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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
9C_455/2014  
   
   
 
 
 
Urteil vom 9. März 2015  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin, 
Bundesrichterin Pfiffner, 
nebenamtlicher Bundesrichter Weber, 
Gerichtsschreiberin Dormann. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Advokat Daniel Albietz, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
1. B.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Thomas Baumeler, 
2. C.________, 
3. D.________, 
4. E.________, 
alle drei vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Konrad Bünzli, 
Beschwerdegegner, 
 
Ausgleichskasse des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau. 
 
Gegenstand 
Alters- und Hinterlassenenversicherung (Haftung des Arbeitgebers, vorinstanzliches Verfahren), 
 
Beschwerde gegen zwei Entscheide des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 1. April 2014. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Die Stiftung F.________ war der Ausgleichskasse des Kantons Aargau als beitragspflichtige Arbeitgeberin angeschlossen. A.________, B.________, C.________, D.________ und E.________ waren als Stiftungsräte im Handelsregister eingetragen. Über die Stiftung wurde am 29. Januar 2010 der Konkurs eröffnet; am 11. August 2011 wurde das Verfahren als geschlossen erklärt. Mit Verfügungen vom 27. November resp. 7. Dezember 2012 verpflichtete die Ausgleichskasse des Kantons Aargau die genannten Stiftungsräte in solidarischer Haftung zur Bezahlung von Schadenersatz für entgangene bundes- und kantonalrechtliche Beiträge in der Höhe von Fr. 70'366.20 (A.________) resp. Fr. 84'090.25 (B.________, C.________, D.________ und E.________). Mit Einspracheentscheiden vom 15. Februar 2013 hob die Ausgleichskasse die Verfügung betreffend A.________ auf (Einsprachentscheid Nr. 1'609'420), während sie an den übrigen Verfügungen insofern festhielt, als sie den Schadenersatzbetrag auf Fr. 80'135.15 herabsetzte. 
 
B.  
 
B.a. D.________, E.________, C.________ und B.________ fochten die sie direkt betreffenden Einspracheentscheide an. Gemäss den beim Versicherungsgericht des Kantons Aargau eingeholten - und unangefochten gebliebenen - Entscheiden "VBE.2013.235, VBE.2013. 236, VBE.2013.237; Art. 57", "VBE.2013.235, VBE.2013.236, VBE. 2013.237; Art. 58" und "VBE.2013.235, VBE.2013.236, VBE.2013.237; Art. 59" vom 1. April 2014 wurde die Beschwerde des D.________, E.________ und C.________ gutgeheissen und eine Schadenersatzpflicht verneint, während jene des B.________ lediglich teilweise gutgeheissen und der von ihm zu leistende Schadenersatz auf Fr. 79'812.65 festgelegt wurde ("VBE.2013.238; Art. 60").  
 
B.b. Ebenso erhoben B.________ einerseits sowie C.________, E.________ und D.________ anderseits Beschwerden gegen den A.________ betreffenden Einspracheentscheid Nr. 1'609'420. Mit prozessleitender Verfügung vom 13. Mai 2013 vereinigte das Versicherungsgericht des Kantons Aargau diese Verfahren und lud A.________ zum Verfahren bei. In der Duplik vom 30. September 2013 zog B.________ sein Rechtsmittel zurück. In der Folge hiess das kantonale Gericht die Beschwerden gut, hob den Einspracheentscheid Nr. 1'609'420 vom 15. Februar 2013 und die entsprechende Verfügung vom 7. Dezember 2012 auf und verpflichtete A.________, der Ausgleichskasse Fr. 79'812.65 zu bezahlen (Entscheide "VBE.2013.321, VBE.2013.341; Art. 61" und "VBE.2013. 341; Art. 62" vom 1. April 2014).  
 
C.   
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.________ beantragen, die Entscheide "VBE.2013.321, VBE.2013.341; Art. 61" und "VBE.2013.341; Art. 62" vom 1. April 2014 seien aufzuheben. Das kantonale Gericht sei anzuweisen, das Verfahren betreffend die Beschwerde des B.________ zufolge Beschwerderückzugs ohne Kostenfolgen abzuschreiben. Sodann sei es anzuweisen, das Rechtsmittel von C.________, D.________ und E.________ abzuweisen und diese zu verpflichten, für das vorinstanzliche Verfahren in solidarischer Verbindung eine Parteientschädigung in Höhe von Fr. 2'461.85 zu bezahlen. Eventualiter sei es anzuweisen, deren Rechtsmittel im Grundsatz gutzuheissen und die Sache zum Erlass einer neuen Verfügung an die Ausgleichskasse zurückzuweisen. Sodann ersucht A.________ um unentgeltliche Rechtspflege. 
B.________, C.________, D.________ und E.________ lassen sich nicht vernehmen. Die Ausgleichskasse schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Stellungnahme. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Folglich ist es weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (BGE 134 V 250 E. 1.2 S. 252 mit Hinweisen; 133 III 545 E. 2.2 S. 550; 130 III 136 E. 1.4 S. 140). 
 
2.   
 
2.1. Die angefochtenen Entscheide (vgl. Sachverhalt lit. C) sind bis auf die Verfahrensnummer und die Dispositiv-Ziffer 3 (Parteientschädigung) identisch. Nachdem die Vorinstanz die Verfahren vor Erlass ihrer Entscheide vereinigte, können diese grundsätzlich als einziger Anfechtungsgegenstand betrachtet werden.  
 
2.2. Auch wenn nach dem Wortlaut der Rechtsbegehren eine Anweisung an die Vorinstanz und damit implizite eine Rückweisung verlangt wird, beantragt die Beschwerdeführerin sinngemäss und entsprechend der Beschwerdebegründung die Aufhebung der hier angefochtenen Entscheide resp. die Bestätigung des Einspracheentscheids Nr. 1'609'420 (vgl. Meyer/Dormann in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2011, N. 7 und 15 zu Art. 107 BGG).  
 
3.  
 
3.1. Das Bundesgericht prüft in Bezug auf das vorinstanzliche Verfahren die Zuständigkeit und die weiteren Eintretensvoraussetzungen von Amtes wegen und mit freier Kognition (BGE 140 V 22 E. 4 S. 26; 136 V 7 E. 2 S. 9; 135 V 124 E. 3.1 S. 127).  
 
3.2. Die Beschwerdeführerin rügt zu Recht, dass die Vorinstanz den Beschwerderückzug vom 30. September 2013 des im vorinstanzlichen Verfahren zunächst als Beschwerdeführer aufgetretenen B.________ nicht berücksichtigt hat. Diesbezüglich ist der Entscheid "VBE.2013. 321, VBE.2013.341; Art. 61" von vornherein aufzuheben.  
 
3.3.  
 
3.3.1. Zur Beschwerde ist berechtigt, wer durch die angefochtene Verfügung oder den Einspracheentscheid berührt ist und ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung oder Änderung hat (Art. 59 ATSG [SR 830.1]; hier anwendbar in Verbindung mit Art. 2 ATSG und Art. 1 Abs. 1 AHVG).  
Wer keinen Anspruch aus eigenem Recht hat und somit nicht Verfügungsadressat im materiellen Sinn ist, ist zur Beschwerde nur berechtigt, wenn er über ein spezifisches Rechtsschutzinteresse im Sinne eines unmittelbaren und konkreten, nicht bloss mittelbaren faktischen Interesses an der Aufhebung oder Änderung des streitigen Verwaltungsaktes verfügt oder wenn er in einer spezifischen, besonders nahen Beziehung zur Streitsache steht (BGE 138 V 292 E. 4 S. 296; 133 V 188 E. 4.3.3 S. 192 f.; Urteil 9C_861/2013 vom 22. Oktober 2014 E. 1.1). 
Der auf der Grundlage von Art. 52 AHVG zur Bezahlung von Schadenersatz Verpflichtete ist zur Beschwerde gegen Entscheide berechtigt, mit denen potenziell ebenfalls Ersatzpflichtige von der Haftung befreit werden (BGE 134 V 306 E. 3.2 S. 309 und E. 3.3.2 S. 312). 
 
3.3.2. Die Beschwerdegegner selber waren bei Eröffnung des vorinstanzlichen Verfahrens betreffend A.________ ("VBE.2013.341; Art. 62") lediglich potenziell zu Schadenersatz verpflichtet; anders als der in BGE 134 V 306 Betroffene (vgl. a.a.O., E. 2 S. 308) stellten sie auch ihre eigene Schadenersatzpflicht in Abrede. Ob sie unter diesen Umständen zur Anfechtung des Einspracheentscheids Nr. 1'609'420 betreffend A.________ legitimiert waren, kann offenbleiben.  
Die Vorinstanz hat mit den Entscheiden "VBE.2013.235, VBE.2013. 236, VBE.2013.237; Art. 57", "VBE.2013.235, VBE.2013.236, VBE. 2013.237; Art. 58" und "VBE.2013.235, VBE.2013.236, VBE.2013.237; Art. 59" vom 1. April 2014 eine Schadenersatzpflicht des D.________, E.________ und C.________ explizit verneint. Damit hat sie selber der Annahme eines schutzwürdigen, d.h. unmittelbaren und konkreten Interesses der Genannten an der Aufhebung resp. Änderung des Einspracheentscheids Nr. 1'609'420 die Grundlage entzogen. Auch auf das hier interessierende Rechtsmittel ist sie im Verfahren "VBE.2013.341; Art. 62" folglich zu Unrecht eingetreten. 
 
3.3.3. Dass die drei soeben erwähnten vorinstanzlichen Entscheide beim gleichzeitigen Erlass des angefochtenen Entscheids "VBE.2013. 341; Art. 62" ihrerseits noch anfechtbar waren (vgl. Art. 62 Abs. 1 ATSG), ändert daran nichts: Ein Verfahren (wie jenes betreffend die Schadenersatzpflicht der A.________) kann insbesondere dann sistiert werden, wenn dessen Ausgang von der Entscheidung in anderen Rechtsstreitigkeiten (wie jene betreffend die Schadenersatzpflicht des D.________, E.________ und C.________) beeinflusst werden kann (vgl. § 58 Abs. 2 in Verbindung mit § 47 Abs. 1 und 2 des aargauischen Gesetzes vom 4. Dezember 2007 über die Verwaltungsrechtspflege [Verwaltungsrechtspflegegesetz, VRPG; SAR 271.200]; vgl. auch für das bundesgerichtliche Beschwerdeverfahren Art. 71 BGG in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 BZP [SR 273]).  
 
3.4. Auf die Vorbringen der Beschwerdeführerin, wonach sie zu Unrecht in der Rolle der Beigeladenen direkt zur Zahlung eines Schadenersatzes - in grösserer Höhe als ursprünglich verfügt - verpflichtet worden sei, ist nach dem Gesagten nicht weiter einzugehen. Die Beschwerde ist begründet.  
 
4.   
Entsprechend dem Ausgang des Verfahrens haben die Beschwerdegegner 2-4 die Gerichtskosten zu gleichen Teilen und unter solidarischer Haftbarkeit zu tragen (Art. 65 Abs. 3 lit. b in Verbindung mit Art. 66 Abs. 1 und 5 BGG). Eine Kostenpflicht des Beschwerdegegners 1 entfällt angesichts seines vorinstanzlichen Verhaltens (E. 3.2). 
Die Beschwerdeführerin hat Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 1, 2 und 4 BGG). Ihr Rechtsvertreter macht mit Kostennote vom 9. Februar 2015 ein Honorar von Fr. 3'542.50 sowie Auslagen von Fr. 272.90 geltend. Bis auf die Kosten für Fotokopien und Faxausdrucke, die pro Stück mit Fr. 0.50 statt der verrechneten Fr. 2.- zu entschädigen sind, erscheint dies als angemessen. Bei Kosten von Fr. 100.40 beträgt der Aufwand samt Ersatz der Mehrwertsteuer Fr. 3'934.35. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Die Entscheide "VBE.2013.321, VBE.2013.341; Art. 61" und "VBE.2013.341; Art. 62" des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 1. April 2014 werden aufgehoben und der Einspracheentscheid Nr. 1'609'420 der Ausgleichskasse des Kantons Aargau vom 15. Februar 2013 wird bestätigt. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von insgesamt Fr. 4'500.- werden den Beschwerdegegnern 2-4 zu gleichen Teilen und unter solidarischer Haftbarkeit auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdegegner 2-4 haben den Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren zu gleichen Teilen und unter solidarischer Haftbarkeit mit insgesamt Fr. 3'934.35 zu entschädigen. 
 
4.   
Die Sache wird zur Neuverlegung der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau zurückgewiesen. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien, der Ausgleichskasse des Kantons Aargau, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 9. März 2015 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Glanzmann 
 
Die Gerichtsschreiberin: Dormann