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Eidgenössisches Versicherungsgericht 
Tribunale federale delle assicurazioni 
Tribunal federal d'assicuranzas 
 
Sozialversicherungsabteilung 
des Bundesgerichts 
 
Prozess 
{T 7} 
C 77/05 
 
Urteil vom 9. August 2005 
IV. Kammer 
 
Besetzung 
Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung; Gerichtsschreiberin Hofer 
 
Parteien 
Staatssekretariat für Wirtschaft, Direktion, Arbeitsmarkt/Arbeitslosenversicherung, TCRV, Effingerstrasse 31, 3003 Bern, Beschwerdeführer, 
 
gegen 
 
S.________, 1968, Beschwerdegegnerin, vertreten durch die Fortuna Rechtsschutz-Versicherungs-Gesellschaft, Rechtsdienst, Soodmattenstrasse 2, 8134 Adliswil, 
 
Vorinstanz 
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur 
 
(Entscheid vom 27. Januar 2005) 
 
Sachverhalt: 
A. 
Die 1968 geborene S.________ war gemäss Arbeitsvertrag vom 25. Juli 2002 ab dem 5. August 2002 als Assistentin Deputy Flight Operation bei der X.________ AG angestellt. Am 26. November 2002 wurde über die Gesellschaft der Konkurs eröffnet. Bereits am 15. November 2002 hatte sie bei der Arbeitslosenkasse des Kantons Zürich Antrag auf Insolvenzentschädigung gestellt. Mit Verfügung vom 3. März 2004 anerkannte die Arbeitslosenkasse den Leistungsanspruch für die Zeit vom 1. August bis 8. November 2002. Für die Zeit vom 9. bis 26. November 2002 verneinte sie einen Anspruch auf Insolvenzentschädigung unter Hinweis auf eine Weisung des Staatssekretariats für Wirtschaft (seco), wonach Angestellte der X.________ AG längstens bis 8. November 2002 anspruchsberechtigt seien. Die von der Versicherten dagegen erhobene Einsprache wies die Kasse mit Einspracheentscheid vom 27. Mai 2004 ab. 
B. 
Beschwerdeweise liess S.________ beantragen, es sei der Anspruch auf Insolvenzentschädigung bis 26. November 2002 anzuerkennen. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich hiess die Beschwerde mit Entscheid vom 27. Januar 2005 gut mit der Feststellung, dass die Versicherte für die Zeit vom 9. bis zum 26. November 2002 Anspruch auf Insolvenzentschädigung hat. 
C. 
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das seco, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben, und der Anspruch auf Insolvenzentschädigung für die Zeit vom 9. bis 26. November 2002 sei zu verneinen. 
S.________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen. Die Arbeitslosenkasse beantragt deren Gutheissung. 
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Arbeitslosenversicherungsbereich geändert worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1), sind im vorliegenden Fall die bis zum 31. Dezember 2002 geltenden Bestimmungen anwendbar (BGE 129 V 4 Erw. 2.1). 
2. 
Die Vorinstanz hat die gesetzlichen Bestimmungen über den Anspruch auf Insolvenzentschädigung (Art. 51 Abs. 1 lit. a AVIG) und deren zeitliche Bemessung (Art. 52 Abs. 1 AVIG in der vom 1. September 1999 bis 30. Juni 2003 gültig gewesenen Fassung) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen. 
3. 
3.1 Das kantonale Gericht hat erwogen, aufgrund der Akten habe die Versicherte am 9. Oktober 2002 bei der X.________ AG die Zahlung des Septemberlohnes geltend gemacht, am 1. November 2002 beim Friedensrichteramt Klage auf Bezahlung der ausstehenden Löhne eingereicht und am 27. November 2002 bei der ehemaligen Arbeitgeberin das mit 25. November 2002 datierte Kündigungsschreiben eingereicht. Der Nachweis, dass sie bis am 8. November 2002 eine Kündigung erhalten hätte, sei nicht erbracht. Es sei daher von einem bis zur Konkurseröffnung ungekündigten Arbeitsverhältnis auszugehen. Eine Lohnforderung habe selbst unter Annahme der Kündigung durch die X.________ AG bestanden, zumal die Versicherte gemäss eigenen, nicht weiter bestrittenen, Angaben bis zu diesem Zeitpunkt Arbeit geleistet habe. 
3.2 Das Beschwerde führende Bundesamt macht im Wesentlichen geltend, die Versicherte habe gegen die ihr obliegende Schadenminderungspflicht verstossen. Aufgrund des seit Monaten öffentlich bekannt gewesenen desolaten Zustandes der X.________ AG hätte sie den Arbeitsvertrag längstens kündigen und sich aktiv um eine andere Stelle bemühen müssen. Als Assistant des Vice President Flight Operation habe sie sämtliche Kündigungsschreiben verfasst und sei somit über die unzumutbaren Zustände innerhalb der Firma im Bild gewesen. Spätestens ab Ende Oktober 2002 sei allen Mitarbeitern klar gewesen, dass sie nicht mehr für die Gesellschaft würden arbeiten können und sich unverzüglich beim RAV melden sollten, wenn sie Leistungen der Arbeitslosenversicherung beanspruchen wollten. 
4. 
4.1 Im Urteil N. vom 15. April 2005 (C 214/04), einen Linienpiloten der X.________ AG betreffend, welchem mit Schreiben vom 26. September 2002 auf den 31. Dezember 2002 gekündigt worden war, hat das Eidgenössische Versicherungsgericht erwogen, der Arbeitnehmer könne zwar gemäss Art. 337a OR das Arbeitsverhältnis fristlos auflösen, wenn der Arbeitgeber zahlungsunfähig werde, sofern ihm für seine Forderung aus dem Arbeitsverhältnis nicht innert angemessener Frist Sicherheit geleistet werde. Er sei dazu indessen nicht verpflichtet, und es existiere im Arbeitslosenversicherungsgesetz auch keine Sanktion für eine nicht bestehende Pflicht. Dem Arbeitnehmer stehe mit der obigen Bestimmung die Möglichkeit offen zu verhindern, dass er dem Arbeitgeber auf unbestimmte Zeit Kredit gewährt und das Risiko trägt, die Gegenleistung nicht zu erhalten. Es könne von ihm jedoch nicht unter dem Titel der Schadenminderungspflicht (BGE 129 V 463 Erw. 4.2, 123 V 23 Erw. 3c mit Hinweisen) verlangt werden, diesen Schritt zu machen. Ob der Schaden der Arbeitslosenversicherung damit überhaupt gemindert würde, sei fraglich. Zwar sei die Arbeitslosenentschädigung (Taggelder gemäss Art. 22 AVIG) tiefer als die Insolvenzentschädigung, doch entstünden der Verwaltung aus der Vermittlungstätigkeit ebenfalls Kosten. Könnten Lohnansprüche während der Dauer des Arbeitsverhältnisses nicht erhältlich gemacht werden, bedeute dies zudem noch nicht, dass dies auch im Konkursverfahren der Fall sein werde. Weder Arbeitslosenversicherung noch Arbeitnehmer vermöchten in der Regel die wirtschaftliche Lage und die Sanierungsmöglichkeiten einer sich in finanziellen Schwierigkeiten befindenden Gesellschaft zuverlässig zu beurteilen, zumal wenn die Arbeitgeberin mit dem Hinweis auf Redimensionierungsbemühungen die Lage als weniger dramatisch erscheinen lasse, als sie in Wirklichkeit sei. Es sei für einen Versicherten in einer solchen Situation daher äusserst schwierig zu beurteilen, ab wann er sich der Arbeitslosenversicherung zur Verfügung zu stellen habe, ohne selber Nachteile zu gewärtigen (vgl. auch Urteile H. [C 217/04], S. [C 215/04] und S. [C 218/04] vom 15. April 2005). 
4.2 Dies hat auch mit Bezug auf die Beschwerdegegnerin zu gelten. Das vom seco angeführte Präjudiz (C 167/99), wonach Ansprüche des Arbeitnehmers wegen vorzeitiger Auflösung des Arbeitsverhältnisses nicht durch die Insolvenzentschädigung gedeckt werden, ist nicht einschlägig, da in jenem Fall das Arbeitsverhältnis nicht mehr bestand und die Vermittlungsfähigkeit zu bejahen war. Aufgrund der fristlos erfolgten Entlassung lag es dort auf der Hand, dass die versicherte Person ab jenem Zeitpunkt der Arbeitsvermittlung uneingeschränkt hätte zur Verfügung stehen und nicht Insolvenzentschädigung, sondern Arbeitslosenentschädigung hätte beziehen können. Im vorliegenden Fall konnte keine vor der Konkurseröffnung ausgesprochene fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses oder Freistellung der Arbeitnehmerin nach erfolgter Kündigung nachgewiesen werden. Das seco räumt zudem selber ein, dass die Beschwerdegegnerin Kündigungsschreiben verfasst hat und somit für die Gesellschaft tätig war. 
4.3 Um zu verhindern, dass der Arbeitnehmer beliebig lange ohne Lohn beim bisherigen Arbeitgeber bleibt - so das Eidgenössische Versicherungsgericht im oben erwähnten Urteil N. weiter - habe der Gesetzgeber in Art. 52 Abs. 1 AVIG eine zeitliche Limite für die Bezugsdauer der Insolvenzentschädigung gesetzt. Spätestens nach vier Monaten ohne Lohn sei es dem Arbeitnehmer demnach aus arbeitslosenversicherungsrechtlicher Sicht nicht mehr zumutbar, beim insolventen Arbeitgeber zu verbleiben. 
4.4 Kann der Arbeitnehmer in guten Treuen nicht mehr mit einer Arbeitszuweisung rechnen, kann man sich fragen, ob das Geltendmachen von Insolvenzentschädigung ab jenem Zeitpunkt als rechtsmissbräuchlich im Sinne von Art. 2 Abs. 2 ZGB zu betrachten ist. In BGE 111 V 271 Erw. 3 hat das Eidgenössische Versicherungsgericht einen knappen Monat nicht als rechtsmissbräuchliche Geltendmachung des Anspruchs auf Insolvenzentschädigung betrachtet. In SVR 1996 ALV Nr. 59 S. 181 lag zwischen der konkursamtlichen Siegelung des Betriebes und der Nachlassstundung ebenfalls weniger als ein Monat. Wie das Eidgenössische Versicherungsgericht im erwähnten Urteil N. vom 15. April 2005 ausgeführt hat, ist mit Bezug auf die Angestellten der X.________ AG jener Zeitpunkt ausschlaggebend, als alle oder die meisten Arbeitnehmer im Besitze des Kündigungsschreibens waren und daraus geschlossen werden konnte, dass die wirtschaftliche Lage der Arbeitgeberin hoffnungslos war. Davon ging auch das seco aus. Spätestens Ende Oktober sei allen Mitarbeitenden klar gewesen, dass sie nicht mehr für die X.________ AG würden arbeiten können. Der Stichtag des 8. November 2002 sei gewählt worden, weil aufgrund der Akten feststehe, dass bis dann sämtliche Angestellten im Besitze des Kündigungsschreibens gewesen seien. Im von der Arbeitslosenkasse und dem seco als massgebend bezeichneten 8. November 2002 waren die Monatslöhne September und Oktober ausstehend. Die Konkurseröffnung fand kurz darauf am 26. November 2002 statt, weshalb auch hier nicht von einer rechtsmissbräuchlichen Geltendmachung der Insolvenzentschädigung auszugehen ist. 
5. 
Die Vorinstanz hat in Erwägung 3 ausgeführt, zu prüfen sei der Anspruch auf Insolvenzentschädigung für die Zeit vom 9. bis zum 26. November 2002. Dispositivmässig hat sie den angefochtenen Einspracheentscheid in Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit der Feststellung aufgehoben, dass die Versicherte für die Zeit vom 9. bis zum 26. November 2002 Anspruch auf Insolvenzentschädigung habe. Für die Beschwerdegegnerin bedeutet dies, dass sie von diesem Zeitpunkt an rückwärts gerechnet Anspruch auf Insolvenzentschädigung während vier Monaten hat. Nachdem sie erstmals für den Monat September 2002 den Lohn nicht erhielt, hat sie rückwärts gerechnet für die ganze Dauer des Lohnausstandes bis zum 26. November 2002 Anspruch auf Insolvenzentschädigung. 
6. 
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Die obsiegende Beschwerdegegnerin hat Anspruch auf eine Parteientschädigung zu Lasten des Beschwerde führenden Bundesamtes (Art. 159 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 135 OG). 
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
1. 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird im Sinne der Erwägungen abgewiesen. 
2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
3. 
Das Staatssekretariat für Wirtschaft hat der Beschwerdegegnerin für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2000.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen. 
4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, der Arbeitslosenkasse des Kantons Zürich und dem Amt für Wirtschaft und Arbeit, Arbeitslosenversicherung, Zürich, zugestellt. 
Luzern, 9. August 2005 
 
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
 
Der Präsident der IV. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: