Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
8C_442/2007 
 
Urteil vom 5. Mai 2008 
I. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Ursprung, Präsident, 
Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Frésard, 
Gerichtsschreiberin Riedi Hunold. 
 
Parteien 
S.________, Beschwerdeführerin, 
vertreten durch Fürsprecher Peter Kaufmann, Münzgraben 2, 3011 Bern, 
 
gegen 
 
Zürich Versicherungs-Gesellschaft, 
Rechtsdienst, 8085 Zürich, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Unfallversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich 
vom 28. Juni 2007. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
S.________, geboren 1952, war beim Restaurant X.________ im Service angestellt und in dieser Eigenschaft bei der Zürich Versicherungs-Gesellschaft (nachfolgend: Zürich) gegen die Folgen von Unfällen und Berufskrankheiten versichert. Mit Verfügung vom 6. Dezember 2006 lehnte die Zürich bezüglich eines Vorfalles im Sommer 2004 jegliche Leistungen ab. Dies bestätigte sie mit Einspracheentscheid vom 16. Mai 2007. In ihrem undatierten Schreiben, welches am 8. Juni 2007 bei der Zürich einging, hielt S.________ unter anderem fest, sie möchte mit diesem Schreiben Protest gegen den Entscheid der Zürich einlegen. Die Zürich teilte ihr gleichentags mit, sie habe eine allfällige Beschwerde gegen den Einspracheentscheid beim kantonalen Versicherungsgericht einzureichen. 
 
B. 
Am 18. Juni 2007 ersuchte der zwischenzeitlich von S.________ beauftragte Fürsprecher Peter Kaufmann die Zürich um Zustellung der Originalakten und informierte die Zürich über die gleichentags vorsorglich erhobene Beschwerde. In dieser Beschwerde stellte er den Antrag auf Leistungen nach UVG unter Aufhebung des Einspracheentscheids sowie auf Sistierung des Verfahrens und Gewährung einer Nachfrist von 30 Tagen nach Erhalt der Originalakten zur Nachreichung der Begründung. Mit Entscheid vom 28. Juni 2007 lehnte das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich das Gesuch um Nachfristansetzung ab, da dem Rechtsvertreter die Begründungspflicht bekannt gewesen sei, und trat auf die Eingabe vom 18. Juni 2007 mangels Begründung nicht ein. 
 
C. 
S.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Antrag, es seien der Entscheid vom 28. Juni 2007 aufzuheben und die Vorinstanz zu verpflichten, sich unter Einräumung einer Nachfrist zur Begründung mit der fristgerechten Beschwerde vom 18. Juni 2007 zu befassen. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Stellungnahme. 
 
D. 
Auf Anfrage des Bundesgerichts hält das kantonale Gericht mit Eingabe vom 23. Januar 2008 fest, das undatierte Schreiben von S.________ sei von der Zürich nicht weitergeleitet worden. Die Zürich verneint am 16. Januar 2008 ebenfalls die Weiterleitung des genannten Schreibens, da dieses nicht den Anforderungen an eine Beschwerde genüge, und reicht ihre Antwort vom 8. Juni 2007 ein. 
 
E. 
Das Bundesgericht lässt dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich das undatierte Schreiben von S.________ sowie die Eingabe der Zürich vom 16. Januar 2008 mit der Aufforderung zur Stellungnahme zugehen. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich verzichtet am 6. Februar 2008 auf eine Stellungnahme. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
1.1 Nach Art. 61 lit. b ATSG muss die Beschwerde eine gedrängte Darstellung des Sachverhaltes, ein Rechtsbegehren und eine kurze Begründung enthalten. Genügt sie diesen Anforderungen nicht, so setzt das Versicherungsgericht der Beschwerde führenden Person eine angemessene Frist zur Verbesserung und verbindet damit die Androhung, dass sonst auf die Beschwerde nicht eingetreten wird. Diese Vorschrift stimmt inhaltlich überein mit dem bis 31. Dezember 2002 in Kraft gestandenen Art. 85 Abs. 2 lit. b AHVG, mit Art. 52 VwVG sowie mit Art. 10 Abs. 1 und 5 ATSV. Die zu diesen Bestimmungen ergangene Rechtsprechung ist somit auch im Anwendungsbereich des Art. 61 lit. b ATSG von Bedeutung. 
Nach dem Wortlaut von Art. 61 lit. b ATSG und der Rechtsprechung ist grundsätzlich in jedem Fall einer ungenügenden Begründung eine Nachfrist anzusetzen, sofern der Beschwerdewille rechtzeitig und in prozessual gehöriger Form klar bekundet worden ist. Die Einräumung einer solchen Frist steht nicht im Belieben des kantonalen Versicherungsgerichtes. Vorbehalten ist der Fall eines offenbaren Rechtsmissbrauchs (Urteil 9C_853/2007 vom 15. April 2008, E. 2 mit Hinweisen). 
 
1.2 Ein die Anwendung von Art. 61 lit. b Satz 2 ATSG ausschliessender offenbarer Missbrauch ist zu bejahen, wenn ein Anwalt oder eine sonstige rechtskundige Person eine bewusst mangelhafte Rechtsschrift einreicht, um damit eine Nachfrist zur Begründung zu erwirken. Das formelle Erfordernis der Begründung des Rechtsbegehrens gemäss Satz 1 von Art. 61 lit. b ATSG würde sonst seines Sinnes entleert, wenn jede Beschwerde führende Person dadurch, dass sie die Anträge nicht oder nicht rechtsgenüglich begründet, über die Nachfrist von Satz 2 zusätzlich Zeit für die Begründung erwirken könnte. Rechtskundigkeit für sich allein genommen lässt indessen nicht den Schluss auf Rechtsmissbrauch zu. Selbst bei Fehlen einer Begründung ist die Ansetzung einer Nachfrist nach Art. 61 lit. b Satz 2 ATSG nicht ausgeschlossen. Massgebend sind die jeweiligen konkreten Umstände (Urteil 9C_853/2007 vom 15. April 2008, E. 4 mit Hinweisen). 
 
1.3 Der Sinn der Nachfrist nach Art. 61 lit. b Satz 2 ATSG besteht im Schutz der rechtsunkundigen Partei, welche erst kurz vor Ablauf der Anfechtungsfrist in Unkenntnis der formellen Anforderungen eine namentlich ungenügend begründete Beschwerdeschrift einreicht. Sie soll - bei klar bekundetem Anfechtungswillen - nicht deshalb um die Rechtsmittelmöglichkeit gebracht werden. Mit dieser ratio legis verträgt es sich nicht, diejenige Partei schlechter zu stellen, welche kurz vor Ablauf der Anfechtungsfrist einen Rechtsvertreter mandatiert, sei es weil sie sich erst dann zu einer Beschwerde entschliessen konnte, sei es aus Nichtwissen darum, dass eine substanziierte Begründung in der Regel genügende Aktenkenntnis erfordert, und diesem damit verunmöglicht, eine hinreichend begründete Eingabe zu verfassen. Die Ablehnung des Mandats in einem solchen Fall wird dem Schutzgedanken von Art. 61 lit. b Satz 2 ATSG nicht gerecht. Kann anderseits der kurz vor Ablauf der Anfechtungsfrist beauftragte Rechtsvertreter nicht rechtzeitig in die Akten Einsicht nehmen, läuft es im Ergebnis auf dasselbe hinaus, ob er eine summarische oder überhaupt keine Begründung einreicht. In beiden Fällen ist entweder gestützt auf Art. 61 lit. b Satz 2 ATSG eine Nachfrist zur Behebung des formellen Mangels einer nicht rechtsgenüglichen (unvollständigen oder fehlenden) Begründung anzusetzen, oder es liegt ein zu Lasten der Beschwerde führenden Person gehendes rechtsmissbräuchliches Verhalten ihres Rechtsvertreters vor. Insoweit erscheint die von der Rechtsprechung bisweilen statuierte Pflicht, die Beschwerde auch ohne zumutbare Aktenkenntnis wenigstens summarisch zu begründen, nicht konsequent und sachgerecht. Im Übrigen kann allfälligen Missbräuchen auch dadurch vorgebeugt werden, dass die Nachfrist zur Verbesserung der Beschwerde in Bezug auf die Begründung entsprechend knapp bemessen wird. 
Bei rechtskundigen oder rechtskundig vertretenen Personen ist zwar Rechtsmissbrauch eher anzunehmen, weil ihnen das korrekte Vorgehen bekannt sein muss. Indessen kann im Rahmen der Anwendung von Art. 61 lit. b ATSG ein offensichtlicher Rechtsmissbrauch nicht schon darin erblickt werden, dass zunächst die Akten eingeholt und gleichzeitig eine vorsorgliche Beschwerde ohne oder lediglich mit summarischer Begründung eingereicht wird. Ohnehin ist Aktenkenntnis in aller Regel erforderlich, um überhaupt beurteilen zu können, ob eine Beschwerde Aussicht auf Erfolg hat, was wiederum mit zur sorgfältigen Mandatsausübung gehört. Ein solches Vorgehen scheint jedenfalls für das Einspracheverfahren in der Praxis nicht selten zu sein und wird auch in der Lehre nicht grundsätzlich als rechtsmissbräuchlich betrachtet (Urteil 9C_853/2007 vom 15. April 2008, E. 5.1 mit Hinweisen). 
 
1.4 Mit Urteil 9C_853/2007 vom 15. April 2008 hat das Bundesgericht die Rechtsprechung dahingehend präzisiert, dass ein Rechtsmissbrauch, der einen Verzicht auf die gesetzlich vorgesehene Nachfrist zu rechtfertigen vermöchte, in der Regel dann nicht vorliegt, wenn aufgrund der Sachlage eine rechtsgenügliche Beschwerdebegründung praktisch nicht ohne Aktenkenntnis möglich ist, die rechtsunkundige Partei, welche selber die Akten nicht besitzt, in gutem Glauben erst kurz vor Ablauf der Beschwerdefrist einen Rechtsvertreter mandatiert, und diesem weder eine rechtzeitige Aktenbeschaffung noch eine sonstige hinreichende Beurteilung des Sachverhalts (z.B. aufgrund eines Instruktionsgesprächs mit dem Klienten) möglich ist. In solchen Fällen muss es als genügend betrachtet werden, wenn der Rechtsvertreter unverzüglich die Akten einholt und nach deren Eingang die innert Frist vorsorglich eingereichte Beschwerde mit einer Begründung ergänzt (E. 5.2 des genannten Urteils). 
 
1.5 Vorliegend ergibt sich aus den Akten, dass der Rechtsvertreter von der Versicherten am 14. Juni 2007 (Vollmacht vom 12. Juni 2007) bevollmächtigt wurde. Mit Schreiben vom 18. Juni 2007 ersuchte er die Zürich um Zustellung der Akten. Vorsorglich erhob er gleichentags Beschwerde. Die Zürich stellte ihm am 22. Juni 2007 die Akten zu, welche am 25. Juni 2007 bei ihm eintrafen. Unter diesen Umständen ist nicht zu beanstanden, dass der Rechtsvertreter auf eine einlässliche Begründung verzichtete und um Ansetzung einer Nachfrist ersuchte. Denn innert der Beschwerdefrist stand ihm nur der Einspracheentscheid zur Verfügung. Dessen Richtigkeit konnte er jedoch nicht anhand der medizinischen Akten überprüfen. Die Vorinstanz wäre demnach gehalten gewesen, ihm eine angemessene Nachfrist zur Einreichung der Begründung zu setzen, was sie nunmehr nachzuholen hat. Dies gilt umso mehr, als gestützt auf die vorliegenden Akten weder Anfang noch Ende der Beschwerdefrist bestimmt werden können, da nicht erstellt ist, wann der Versicherten der Einspracheentscheid ausgehändigt wurde. 
 
2. 
2.1 Die Versicherte beruft sich in ihrer Beschwerde auf ihr undatiertes Schreiben an die Zürich. Dabei handelt es sich um ein zulässiges Novum im Sinne von Art. 99 Abs. 1 BGG. Denn bei Einreichung der Eingabe vom 18. Juni 2007 war dem Rechtsvertreter mangels Vorliegen der Originalakten dieses Schreiben sowie die Antwort der Zürich vom 8. Juni 2007 noch nicht bekannt und infolge des bereits am 28. Juni 2007 ohne jegliche Instruktionsmassnahmen ergangenen Entscheids hatte er auch keine Gelegenheit, dieses nach Erhalt der Originalakten am 25. Juni 2007 der Vorinstanz noch aufzulegen. 
 
2.2 Nach Art. 58 Abs. 3 ATSG hat eine Behörde, welche sich als unzuständig erachtet, die Beschwerde ohne Verzug dem zuständigen Versicherungsgericht zu überweisen. Unter Behörde im Sinne von Art. 58 Abs. 3 ATSG fallen insbesondere auch die Sozialversicherungsträger (Kieser, ATSG-Kommentar, Zürich 2003, Art. 58 N 22). Diese Weiterleitungspflicht ist deshalb von Bedeutung, da auch eine bei der unzuständigen Behörde eingereichte Eingabe fristwahrend ist (Art. 60 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 39 Abs. 2 ATSG). 
 
2.3 Das undatierte Schreiben der Versicherten richtete sich an die Zürich. Aus ihm geht jedoch hervor, dass die Versicherte mit dem Entscheid der Zürich nicht einverstanden war. Gestützt auf Art. 58 Abs. 3 ATSG wäre die Zürich gehalten gewesen, dieses an das zuständige Gericht weiterzuleiten, zumal sie angesichts der darin gemachten Äusserungen nicht davon ausgehen durfte, dass es sich dabei um ein blosses "Protestschreiben" handle. Daran ändert auch das Schreiben der Zürich vom 8. Juni 2007 nichts. Denn es ist nicht Sache der Verwaltung zu entscheiden, ob eine Eingabe den rechtlichen Anforderungen an eine Beschwerde im Sinne von Art. 61 ATSG entspricht. Dies ist Aufgabe des Gerichts. Diesem ist es unbenommen zur Vereinfachung seiner Prüfungspflicht bei der versicherten Person eine Stellungnahme einzuholen, ob tatsächlich ein Anfechtungswille gegeben ist und ein Verfahren eröffnet werden soll. 
 
2.4 Nach dem Gesagten ist der kantonale Entscheid auch aus diesem Grund aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen. 
 
3. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Zürich die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG; BGE 133 V 642). Der Versicherten steht eine Parteientschädigung zu (Art. 68 Abs. 1 BGG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 28. Juni 2007 aufgehoben. Die Sache wird an die Vorinstanz zurückgewiesen, damit sie im Sinne der Erwägungen verfahre. 
 
2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Zürich Versicherungs-Gesellschaft auferlegt. 
 
3. 
Die Zürich Versicherungs-Gesellschaft hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1500.- zu entschädigen. 
 
4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt. 
Luzern, 5. Mai 2008 
 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: 
 
 
Ursprung Riedi Hunold