegen den Zahlungsbefehl wiederum Rechtsvorschlag. Mit Verfügung vom 10. Oktober 2018 stellte die KSM fest, dass sie den in Betreibung gesetzten Betrag von Fr. 500'000.- nicht schuldet. Daran hielt sie auf Einsprache des Versicherten hin fest (Entscheid vom 7. Januar 2019). 
 
B.   
Beschwerdeweise liess A.________ beantragen, der Einspracheentscheid vom 7. Januar 2019 sei aufzuheben und die grundsätzliche Leistungspflicht der KSM zu bejahen. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich holte die Akten der Invalidenversicherung und der Arbeitslosenversicherung ein. Auf entsprechende Aufforderung hin reichte A.________ das Kündigungsschreiben der Arbeitgeberin vom 22. Juni 2015 ein. Mit Entscheid vom 19. August 2020 wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich die Beschwerde ab. 
 
C.   
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und das Rechtsbegehren stellen, der kantonale Entscheid sei aufzuheben. Die KSM sei anzuweisen, die Taggelder im Sinne des Geldmaximums auszubezahlen. Eventualiter sei die Angelegenheit an die Vorinstanz zur weiteren Behandlung zurückzuweisen. Es sei ihm die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1 S. 389). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.   
Im angefochtenen Entscheid wurde - letztinstanzlich unbestritten und für das Bundesgericht verbindlich (E. 1) - festgestellt, dass der Beschwerdeführer keine der ihm von der Beschwerdegegnerin unterbreiteten Offerten angenommen hat, womit sein Versicherungsschutz mit dem Austritt aus dem Kreis der Kollektivversicherten auf 31. Juli 2015 endete. 
 
3.   
Streitig und zu prüfen bleibt, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie einen Anspruch des Beschwerdeführers auf Krankentaggelder aus dem zwischen seiner Arbeitgeberin und der Beschwerdegegnerin geschlossenen kollektiven Krankentaggeldversicherungsvertrag verneinte. 
 
4.  
 
4.1. Gemäss Art. 72 Abs. 2 KVG entsteht der Taggeldanspruch, wenn die versicherte Person mindestens zur Hälfte arbeitsunfähig (Art. 6 ATSG) ist. In Abweichung davon sieht die Beschwerdegegnerin in ihren Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) Kollektivtaggeldversicherung nach KVG (Ausgabe 2012) einen Taggeldanspruch bei einer Arbeitsunfähigkeit von mindestens 25 % vor (Art. 14 Ziff. 1 AVB). Das Taggeld ist für eine oder mehrere Erkrankungen während mindestens 720 Tagen innerhalb von 900 Tagen zu leisten; Art. 67 ATSG ist nicht anwendbar (Art. 72 Abs. 3 KVG). Bei teilweiser Arbeitsunfähigkeit wird ein entsprechend gekürztes Taggeld ausbezahlt (Art. 72 Abs. 4 KVG; Art. 16 Ziff. 2 AVB). Das versicherte Taggeld wird nach Ablauf der gewählten Wartefrist ausgerichtet, wobei Tage mit teilweiser Arbeitsunfähigkeit für die Berechnung der Wartefrist als ganze Tage angerechnet werden (Art. 17 Ziff. 1 AVB).  
 
4.2. Nach Art. 6 AVB gewährt die KSM den Versicherungsschutz gegen die Risiken Krankheit und Mutterschaft, falls nichts anderes vereinbart worden ist (Ziff. 1). Das Unfallrisiko ist nur gedeckt, sofern dies im Versicherungsvertrag ausdrücklich festgehalten ist. Der Leistungsumfang für Unfall entspricht demjenigen bei Krankheit (Ziff. 2). Im hier zu beurteilenden Fall ist die Taggeldversicherung auf Krankheit beschränkt, wie sich aus der entsprechenden Police ergibt. Da mithin die unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit keinen Taggeldanspruch verleiht, ist bei einer Arbeitsunfähigkeit, die teilweise auf Unfall und teilweise auf Krankheit zurückgeht, ein Krankentaggeld nur in dem Ausmass geschuldet, als die Arbeitsunfähigkeit auf Krankheit beruht (vgl. Urteil 9C_537/2007 vom 29. August 2008 E. 2.1).  
 
5.   
 
5.1. Die Vorinstanz verneinte einen Anspruch des Beschwerdeführers auf Krankentaggelder der KSM mit der Begründung, in der zwischen der Einstellung der Unfalltaggelder durch die Suva (bis zu welchem Zeitpunkt nur eine unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit zur Diskussion stand) und dem Ende des Versicherungsschutzes bei der KSM, d.h. in der Zeit vom 1. Juni bis 31. Juli 2015, habe keine die Arbeitsfähigkeit einschränkende Krankheit vorgelegen.  
 
5.2. Der Beschwerdeführer macht eine Verletzung der Bestimmung des Art. 72 Abs. 5 KVG geltend und hält die KSM für leistungspflichtig. Er bringt vor, der Taggeldanspruch sei zufolge Überentschädigung aufgeschoben worden und nach Abbruch der Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung wieder aufgelebt. Die Vorinstanz habe eine fortbestehende Arbeitsunfähigkeit, welche den Taggeldanspruch auslösen würde, zu Unrecht verneint. Sie habe ihrem Entscheid die Berichte des Hausarztes und des Kreisarztes zugrunde gelegt und eigene Abklärungen zu seiner Arbeitsfähigkeit unterlassen, obwohl sie solche aufgrund des Untersuchungsgrundsatzes hätte vornehmen müssen.  
 
5.2.1. Der Untersuchungsgrundsatz (Art. 61 lit. c ATSG) verpflichtet das Sozialversicherungsgericht, von Amtes wegen für die richtige und vollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts zu sorgen. Die Verwaltung als verfügende Instanz und - im Beschwerdefall - das Gericht dürfen eine Tatsache als bewiesen annehmen, wenn sie von ihrem Bestehen überzeugt sind. Im Sozialversicherungsrecht hat das Gericht seinen Entscheid, sofern das Gesetz nicht etwas Abweichendes vorsieht, nach dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit zu fällen. Die blosse Möglichkeit eines bestimmten Sachverhalts genügt den Beweisanforderungen nicht. Das Gericht hat vielmehr jener Sachverhaltsdarstellung zu folgen, die es von allen möglichen Geschehensabläufen als die wahrscheinlichste würdigt (BGE 144 V 427 E. 3.2 S. 429 f.; 138 V 218 E. 6 S. 221 f.).  
 
5.2.2. Die Vorinstanz stellte gestützt auf den Bericht über die kreisärztliche Abschlussuntersuchung vom 16. März 2015 fest, dass der Versicherte aufgrund von körperlichen Beschwerden, die auf den Unfall zurückzuführen sind, in der angestammten Tätigkeit vollständig arbeitsunfähig war. Die Stellungnahme des Hausarztes med. pract. E.________, welcher neben den somatischen auch psychische Leiden diagnostizierte, die sich inzwischen stabilisiert hätten, und dem Versicherten als Metallbauer bis 22. Juni 2015 eine vollständige Arbeitsunfähigkeit attestierte (Bericht vom 28. April 2015), interpretierte sie dahingehend, dass sich die Arbeitsfähigkeitsschätzung ebenfalls auf die somatischen (und damit unfallkausalen) Beschwerden bezogen habe. Eine die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigende psychische Krankheit sei auch mit Blick darauf zu verneinen, dass der Versicherte im August 2015 eine durch die Invalidenversicherung zugesprochene berufsbegleitende Handelsschule begonnen und ein Jahr später abgeschlossen habe, was ihm mit einem psychischen Gesundheitsschaden nicht möglich gewesen wäre. Wenn das kantonale Gericht gestützt darauf feststellte, dass in der Zeit vom 1. Juni bis 31. Juli 2015 keine die Arbeitsfähigkeit einschränkende Krankheit vorlag, folgte es der Sachverhaltsdarstellung, welche es als die wahrscheinlichste würdigte, was nach dem in E. 5.2.1 Dargelegten bundesrechtskonform ist. Ohnehin beschränkte sich der Beschwerdeführer darauf, das Vorliegen einer den Anspruch auf Krankentaggelder der Beschwerdegegnerin auslösende Arbeitsunfähigkeit zu behaupten, ohne substanziiert darzulegen, welche krankheitsbedingten Einschränkungen bei ihm vorgelegen haben sollen. Eine offensichtliche Unrichtigkeit (vgl. BGE 144 V 50 E. 4.2 S. 53) der vorinstanzlichen Feststellung, es habe im massgebenden Zeitraum keine die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigende Krankheit bestanden, ist damit weder dargetan noch sonst wie ersichtlich.  
 
5.2.3. Mangels konkreter Hinweise auf durch Krankheit verursachte Einschränkungen erachtete die Vorinstanz weitere Abklärungen zu Recht (implizit) als entbehrlich, denn davon waren unter den gegebenen Umständen keine neuen Erkenntnisse zu erwarten. Auch diese antizipierte Beweiswürdigung (BGE 144 V 361 E. 6.5 S. 368 f.; 136 I 229 E. 5.3 S. 236 f.) verletzt den Untersuchungsgrundsatz nicht.  
 
5.2.4. Da nach dem angefochtenen Entscheid ein Taggeldanspruch wegen fehlender krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit zu verneinen ist, erübrigte sich eine Auseinandersetzung mit der (dessen Aufschiebung im Falle der Überentschädigung regelnden) Bestimmung des Art. 72 Abs. 5 KVG.  
 
5.3. Zusammenfassend ergibt sich, dass die Vorinstanz kein Bundesrecht verletzt hat, indem sie einen Taggeldanspruch des Beschwerdeführers mangels krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit in der Zeit bis 31. Juli 2015 (Ende des Versicherungsschutzes) verneint hat.  
 
6.   
Entsprechend dem Prozessausgang gehen die Verfahrenskosten zu Lasten des Beschwerdeführers (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die unentgeltliche Rechtspflege kann ihm gewährt werden, da die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt sind (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Es wird indessen auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach der Beschwerdeführer der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn er später dazu in der Lage ist. 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und Rechtsanwalt Philip Stolkin wird als unentgeltlicher Anwalt bestellt. 
 
3.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen. 
 
4.   
Dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2800.- ausgerichtet. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, II. Kammer, und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 2. Februar 2021 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Die Gerichtsschreiberin: Keel Baumann