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[AZA] 
I 435/99 Vr 
 
II. Kammer  
 
Präsident Lustenberger, Bundesrichter Meyer und Ferrari; 
Gerichtsschreiber Grünvogel 
 
Urteil vom 3. April 2000  
 
in Sachen 
 
L.________, 1968, Beschwerdeführer, vertreten durch die 
Fachstelle X.________, 
gegen 
 
IV-Stelle des Kantons Thurgau, St. Gallerstrasse 13, 
Frauenfeld, Beschwerdegegnerin, 
 
und 
 
AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau, Weinfelden 
 
    A.- Der 1968 geborene L.________ meldete sich am 
7. August 1997 bei der Invalidenversicherung zum Bezug 
einer Rente an, nachdem zuvor mit in Rechtskraft erwachse- 
ner Verfügung vom 25. Februar 1997 sein Gesuch um Wieder- 
eingliederung in die bisherige Tätigkeit abgewiesen worden 
war. Die IV-Stelle des Kantons Thurgau holte u.a. einen 
Bericht des Hausarztes Dr. R.________ vom 10. Dezember 1997 
ein. Gestützt darauf lehnte sie den Anspruch auf eine 
Invalidenrente ab (Verfügung vom 8. September 1998). 
    B.- Die dagegen erhobene Beschwerde wies die AHV/IV- 
Rekurskommission des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 
4. Juni 1999 ab. 
 
    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt L.________ 
beantragen, es sei ihm in Aufhebung des vorinstanzlichen 
Entscheids und der Verfügung vom 8. September 1998 eine 
Invalidenrente zuzusprechen. Gleichzeitig bringt er eine 
Stellungnahme des Dr. R.________ vom 2. Juli 1999 bei. 
    Während die IV-Stelle auf Abweisung der Verwaltungs- 
gerichtsbeschwerde schliesst, hat sich das Bundesamt für 
Sozialversicherung nicht vernehmen lassen. 
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:  
 
    1.- Streitig ist, ob der Beschwerdeführer Anspruch auf 
eine Invalidenrente hat. 
 
    2.- a) Die Vorinstanz hat die gesetzliche Bestimmung 
und die Grundsätze über den Invaliditätsbegriff (Art. 4 
Abs. 1 IVG), insbesondere bei geistigen Gesundheitsschäden 
(ZAK 1992 S. 170 Erw. 2a mit Hinweisen; vgl. auch BGE 102 V 
165) zutreffend dargelegt. Entsprechendes gilt auch für die 
Ausführungen, wann eine Drogensucht Leistungen der Invali- 
denversicherung auslösen kann (AHI 1996 S. 303 Erw. 2 a mit 
Hinweisen; vgl. auch BGE 99 V 28 Erw. 2; bestätigt im nicht 
veröffentlichten Urteil P. vom 31. Januar 2000, I 138/98). 
Darauf kann verwiesen werden. 
 
    b) Nach Art. 28 Abs. 1 IVG hat der Versicherte An- 
spruch auf eine ganze Rente, wenn er mindestens zu 
66 2/3 %, auf eine halbe Rente, wenn er mindestens zu 50 % 
oder auf eine Viertelsrente, wenn er mindestens zu 40 % 
invalid ist; in Härtefällen hat der Versicherte nach 
Art. 28 Abs. 1bis IVG bereits bei einem Invaliditätsgrad 
von mindestens 40 % Anspruch auf eine halbe Rente. Gemäss 
Art. 29 Abs. 1 IVG entsteht der Rentenanspruch nach Art. 28 
IVG frühestens in dem Zeitpunkt, in dem der Versicherte 
mindestens zu 40 % bleibend erwerbsunfähig geworden ist 
(lit. a) oder während eines Jahres ohne wesentlichen Unter- 
bruch durchschnittlich mindestens zu 40 % arbeitsunfähig 
gewesen war (lit. b). Bleibende Erwerbsunfähigkeit ist dann 
anzunehmen, wenn ein weitgehend stabilisierter, im Wesent- 
lichen irreversibler Gesundheitsschaden vorliegt, welcher 
die Erwerbsfähigkeit der versicherten Person voraussicht- 
lich dauernd in rentenbegründendem Masse beeinträchtigen 
wird (Art. 29 IVV). Als relativ stabilisiert kann ein aus- 
gesprochen labil gewesenes Leiden nur dann betrachtet wer- 
den, wenn sich sein Charakter deutlich in der Weise geän- 
dert hat, dass vorausgesehen werden kann, in absehbarer 
Zeit werde keine praktisch erhebliche Wandlung mehr erfol- 
gen (BGE 119 V 102 Erw. 4a mit Hinweisen). 
 
    c) Soweit die kantonale Rekurskommission auf Art. 87 
Abs. 3 und 4 IVV verweist, ist dies missverständlich. Denn 
im Prozess ist die Behandlung der Eintretensfrage durch die 
Verwaltung nur zu prüfen, wenn das Eintreten streitig ist, 
d.h. wenn die Verwaltung Nichteintreten verfügt hat und die 
versicherte Person hiegegen Beschwerde führt; hingegen un- 
terbleibt eine richterliche Beurteilung der Eintretensfra- 
ge, wenn die Verwaltung auf die Neuanmeldung eingetreten 
ist (BGE 109 V 114 Erw. 2). Zu beachten ist in diesem Zu- 
sammenhang weiter, dass es sich vorliegend ohnehin nicht um 
eine Neuanmeldung eines bereits früher beurteilten Leis- 
tungsanspruches handelt. Denn die von der Vorinstanz in 
diesem Zusammenhang erwähnte rechtskräftige Verfügung vom 
25. Februar 1997 hatte eine berufliche Massnahme zum Gegen- 
stand, wogegen vorliegend der Rentenanspruch streitig ist 
(SVR 1999 IV Nr. 21 S. 63; vgl. auch BGE 117 V 200 Erw. 4b 
mit Hinweisen). 
    3.- Vorinstanz und Verwaltung verneinen den Rentenan- 
spruch wegen fehlender Invalidität im Sinne des Gesetzes, 
dies weil ausser der bestehenden Drogensucht keine körper- 
lichen oder geistigen, die Erwerbsfähigkeit beeinträchti- 
genden Gesundheitsschäden vorliegen würden. Dabei stützen 
sie sich vor allem auf den Bericht des Allgemeinmediziners 
Dr. R.________ vom 10. Dezember 1997 ab, wonach der Be- 
schwerdeführer auf Grund der langjährigen Drogenkarriere 
(seit 1982 abhängig) mit langjährigem Fernbleiben von einem 
geregelten Arbeitsprozess heute und auch inskünftig 
vollständig "arbeitsunfähig" bleibe. Aus psychiatrischen 
Gründen komme zur Zeit auch keine angepasste, andere 
zumutbare Tätigkeit in Frage. 
 
    a) Was Dr. R.________ mit diesem letzten Satz genau 
gemeint hat, präzisiert er in der letztinstanzlich einge- 
reichten Stellungnahme vom 2. Juli 1999. Darin legt er dar, 
dass nach seinem Verständnis beim Versicherten als Folge 
der schweren Sucht ein invalidisierender Gesundheitsschaden 
vorliege, der in der Gesamtentwicklung über die Jahre in 
eine suchtbedingte Wesensveränderung geführt habe. Sein 
Patient leide seit langer Zeit und in den letzten Monaten 
zunehmend an einer psychiatrischen Erkrankung, welche die 
Wesensveränderung zusätzlich verstärke mit depressivem 
Zustandsbild, ausgeprägter innerer Haltlosigkeit, schwer 
verminderter Belastbarkeit und erheblichen Konzentra- 
tionsstörungen. Zudem bestehe eine multiple psychosoma- 
tische Überlagerung, die im Rahmen des gesamten psychiatri- 
schen Krankheitsbildes interpretiert werden müsse (zur Zu- 
lässigkeit der Berücksichtigung von nach dem massgeblichen 
Verfügungszeitpunkt [BGE 121 V 366 Erw. 2b mit Hinweisen] 
datierenden Arztberichten: BGE 99 V 102 Erw. 4 mit Hinwei- 
sen). 
 
    b) Angesichts dieser präzisierenden Aussagen des den 
Beschwerdeführer seit Sommer 1996 betreuenden Arztes lässt 
sich das Vorliegen einer invalidisierenden Wesensverände- 
rung oder einer anderen psychischen Störung mit Krankheits- 
wert zum Verfügungszeitpunkt nicht ausschliessen. Eine 
fachärztliche (psychiatrische) Begutachtung drängt sich 
auf. Dabei interessiert vor allem, ob und gegebenenfalls 
seit wann sowie in welchem Umfang die langjährige Drogen- 
sucht eine Gesundheitsstörung verursacht hat, welche die 
Erwerbsfähigkeit während längerer Zeit zu beeinträchtigen 
vermochte oder vermag (vgl. Erw. 2b). Damit sich der Psy- 
chiater ein umfassendes Bild über den Versicherten machen 
kann (Anamnese), erscheint es in Übereinstimmung mit dem 
Beschwerdeführer als sinnvoll, vorgängig der psychiatri- 
schen Untersuchung einen Bericht der von ihm besuchten ge- 
schützten Werkstatt Y.________ einzuholen. 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:  
 
I.Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne 
    gutgeheissen, dass der Entscheid der AHV/IV-Rekurskom- 
    mission des Kantons Thurgau vom 4. Juni 1999 und die 
    Verfügung der IV-Stelle des Kantons Thurgau vom 
    8. September 1998 aufgehoben werden und die Sache an 
    die IV-Stelle zurückgewiesen wird, damit sie, nach 
    erfolgten Abklärungen im Sinne der Erwägungen, über 
    den Rentenanspruch neu verfüge. 
 
II.Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
III.Die IV-Stelle des Kantons Thurgau hat dem Beschwerde- 
    führer für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Ver- 
    sicherungsgericht eine Parteientschädigung von 
    Fr. 1000.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu be- 
    zahlen. 
 
IV.Die AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau wird 
    über eine Parteientschädigung für das kantonale Ver- 
    fahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen 
    Prozesses zu befinden haben. 
 
V.Dieses Urteil wird den Parteien, der AHV/IV-Rekurskom- 
    mission des Kantons Thurgau, der Ausgleichskasse des 
    Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Sozialversiche- 
    rung zugestellt. 
 
 
Luzern, 3. April 2000 
 
Im Namen des 
Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
Der Präsident der II. Kammer: 
 
Der Gerichtsschreiber: