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Eidgenössisches Versicherungsgericht 
Tribunale federale delle assicurazioni 
Tribunal federal d'assicuranzas 
 
Sozialversicherungsabteilung 
des Bundesgerichts 
 
Prozess 
{T 7} 
I 168/02 
 
Urteil vom 8. Oktober 2002 
III. Kammer 
 
Besetzung 
Präsident Borella, Bundesrichter Meyer und Lustenberger; Gerichtsschreiber Schmutz 
 
Parteien 
T.________, 1967, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Alex Beeler, Frankenstrasse 3, 6003 Luzern, 
 
gegen 
 
IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin 
 
Vorinstanz 
Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern 
 
(Entscheid vom 12. Februar 2002) 
 
Sachverhalt: 
A. 
Die 1967 geborene T.________ wuchs in Bern als Jüngstes von drei Kindern mit einem schwer alkoholkranken Vater und einer ganztags berufstätigen Mutter auf. Während der Woche war sie bei den Grosseltern untergebracht. Nach Abschluss der Sekundarschule begann sie die Lehre als Grafikerin. Sie musste die Stelle aus betrieblichen Gründen verlassen und bestand am nächsten Ausbildungsplatz die Zwischenprüfung nicht. Nach zwei Jahren brach sie die Lehre ab und begann eine Anlehre als Schriftenmalerin. Sie wurde entlassen und ging seitdem keiner geregelten Arbeit mehr nach. Ab 1985 bestand bei ihr eine schwere Polytoxikomanie (kombinierte Heroin/Kokainabhängigkeit). Sie bestritt ihren Lebensunterhalt mit Dealen und verbüsste Gefängnisstrafen. Seit dem 26. Juli 2000 befindet sich T.________ im Therapiezentrum X.________. Am 1. November 2000 meldete sie sich mit dem Begehren um berufliche Eingliederungsmassnahmen bei der IV-Stelle Bern an und beantragte Berufsberatung, Umschulung auf eine neue Tätigkeit und Arbeitsvermittlung, wobei sie als Art der Behinderung "Depressionen mit nachfolgendem Drogenkonsum" angab. Die IV-Stelle Bern holte Berichte ein von Dr. med. van S.________, Facharzt FMH für Innere Medizin (vom 3. Januar 2001), von Frau Dr. med. U.________ von der Privatklinik Y.________, Zentrum für Psychiatrie und Psychotherapie, wo T.________ sich vom 3. bis 25. Mai 2000 zum Drogenentzug aufhielt (vom 27. März 2001) und von der Leiterin des Therapiezentrums X.________, Frau Dipl. Psych. FSP I.________ (vom 29. März 2001). Dr. med. D.________, Spezialarzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, reichte bei der IV-Stelle Bern den am 11. August 2001 erstellten Bericht an das Bundesamt für Sozialversicherung ein, in welchem er darlegte, warum bei der Versicherten aus medizinischer Sicht Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung bestand. Gestützt auf die beigezogenen Unterlagen wies die IV-Stelle das Leistungsbegehren nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens ab, weil die Arbeitsunfähigkeit auf reinem Suchtgeschehen (Polytoxikomanie) beruhe und keine Invalidität im Sinne des Gesetzes bestehe (Verfügung vom 9. Oktober 2001). 
B. 
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 12. Februar 2002 ab. 
C. 
T.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und beantragen, in Aufhebung des angefochtenen Entscheids sowie der Verfügung vom 9. Oktober 2001 habe die Invalidenversicherung berufliche Massnahmen anzuordnen und eventualiter beim Scheitern einer beruflichen Massnahme die Rentenfrage zu prüfen. Ferner wird um Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung nachgesucht. 
 
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung. 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Streitig und zu prüfen ist, ob die Beschwerdeführerin Anspruch auf berufliche Eingliederungsmassnahmen hat. 
1.1 Nach Art. 4 Abs. 1 IVG gilt als Invalidität im Sinne dieses Gesetzes die durch einen körperlichen oder geistigen Gesundheitsschaden als Folge von Geburtsgebrechen, Krankheit oder Unfall verursachte, voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde Erwerbsunfähigkeit. Nach Abs. 2 dieser Bestimmung gilt die Invalidität als eingetreten, sobald sie die für die Begründung des Anspruchs auf die jeweilige Leistung erforderliche Art und Schwere erreicht hat. Das IVG beruht somit auf dem Konzept des leistungsspezifischen Invaliditätsfalles (BGE 126 V 242 Erw. 4). Dies bedeutet im Bereich der beruflichen Eingliederungsmassnahmen (Art. 15 ff. IVG) u.a., dass ein Anspruch auf Beiträge an die erstmalige berufliche Ausbildung besteht, wenn dem Versicherten aus Gründen eines bleibenden oder längere Zeit dauernden Gesundheitsschadens, somit invaliditätsbedingt, in wesentlichem Umfange zusätzliche Kosten entstehen (Art. 16 Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 5 Abs. 2 IVV). Dabei gilt es in Bezug auf den Erwerbsausfall, der mit der Absolvierung einer erstmaligen beruflichen Ausbildung verbunden sein kann, Art. 22 IVG zu beachten. Nach dessen Absatz 1 Satz 2 wird u.a. Versicherten in der erstmaligen beruflichen Ausbildung ein Taggeld ausgerichtet, wenn sie eine invaliditätsbedingte Erwerbseinbusse erleiden. 
1.2 Nach der Rechtsprechung setzt der Anspruch auf Berufsberatung gestützt auf Art. 15 IVG voraus, dass die Versicherte an sich zur Berufswahl fähig, infolge Invalidität aber darin behindert ist, weil ihre Kenntnisse über Neigungen, berufliche Fähigkeiten und Möglichkeiten nicht ausreichen, um einen der Behinderung angepassten Beruf wählen zu können (ZAK 1977 S. 191 Erw. 2). Die Berufsberatung soll die Versicherte zu jener (beruflichen) Tätigkeit führen, in der sie die ihrer Neigung und Begabung gemässe Verwirklichungsmöglichkeit findet. Es kommen verschiedene Massnahmen wie Berufswahlgespräche, Durchführung von Neigungs- und Begabungstests usw. in Frage (ZAK 1988 S. 179 Erw. 4a; Ulrich Meyer-Blaser, Zum Verhältnismässigkeitsgrundsatz im staatlichen Leistungsrecht, Diss. Bern 1985, S. 158). Die Berufsberatung erfolgt primär durch die IV-Stelle der Invalidenversicherung (Art. 57 Abs. 1 lit. b IVG), allenfalls unter Beizug von Spezialisten oder beruflichen Abklärungsstellen (Art. 59 Abs. 2 IVG). Nicht unter die Berufsberatung fallen jedoch Massnahmen zur Erlangung der erforderlichen schulischen Grundvoraussetzungen für eine Erfolg versprechende Inangriffnahme einer Berufslehre oder Anlehre (ZAK 1982 S. 493 oben, 1977 S. 191 Erw. 2; Ulrich Meyer-Blaser, a.a.O., S. 159). 
2. 
2.1 Es ist somit die Frage zu beantworten, ob bei der Beschwerdeführerin eine leistungsspezifische Invalidität in dem Sinne vorliegt, dass sie in der Zeit vom Abbruch der Lehre bis zur Anmeldung für berufliche Eingliederungsmassnahmen aus psychischen Gründen daran gehindert worden ist, die übliche erstmalige berufliche Ausbildung zu absolvieren. Wird diese Frage verneint, liegt keine Invalidität vor, und die Beschwerdeführerin kann folglich für die berufliche Ausbildung, der sie sich nunmehr unterziehen will, keine Ansprüche gegen die Invalidenversicherung erheben. Wird die Frage bejaht, hätte dies zur Folge, dass die nunmehr nachzuholende erstmalige berufliche Ausbildung als invaliditätsbedingt verspätet zu qualifizieren und der damit verbundene Erwerbsausfall als invaliditätsbedingte Erwerbseinbusse gestützt auf Art. 22 Abs. 1 Satz 2 IVG von der Invalidenversicherung taggeldmässig zu entschädigen ist. 
2.2 Hingegen ist es unerheblich, ob die Beschwerdeführerin noch bei Erlass der angefochtenen Verwaltungsverfügung am 9. Oktober 2001 an einem invalidisierenden psychischen Gesundheitsschaden litt. Denn es kommt im Rahmen von Art. 4 Abs. 1 IVG, von seinem ausdrücklichen Wortlaut wie von der Systematik der Invalidenversicherung als final konzipierten Erwerbsausfallversicherung (AHI 1999 S. 79) her, nicht auf die Gleichzeitigkeit (Kontemporalität), sondern auf die Kausalität von Gesundheitsschaden und Erwerbsunfähigkeit (Alfred Bühler, Zur rechtlichen Bedeutung der invaliditätsfremden Gründe der Erwerbsunfähigkeit für die Invaliditätsbemessung, in: SZS 1993 S. 249 ff.) an (BGE 126 V 462 Erw. 2). Dies wird in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde richtig bemerkt. 
2.3 Die Akten enthalten hinreichende Anhaltspunkte für die Annahme, dass die Beschwerdeführerin als Folge u.a. einer psychischen Fehlentwicklung von Krankheitswert drogensüchtig geworden (BGE 102 V 165; AHI 1996 S. 301, 304, 307) und aus psychischen Gründen daran gehindert worden ist, die übliche erstmalige berufliche Ausbildung zu absolvieren. Dr. med. van S.________ stellte in dem von der IV-Stelle eingeholten Arztbericht vom 8. November 2000 die Diagnose einer seit ca. 1989 vorliegenden Dysthymie (ICD-10 F34.1) und einer seit 1985 bestehenden Polytoxikomanie. Er meldete schwere familiäre Probleme mit alkoholkrankem Vater und ganztags berufstätiger Mutter, was bei der Beschwerdeführerin eine kindliche Verwahrlosung zur Folge hatte. Im Zeitpunkt des Ausbildungsabbruchs begann die schwere Polytoxikomanie. Die diagnostizierten Leiden bewirkten nach Dr. med. van S.________ eine deutliche Verminderung der Grundleistungsfähigkeit mit erniedrigter Stress- und Frustrationstoleranz, was eine mangelhafte bzw. fehlende Ausbildung und ein Ausbleiben an theoretischen und praktischen Kenntnissen in beruflichen Belangen zur Folge hatte. Auch in dem zuhanden des Untersuchungsrichteramtes erstellten und mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vorgelegten Gutachten von Dr. med. Z.________, Spezialarzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, wird die familiäre Belastung mit Suchtkrankheiten (schwer alkoholkranker Vater, magersüchtige Schwester, schwer drogensüchtiger Bruder) rapportiert. Nach diesem Arzt zeigte die Beschwerdeführerin verschiedene kinderneurotische Zeichen und war nach Abschluss der Sekundarschule in der Berufslehre infolge massiver Enttäuschungen überfordert; die "in der Folge entstandene Sucht" führte zu erheblichen körperlichen Schäden und zu einer psychosozialen Reifungshemmung, was nach Aussage des Gutachters bewirkte, dass die Beschwerdeführerin keine Ausbildung abschliessen konnte. Er gab an, sie sei zur Zeit der ihr angelasteten Taten (Konsum von Drogen, Dealen, Hehlen) in ihrer geistigen Gesundheit und zum Teil wohl auch in ihrem Bewusstsein beeinträchtigt gewesen, sodass die Einsicht in das Unrecht der Taten, insbesondere aber die Fähigkeit zum Handeln gemäss noch vorhandener Einsicht in mittlerem bis schwerem Grade herabgesetzt war (Gutachten vom 26. August 1998). Im Bericht der Privatklinik Y.________ vom 21. Februar 2001 ist angegeben, bei der Beschwerdeführerin habe während des Drogenentzugs im Mai 2000 nicht nur ein Abhängigkeitssyndrom (ICD-10 F10.20), sondern auch ein Verdacht auf eine Persönlichkeitsstörung (ICD-10 F60.3) mit rezidivierender depressiver Verstimmung (ICD-10 F33.1) bestanden. Der Psychiater Dr. med. D.________ berichtete zum Lebenslauf der Beschwerdeführerin, diese sei eine gute Schülerin gewesen, habe aber auf Grund der schweren familiären Verhältnisse mit einem alkoholkranken und aggressiven Vater und einer berufstätigen und überforderten Mutter schon als Kind Zeichen der emotionalen "Verwahrlosung" gezeigt, habe geklaut, sei eingebrochen, habe kaum Kontakt zu Gleichaltrigen gehabt, sondern diesen bei älteren Kollegen gesucht. Während der missglückten Grafikerinlehre habe sie ihren späteren langjährigen Freund kennen gelernt. Sie habe damals bereits Cannabis "gekifft" und mit dem Freund zusammen zunächst Kokain und dann auch Heroin "gesnifft" und später gespritzt. Dr. med. D.________ gab die Beurteilung ab, psychiatrisch-diagnostisch sei auf eine emotionale Vernachlässigung eines Kindes zu schliessen. 
3. 
Die Kausalität von Gesundheitsschaden und Abbruch der Berufsausbildung und damit der Tatbestand einer invaliditätsbedingt verzögerten erstmaligen beruflichen Ausbildung sind somit vorliegend gegeben. Daher hat die Beschwerdeführerin Anspruch auf Beiträge an die erstmalige berufliche Ausbildung, wenn ihr in wesentlichem Umfange zusätzliche Kosten entstehen (Art. 16 Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 5 Abs. 2 IVV) sowie auf Taggeld nach Art. 22 Abs. 1 Satz 2 IVG, soweit ihr durch die nachzuholende erstmalige berufliche Ausbildung ein Erwerbsausfall entsteht. Das setzt aber im Weiteren voraus, dass sie sich nunmehr tatsächlich einer geeigneten, notwendigen und persönlich, zeitlich sowie sachlich angemessenen Ausbildung (Art. 8 Abs. 1 IVG) unterzieht. Ein Anspruch auf Berufsberatung ist im oben definierten Umfang (Erw. 1.2) gegeben. 
4. 
Im vorliegenden Verfahren geht es um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen, weshalb von der Auferlegung von Gerichtskosten abzusehen ist (Art. 134 OG). Dem Prozessausgang entsprechend ist der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zuzusprechen (Art. 135 in Verbindung mit Art. 159 OG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege, einschliesslich der unentgeltlichen Verbeiständung, ist damit gegenstandslos. 
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
1. 
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 12. Februar 2002 und die Verfügung der IV-Stelle Bern vom 9. Oktober 2001 aufgehoben. 
2. 
Die Sache wird an die IV-Stelle Bern zurückgewiesen, damit sie über den Anspruch der Beschwerdeführerin auf berufliche Eingliederungsmassnahmen und Taggeld im Sinne der Erwägungen neu verfüge. 
3. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
4. 
Die IV-Stelle Bern hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen. 
5. 
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wird über eine Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben. 
6. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des Kantons Bern und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt. 
 
Luzern, 8. Oktober 2002 
 
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
 
Der Präsident der III. Kammer: Der Gerichtsschreiber: