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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
6S.384/2004 /pai 
 
Urteil vom 7. Februar 2005 
Kassationshof 
 
Besetzung 
Bundesrichter Schneider, Präsident, 
Bundesrichter Wiprächtiger, Kolly, Karlen, Zünd, 
Gerichtsschreiber Boog. 
 
Parteien 
X.________, 
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Markus Raess, 
 
gegen 
 
Y.________, 
Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Daniel Vischer, 
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Postfach, 8023 Zürich. 
 
Gegenstand 
Vorsätzliche Tötung etc. (Notwehr Art. 33 StGB), 
 
Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich, II. Strafkammer, vom 9. Juli 2004. 
 
Sachverhalt: 
A. 
Das Obergericht des Kantons Zürich erklärte X.________ mit Urteil vom 9. Juli 2004 der vorsätzlichen Tötung gemäss Art. 111 StGB, des Diebstahls gemäss Art. 139 Ziff. 1 StGB sowie der versuchten Hehlerei gemäss Art. 160 Ziff. 1 Abs. 1 StGB in Verbindung mit Art. 21 Abs. 1 StGB schuldig und verurteilte ihn zu zwölf Jahren Zuchthaus, unter Anrechnung der ausgestandenen Untersuchungshaft und des vorzeitigen Strafvollzuges. Ferner stellte es fest, dass der Beurteilte gegenüber dem Hinterbliebenen des Opfers dem Grundsatz nach in vollem Umfang für den entstandenen allfälligen Schaden hafte. Für die Festsetzung der Höhe des Schadenersatzes verwies es diesen auf den Weg des Zivilprozesses. Schliesslich verpflichtete es X.________, dem Geschädigten eine Genugtuung in der Höhe von Fr. 25'000.-- zuzüglich 5 % Zins seit dem 1. Dezember 2000 zu bezahlen. Im Mehrbetrag wies es das Genugtuungsbegehren ab. 
B. 
X.________ führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde, mit der er beantragt, die Ziffern 1 und 2 des angefochtenen Urteils seien aufzuheben, und die Sache sei zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Ferner ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege. 
C. 
Das Obergericht des Kantons Zürich hat auf Gegenbemerkungen verzichtet. Vernehmlassungen wurden nicht eingeholt. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Die Vorinstanz stellt folgenden, für den Kassationshof verbindlichen Sachverhalt fest (Art. 277bis Abs. 1 BStP): 
 
Ungefähr eine Woche vor dem 30. November 2000 begab sich der Beschwerdeführer zum späteren Opfer A.________ in dessen Wohnung in Zürich, um ein Gramm Kokain zum Eigenkonsum zu kaufen. Dabei führte er einen Koffer mit sich, der zehn durch unbekannte Dritte gestohlene brillantbesetzte Damenuhren im Neuwert von ungefähr Fr. 30'000.-- enthielt und den er kurz zuvor auf Kommission zum Verkaufen für ca. Fr. 10'000.-- entgegen genommen hatte. In der Folge gerieten der Beschwerdeführer und das spätere Opfer wegen Schulden, welche der Beschwerdeführer bei einem gemeinsamen Bekannten hatte, in Streit, in dessen Verlauf A.________ den Beschwerdeführer mit einer Schusswaffe bedrohte und ihm den Koffer mit dem Schmuck gewissermassen als Pfand abnahm. 
 
Am Donnerstag, den 30. November 2000, wollte der Beschwerdeführer den Schmuckkoffer bei A.________ wieder abholen. Nachdem er diesem sein Kommen telefonisch vorangekündigt hatte, suchte er im Hinblick auf diesen Besuch um ca. 14.00 Uhr einen Bekannten in Zürich auf, um sich eine Schusswaffe auszuleihen. Dieser händigte dem Beschwerdeführer daraufhin einen Revolver "Smith & Wesson Colt", Kal. 38, den er zuvor geladen hatte, und eine Schachtel Munition aus. Nachdem der Beschwerdeführer A.________ noch zwei weitere Male angerufen hatte, ging er in dessen Wohnung und verlangte seinen Schmuckkoffer zurück. A.________ war zur Rückgabe bereit, erklärte aber, er müsse den Koffer erst auswärts holen. Die beiden kamen überein, dass der Beschwerdeführer in der Zwischenzeit mit A.________s Hund spazieren gehe. Um ca. 16.00 Uhr kehrte der Beschwerdeführer mit dem Hund zurück und forderte A.________, der in der Küche auf einem Stuhl sass, auf, ihm den Koffer nun auszuhändigen, andernfalls er Leute bei ihm vorbei schicken werde. Als dieser sich daraufhin umdrehte und nach vorn bückte, zog der Beschwerdeführer - überzeugt davon, der andere hole von irgendwoher seine Waffe heraus, mit der er ihn schon eine Woche zuvor bedroht hatte - den von ihm selbst unter dem Hemd im Hosenbund mitgeführten geladenen Revolver und gab einen Schuss in Richtung von A.________ ab. Das abgefeuerte Projektil traf diesen am rechten Teil des Hinterkopfs, durchschlug Schädel und Hirn und trat in leicht aufsteigender und nach rechts abweichender Richtung bei der Stirne vorne rechts wieder aus. A.________ stürzte vom Stuhl zu Boden und blieb schwer verletzt liegen. Der Beschwerdeführer verliess zunächst die Wohnung, kehrte indes wenig später wieder zurück und nahm neben dem Schmuckkoffer verschiedene weitere Wertgegenstände an sich, um einen Raub vorzutäuschen. A.________ erlag am folgenden Tag im Universitätsspital Zürich den erlittenen Verletzungen. 
2. 
2.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, er habe in Notwehr gehandelt. A.________ habe sich zum Tatzeitpunkt blitzschnell auf dem Stuhl gedreht und sich nach unten gebückt. Er habe sich gleich verhalten wie anlässlich der Auseinandersetzung eine Woche zuvor, als er sich nach der abrupten Drehung auf seinem Stuhl ebenfalls gebückt und eine Schusswaffe ergriffen habe, um ihn zu bedrohen. Das Opfer habe somit Bewegungen gemacht, die als Angriffsvorbereitungen hätten gedeutet werden können und die Anzeichen für einen bevorstehenden Angriff darstellten. Er habe aufgrund der fast identischen Bewegungen des Opfers davon ausgehen müssen, dass ein Angriff unmittelbar bevorstehe. Die Schussabgabe sei daher als Notwehr und nicht als blosse Präventivabwehr zu würdigen. 
2.2 Die Vorinstanz nimmt in rechtlicher Hinsicht an, die Schussabgabe sei in einer gespannten, von der Aggression des Opfers geprägten Situation erfolgt, die im Zusammenhang mit der vom Beschwerdeführer geforderten Rückgabe des Schmuckkoffers entstanden sei. Sie kommt indessen zum Schluss, eine Notwehrlage habe nicht vorgelegen. Daran ändere nichts, dass A.________ eine Schusswaffe besessen habe und den Beschwerdeführer bei der letzten Auseinandersetzung damit bedroht habe. Selbst wenn man annehmen wollte, dass er tatsächlich eine Pistole habe behändigen wollen, wie es sich der Beschwerdeführer vorgestellt habe, so könne die Bewegung des Opfers, das sich auf dem Stuhl umgedreht und gebückt hatte, noch nicht als Handlung angesehen werden, die als unmittelbare Vorbereitung für einen Angriff zu deuten gewesen sei. Das folge auch daraus, dass A.________ den Beschwerdeführer nicht etwa verbal bedroht oder gar eine Erschiessung angedroht habe. Anzeichen für eine Gefahr, welche eine Verteidigungshandlung nahegelegt hätte, hätten in jenem Moment noch nicht bestanden. Wenn der Beschwerdeführer unter den gegebenen Umständen geschossen habe, so sei er damit zwar möglicherweise einem Angriff zuvor gekommen. Dieser sei aber noch unsicher gewesen. Die Tat könne daher jedenfalls nicht als eine rechtfertigende Abwehrhandlung qualifiziert werden. 
3. 
3.1 Wird jemand ohne Recht angegriffen oder unmittelbar mit einem Angriff bedroht, so ist der Angegriffene und jeder andere gemäss Art. 33 Abs. 1 StGB berechtigt, den Angriff in einer den Umständen angemessenen Weise abzuwehren. Die Bestimmung gibt dem Angegriffenen mithin das Recht zu verhältnismässiger Abwehr eines widerrechtlichen Angriffs. Die Angemessenheit der Abwehr beurteilt sich dabei unter Berücksichtigung derjenigen Situation, in welcher sich der rechtswidrig Angegriffene im Zeitpunkt seiner Tat befand, sowie der Schwere des Angriffs, der durch Angriff und Abwehr bedrohten Rechtsgüter wie auch der Art des Abwehrmittels und dessen tatsächlicher Verwendung (BGE 107 IV 12 E. 3a; 102 IV 65 E. 2 a mit Hinweisen). 
 
Die Feststellung, ob der Angriff bereits im Gange ist oder unmittelbar droht, ist nicht leicht zu treffen (Stefan Trechsel, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, 2. Aufl. Zürich 1997, Art. 33 N 6; Hans Dubs, Notwehr, ZStrR 1973/89, S. 342). Nach der Rechtsprechung verlangt der Rechtfertigungsgrund der Notwehr im Sinne von Art. 33 Abs. 1 StGB vom Angegriffenen nicht, dass er mit einer Reaktion zuwartet, bis es für eine Abwehr zu spät ist. Doch setzt die Unmittelbarkeit der Bedrohung voraus, dass jedenfalls Anzeichen einer Gefahr vorhanden sind, die eine Verteidigung nahe legen. Solche Anzeichen liegen z.B. vor, wenn der Angreifer eine drohende Haltung einnimmt, sich zum Kampfe vorbereitet oder Bewegungen macht, die in diesem Sinne gedeutet werden können (BGE 93 IV 81, S. 83 mit Hinweisen). Abwehr ist zulässig, sobald mit einem Angriff ernstlich zu rechnen ist und jedes weitere Zuwarten die Verteidigungschance gefährdet. Der Angriff droht m.a.W. nicht erst unmittelbar, wenn es für den Angreifer kein Zurück mehr gibt, sondern schon dann, wenn der Bedrohte nach den gesamten Umständen mit dem sofortigen Angriff rechnen muss (Dubs, a.a.O., S. 343). Handlungen, die lediglich darauf gerichtet sind, einem zwar möglichen aber noch unsicheren Angriff vorzubeugen, einem Gegner also nach dem Grundsatz, dass der Angriff die beste Verteidigung ist, zuvorzukommen und ihn vorsorglich kampfunfähig zu machen, fallen nicht unter den Begriff der Notwehr (BGE a.a.O.). 
3.2 
3.2.1 Die Vorinstanz nimmt zunächst an, der Beschwerdeführer habe nicht in der irrigen Annahme einer rechtfertigenden Sachlage (Putativnotwehr) gehandelt (vgl. hiezu BGE 125 IV 49 E. 2d S. 56; 122 IV 1 E. 2b S. 4 f.; 93 IV 81 E. b S. 84 f., je mit Hinweisen). Dies wird vom Beschwerdeführer zu Recht nicht beanstandet. Denn die Vorinstanz geht vom Sachverhalt aus, wie er von jenem geschildert wird. Danach war der Beschwerdeführer davon überzeugt, dass das spätere Opfer, in dessen Wäschekorb neben dem Pult sich tatsächlich eine Pistole fand, eine Schusswaffe ergreifen wolle, um ihn anschliessend zumindest damit zu bedrohen. Eine Differenz zwischen Vorstellung und wirklichem Sachverhalt bestand daher nicht. Allenfalls könnte der Beschwerdeführer irrigerweise angenommen haben, er sei berechtigt, den Angriff schon in einem Stadium abzuwehren, in dem dieser noch nicht unmittelbar bevorstand. Dann hätte er aber nicht über den Sachverhalt geirrt, sondern über die rechtliche Wertung (vgl. hiezu Stefan Trechsel/Peter Noll, Schweizerisches Strafrecht, Allg. Teil I, 6. Aufl., Zürich 2004, S. 164). Die Frage, ob der Beschwerdeführer in einem Rechtsirrtum gehandelt hat, stellt sich hier indessen nicht. 
3.2.2 Die Vorinstanz gelangt weiter zum Schluss, der Beschwerdeführer sei bei seiner Schussabgabe noch nicht angegriffen bzw. unmittelbar mit einem rechtswidrigen Angriff bedroht worden. Diese Auffassung verletzt Bundesrecht nicht. Auch wenn man mit der Vorinstanz von der Sichtweise des Beschwerdeführers ausgeht und unterstellt, das Opfer habe eine Waffe ergreifen wollen, dann hat er jedenfalls ausserhalb der Notwehrsituation gehandelt, bevor die unmittelbare Bedrohung eintrat. Denn in der Verhaltensweise des Opfers, das sich lediglich überraschend auf seinem Stuhl umdreht und sich bückt, liegt noch kein bedrohliches Verhalten, das unmittelbar in einen Angriff umschlagen kann. Wie die Vorinstanz zu Recht annimmt, hat der Beschwerdeführer einen Angriff befürchtet und wollte diesem durch sein Handeln zuvorkommen. Dieses Handeln erfüllt die Voraussetzungen der Notwehr im Sinne von Art. 33 StGB nicht. Es liegt mithin ein extensiver Notwehrexzess vor, für welchen Art. 33 Abs. 2 StGB keine Strafmilderung gewährt (vgl. Günter Stratenwerth, Schweizerisches Strafrecht, Allg. Teil I, 2. Aufl., Bern 1996, § 10 N 87; Trechsel, a.a.O., Art. 33 N 16). 
 
Die Beschwerde erweist sich als unbegründet. 
4. 
Aus diesen Gründen ist die Beschwerde abzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens trägt der Beschwerdeführer die Kosten (Art. 278 Abs. 1 BStP). Er stellt indessen ein Gesuch um Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege. Dieses kann bewilligt werden, da von der Bedürftigkeit des Beschwerdeführers auszugehen, diese ausreichend belegt ist (vgl. BGE 125 IV 161 E. 4) und er den angefochtenen Entscheid überdies mit vertretbaren Argumenten in Frage gestellt hat (vgl. BGE 124 I 304 E. 2 mit Hinweisen). Dem Beschwerdeführer werden deshalb keine Kosten auferlegt. Seinem Vertreter wird aus der Bundesgerichtskasse eine angemessene Entschädigung ausgerichtet. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
1. 
Die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen. 
2. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen. 
3. 
Es werden keine Kosten erhoben. 
4. 
Dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers wird für das bundesgerichtliche Verfahren eine Entschädigung von Fr. 3'000.-- aus der Bundesgerichtskasse ausgerichtet. 
5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, der Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich und dem Obergericht des Kantons Zürich, II. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 7. Februar 2005 
Im Namen des Kassationshofes 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: