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[AZA 7] 
M 1/01 Ge 
 
IV. Kammer 
 
Bundesrichter Borella, Rüedi und Bundesrichterin Leuzinger; 
Gerichtsschreiber Jancar 
 
Urteil vom 3. Mai 2001 
 
in Sachen 
Bundesamt für Militärversicherung, 3001 Bern, Beschwerdeführer, 
 
gegen 
W.________, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Christian Grand, Oberer Graben 26, 9000 St. Gallen, 
 
und 
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen 
 
A.- Der 1971 geborene W.________ absolvierte ab 
1. Februar 1993 als Kanonier die Artillerie-Rekrutenschule. 
Am 26. April 1993 konnte er unter Vollpackung zwar einen drohenden Treppensturz gerade noch auffangen, erlitt dabei aber - wie am 28. April 1993 festgestellt wurde - eine mediale Schenkelhalsfraktur links. Diese wurde gleichentags operiert. Im Operationsbericht wurde festgehalten, dass sich eine posttraumatische Femurkopfnekrose entwickeln könnte. Das Bundesamt für Militärversicherung (BAMV) anerkannte die Bundeshaftung und erbrachte die gesetzlichen Leistungen. Gemäss Bericht des Spitals Z.________ vom 10. Juni 1994 zeigte die MRI-Untersuchung das Vorliegen einer Femurkopfnekrose beidseits. Am 14. Oktober 1994 stellte Prof. Dr. med. G.________, Chefarzt Orthopädie an der Klinik X.________, eine massive Nekrose fest, von welcher praktisch der ganze linke Femurkopf beeinträchtigt sei; rechts sei der Gelenkspalt ebenfalls eher schmal, die Knochenstruktur sehe aber ungleich besser aus. Am 5. Dezember 1994 setzte Prof. G.________ dem Versicherten links ein Kunstgelenk ein. Am 6. November 1996 hielt er fest, dass auf der rechten Seite keine Progredienz der Veränderungen und ein gleichmässiger Gelenkspalt feststellbar seien; der Femurkopf weise eine gute Rundung auf. Am 28. November 1996 suchte der Versicherte wegen zunehmender Hüftschmerzen rechts die Klinik X.________ auf. Die MRI-Abklärung vom 4. 
Dezember 1996 zeigte eine gegenüber dem Vorbefund vom 25. 
 
Mai 1994 im Wesentlichen unveränderte Ausdehnung der Femurkopfnekrose rechts bei jedoch fokal etwas veränderten Signalintensitäten. Anlässlich der Kontrolluntersuchung vom 18. März 1997 stellte Prof. G.________ fest, die Stockentlastung habe sich beim Versicherten positiv ausgewirkt. Er gehe völlig unauffällig und habe das Ponstan nicht einnehmen müssen. Am 16. April 1998 beauftragte das BAMV Prof. 
Dr. med. D.________, Chefarzt an der Orthopädischen Klinik Y.________, mit der Begutachtung des Versicherten, deren Ergebnisse am 11. September 1998 vorlagen. Im Weiteren reichte der Rechtsvertreter des Versicherten dem BAMV am 21. Januar 1999 einen Bericht des Prof. D.________ vom 18. Januar 1999 ein. Das BAMV holte Stellungnahmen zum Gutachten bei den versicherungsinternen Ärzten Dr. med. 
 
 
 
S.________, Ärztlicher Dienst (vom 20. Oktober 1998), und Dr. med. K.________, Chefärztlicher Dienst (vom 5. November 1998 und 1. Februar 1999), ein. Gestützt auf diese Abklärungen teilte es dem Versicherten mit Vorbescheid vom 12. März 1999 mit, dass es die weitere Haftung für die rechtsseitigen Hüftbeschwerden ablehne. Daran hielt es mit Verfügung vom 29. März 1999 fest. Die hiegegen erhobene Einsprache wies das BAMV mit Entscheid vom 16. August 1999 ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Femurkopfnekrose rechts sei während des Dienstes weder direkt verursacht noch direkt verschlimmert worden; es liege aber insoweit eine indirekte Folge oder Verschlimmerung vor, als die Femurkopfnekrose plötzlich symptomatisch geworden sei. Ende 1996/Anfang 1997 hätten sich die Symptome indessen zurückgebildet und die Verschlimmerung sei seither behoben. 
 
 
B.- Die hiegegen von W.________ erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen gut, indem es den Einspracheentscheid aufhob und die Sache an die Verwaltung zurückwies, damit sie über die zu erbringenden Leistungen für die rechtsseitige Femurkopfnekrose neu entscheide (Entscheid vom 22. November 2000). 
 
C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das BAMV, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben; eventuell sei die Sache zur Neubeurteilung an das kantonale Gericht zurückzuweisen, damit es nach Einholung eines Obergutachtens neu entscheide. 
Der Versicherte lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen. 
 
Das. Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
 
1.- Streitig und zu prüfen ist einzig, ob die (erst nach dem im Jahre 1993 absolvierten Dienst festgestellte) Femurkopfnekrose rechts in den Haftungsbereich der Militärversicherung fällt. 
Gemäss Art. 109 MVG werden Versicherungsfälle, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes am 1. Januar 1994 noch hängig waren, in jenen Teilen nach dem neuen Recht beurteilt, die nicht anerkannt sind, oder über die nicht verfügt wurde. 
Das BAMV hat mit Verfügung vom 29. März 1999 bzw. mit Einspracheentscheid vom 16. August 1999 über die Gesundheitsschädigung am rechten Femurkopf entschieden. Nach Art. 109 MVG ist deshalb vorliegend neues Recht anwendbar (vgl. BGE 123 V 137 Erw. 2 mit Hinweisen). 
 
2.- Im Beschwerdeverfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen ist die Überprüfungsbefugnis des Eidgenössischen Versicherungsgerichts nicht auf die Verletzung von Bundesrecht einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens beschränkt, sondern sie erstreckt sich auch auf die Angemessenheit der angefochtenen Verfügung; das Gericht ist dabei nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden und kann über die Begehren der Parteien zu deren Gunsten oder Ungunsten hinausgehen (Art. 132 OG). 
 
3.- Wird die Gesundheitsschädigung erst nach Schluss des Dienstes durch einen Arzt, Zahnarzt oder Chiropraktor festgestellt und bei der Militärversicherung angemeldet oder werden Spätfolgen oder Rückfälle geltend gemacht, so haftet die Militärversicherung nur, wenn die Gesundheitsschädigung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit während des Dienstes verursacht oder verschlimmert worden ist oder wenn es sich mit überwiegender Wahrscheinlichkeit um Spätfolgen oder Rückfälle einer versicherten Gesundheitsschädigung handelt (Art. 6 MVG). 
Im Rahmen von Art. 6 MVG muss das Vorliegen kausaler Folgen von Einwirkungen während des Dienstes mit dem im Sozialversicherungsrecht allgemein erforderlichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit erstellt sein (BGE 123 V 138 Erw. 3a, 121 V 47 Erw. 2a, 208 Erw. 6b, 111 V 372 Erw. 1b). Entscheidend ist somit, ob der Zusammenhang zwischen der nachdienstlich festgestellten und bei der Militärversicherung angemeldeten Gesundheitsschädigung und Einwirkungen während des Dienstes wahrscheinlicher ist als das Fehlen eines solchen; die blosse Möglichkeit eines Zusammenhangs genügt nicht (BGE 111 V 374 Erw. 2b; vgl. auch Maeschi, Kommentar zum Bundesgesetz über die Militärversicherung vom 19. Juni 1992, N 17 zu Art. 6). 
Die Verschlimmerung gilt als behoben, wenn der "Status quo ante" (Gesundheitszustand, in welchem sich der Versicherte vor dem Dienst befunden hat) oder der "Status quo sine" (Gesundheitszustand, in welchem sich der Versicherte befinden würde, wenn er den Einwirkungen während des Dienstes nicht ausgesetzt gewesen wäre) erreicht ist (Maeschi, a.a.O., N 41 zu Art. 5). 
Was die Haftungsbeendigung betrifft, ist es nach den allgemeinen Beweisgrundsätzen Sache der Militärversicherung, den Nachweis dafür zu erbringen, dass die Haftungsgrundlagen (Gesundheitsschädigung, Kausalzusammenhang mit Einwirkungen während des Dienstes) mit überwiegender Wahrscheinlichkeit weggefallen sind (Maeschi, a.a.O., N 20 zu Art. 6). 
 
4.- a) Prof. D.________ kommt im Gutachten vom 11. 
September 1998 zum Schluss, der Beschwerdegegner habe im Zeitpunkt der Rekrutenschule schon an deutlichen Überlastungsproblemen im Bereich des Schenkelhalses links gelitten. Es sei daher möglich bis wahrscheinlich, dass er zu diesem Zeitpunkt neben der heute noch vorhandenen Osteopenie bereits eine Femurkopfnekrose beidseits aufgewiesen habe. Es sei während der Rekrutenschule über 10 Wochen lang verpasst worden, die Diagnose zu stellen und den Beschwerdeführer vom Militärdienst zurückzustellen, woraus sich konsekutiv die ganze Problematik ergeben habe. 
Eine Femurkopfnekrose entstehe nicht vorwiegend durch Überlastung, aber wenn sie einmal im Frühstadium vorhanden sei, sei die einzig bekannte Behandlungsmöglichkeit die Druckentfernung (durch Anbohren) und die Gewichtsentlastung über Monate (mit Stöcken). Unter Belastung würden sich die Nekrosen im meist belasteten anterioren-superioren Segment entwickeln, wie es auch in casu der Fall sei. Zunächst durch die erhöhte Dienstbelastung eines an sich dienstuntauglichen Versicherten und dann durch die sekundäre Überlastung rechts wegen der linksseitigen Schenkelhalsfraktur mit nachfolgender Osteosynthese, Metallentfernungs- und Prothesenoperation mit jeweiliger Belastungsunfähigkeit links sei die notwendige Entlastung des rechten Beines verunmöglicht und ins Gegenteil verkehrt worden. Das Fortschreiten der Femurkopfnekrose rechts sei daher in einen überwiegend wahrscheinlichen Zusammenhang zunächst mit der dienstlichen Einwirkung selbst und dann mit der Schenkelhalsfraktur und ihren Folgen zu stellen. 
In der Stellungnahme vom 18. Januar 1999 legt Prof. 
D.________ dar, es liege nach wie vor eine klinische Schmerzproblematik vor; die Verschlimmerung sei also keineswegs behoben und könne auch nicht behoben werden, weil der adäquate Zeitpunkt für eine Behandlung verstrichen sei. 
 
b) aa) Die Vorinstanz gelangte in einlässlicher Würdigung dieses Gutachtens und des Zusatzberichts - die in allen Teilen vollständig und schlüssig erscheinen - zum Ergebnis, dass die Femurkopfnekrose an der rechten Hüfte durch Einwirkungen während des Militärdienstes verschlimmert worden und eine Behebung dieser Verschlimmerung aus medizinischen Gründen ausgeschlossen sei, weshalb das BAMV auch weiterhin die Haftung für dieses Schadenereignis zu tragen habe. Dieser Beurteilung ist beizupflichten. 
 
bb) An diesem Ergebnis vermögen die Einwendungen des BAMV nichts zu ändern. 
Dieses bringt zum einen im Wesentlichen vor, die Femurkopfnekrose könne nicht während des Dienstes (durch Überbelastung) verschlimmert worden sein, weil es sich bei dieser Krankheit im Frühstadium um einen Spontanablauf handle, der von aussen nicht beeinflusst werden könne. 
Diese Auffassung ist nicht belegt und widerspricht nicht nur den überzeugenden Angaben des Prof. D.________, auf welche mit der Vorinstanz abzustellen ist, sondern auch der Auffassung des versicherungsinternen Arztes Dr. med. 
S.________ vom 20. Oktober 1998, wonach eine erhöhte Belastung einen Einfluss auf den Verlauf der Krankheit der rechten Hüfte haben kann. Der versicherungsinterne Arzt Dr. 
med. K.________ hält demgegenüber in seiner Stellungnahme vom 5. November 1998 einzig fest, dass eine Überbelastung allein keine Femurkopfnekrose bewirke, was vorliegend aber gar nicht geltend gemacht wird. Im Übrigen anerkennt auch Dr. med. K.________, dass der Verlauf der rechten Femurkopfnekrose zwischenzeitlich mit überwiegender Wahrscheinlichkeit verschlimmert worden sei. 
Das BAMV macht im Weiteren geltend, die Verschlimmerung der Hüftbeschwerden rechts sei jedenfalls im Frühjahr 1997 erloschen (d.h. Erreichen des Status quo sine), da an der rechten Hüfte keine pathologischen Befunde mehr vorhanden gewesen seien und der Versicherte keine Beschwerden mehr gehabt habe sowie voll arbeitsfähig gewesen sei. Das BAMV beruft sich diesbezüglich auf die Stellungnahme des Dr. med. K.________ vom 5. November 1998. Was dieser Arzt aus den von Prof. D.________ erhobenen Untersuchungsbefunden folgert, vermag indessen nicht zu überzeugen; namentlich widerspricht seine pauschale Behauptung, dass keine pathologischen Befunde an der rechten Hüfte mehr vorlägen, den detaillierten Feststellungen des Prof. 
D.________, der im Gutachten eine leichte Entrundung im Femurkopf feststellte. Im ergänzenden Bericht vom 18. Januar 1999 präzisierte er, im Gutachten habe er dargelegt, dass sich der morphokortikale Index im Bereich des Schenkelhalses rechts verbessert und die Sklerosierung im Schenkelhals und Femurkopf zugenommen habe. Dies bedeute aber nur, dass dank verstärkter Mineralisation die Frakturgefahr im Schenkelhalsbereich durch die Osteopenie geringer geworden sei. Es bedeute nicht, dass das Areal der Femurkopfnekrose, welches ja nicht mehr dem Knochenstoffwechsel angeschlossen sei, besser geworden sei. Im Gegenteil beginne sich der Kopfbereich - wie er im Gutachten dargelegt habe - zu entrunden. Im Weiteren hielt Prof. 
D.________ fest, ein stummer Vorzustand sei also durch dienstliche Einwirkung respektive durch Komplikationen aufgrund dienstlicher Einwirkung symptomatisch geworden; er sei nicht in den Zustand quo ante und mit Wahrscheinlichkeit auch nicht in den Zustand quo sine zurückgekehrt. 
Das BAMV bringt schliesslich vor, der Bericht des Prof. D.________ vom 18. Januar 1999 sei in beweisrechtlicher Hinsicht ungenügend, da er vom Beschwerdegegner selber eingeholt worden sei und da Prof. D.________ die Stellungnahmen der versicherungsinternen Ärzte vom 20. Oktober und 5. November 1998 zur Behebung der Verschlimmerung nicht gekannt habe. Dieses Vorbringen ist unbehelflich. Denn zum einen ist für den Beweiswert grundsätzlich nicht die Herkunft des Beweismittels, sondern dessen Inhalt ausschlaggebend (BGE 122 V 160 Erw. 1c). Zum andern ist festzuhalten, dass der Bericht vom 18. Januar 1999 lediglich eine Ergänzung bzw. Präzisierung zum Gutachten vom 11. September 1998 darstellt und keine neuen Erkenntnisse enthält. Prof. 
D.________ hat denn auch in diesem Bericht ausgeführt, er habe die Frage nach der Verschlimmerung bereits sehr klar und eindeutig im Gutachten beantwortet, wo er ein Fortschreiten der Femurkopfnekrose konstatiert hat. Im Übrigen vermögen die Ausführungen der versicherungsinternen Ärzte Dr. med. S.________ und Dr. med. K.________ - wie gesagt - die Beurteilung von Prof. D.________ nicht umzustossen. 
 
c) Dem BAMV ist es demnach nicht gelungen, den ihm obliegenden Beweis dafür zu erbringen, dass die Haftungsgrundlagen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit weggefallen sind (d.h. in casu, dass die Verschlimmerung durch Erreichen des Status quo sine behoben sei), was für eine Haftungsbefreiung vorausgesetzt wäre (Maeschi, a.a.O., N 20 zu Art. 6). 
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
 
I. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen. 
 
II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
III. Das Bundesamt für Militärversicherung hat dem Beschwerdegegner für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung 
 
 
von Fr. 2500.- zu bezahlen. 
 
IV. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen zugestellt. 
Luzern, 3. Mai 2001 
 
 
Im Namen des 
Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
Der Präsident der IV. Kammer: 
 
Der Gerichtsschreiber: