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[AZA 7] 
P 58/01 Bh 
 
III. Kammer 
 
Präsident Borella, Bundesrichter Meyer und Lustenberger; 
Gerichtsschreiber Hadorn 
 
Urteil vom 10. Juli 2002 
 
in Sachen 
S.________, 1932, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Daniel Ehrenzeller, Engelgasse 214, 9053 Teufen/AR, 
 
gegen 
Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen, Beschwerdegegnerin, 
 
und 
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen 
 
Mit Verfügungen vom 4. und 28. Dezember 2000 setzte die Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen die dem 1932 geborenen S.________ bis anhin ausgerichteten Ergänzungsleistungen zur Altersrente neu fest. 
Auf die dagegen erhobene Beschwerde trat das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 18. Juli 2001 nicht ein. 
S.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und beantragen, das kantonale Gericht sei zu verpflichten, auf die Beschwerde einzutreten. Eventuell sei "direkt festzuhalten, dass der unterstellte familienrechtliche Unterhaltsbeitrag von jährlich Fr. 9986.- spätestens ab anfangs 2000 hätte beseitigt werden müssen. " Zugleich ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung. 
 
Die Sozialversicherungsanstalt schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung verzichtet. 
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
 
1.- Vorliegend ist einzig zu prüfen, ob die Vorinstanz zu Recht auf die kantonale Beschwerde nicht eingetreten ist. Hingegen kann der materielle Eventualantrag nicht beurteilt werden (BGE 109 V 120 Erw. 1). 
 
2.- Umstritten ist die Frage, ob der Beschwerdeführer sich bei der Bemessung der ihm zustehenden Ergänzungsleistungen unter dem Titel anrechenbarer familienrechtlicher Unterhaltsbeiträge seitens der getrennt lebenden Ehefrau jährlich Fr. 9986.- als Einkommen entgegenhalten lassen muss. Die Verwaltung rechnete diesen Betrag erstmals in einer Verfügung vom 8. April 1999 betreffend die Ergänzungsleistungen ab 1. Januar 1999 an. In allen nachfolgenden Anpassungsverfügungen blieb die Anrechnung bestehen. Im vorliegenden Verfahren liess der Beschwerdeführer die Berücksichtigung dieses Einkommensteils zum ersten Mal anfechten. 
Die Vorinstanz erwog, die Anrechnung sei mangels Erhebung einer Beschwerde schon bei der ursprünglichen Festlegung mit der Verfügung vom 8. April 1999 in Rechtskraft erwachsen. 
Alle seither ergangenen Anpassungen seien wegen Änderungen anderer Berechnungsfaktoren erfolgt. Die rechtskräftige Anrechnung von Unterhaltsbeiträgen der Ehefrau könne nicht mehr zum Gegenstand eines Prozesses gemacht werden, weshalb auf die kantonale Beschwerde nicht einzutreten sei. 
 
3.- a) Nach der Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts gilt die formelle Rechtskraft einer Verfügung über Dauerrechtsverhältnisse nicht voraussetzungslos. 
Diese beschränkt sich vielmehr auf den Sachverhalt und die Rechtslage zur Zeit des Verfügungserlasses. 
Nun kann aber der Sachverhalt schon zur Zeit des Erlasses der Verfügung unrichtig festgestellt worden sein, oder er kann sich nachträglich ändern. Ebenso kann die Verfügung auf einer anfänglich unrichtigen Rechtsanwendung beruhen oder die objektive Rechtslage kann sich nach Verfügungserlass ändern (BGE 127 V 13 Erw. 4a mit zahlreichen Hinweisen). 
 
b) aa) Das Eidgenössische Versicherungsgericht beantwortet die Frage nach der Tragweite der formellen Rechtskraft nach vier Gesichtspunkten: Erstens soll im Rahmen der prozessualen Revision (als Rechtsprinzip des Sozialversicherungsrechts zur Verwirklichung des materiellen Rechts) eine Verfügung zurückgenommen werden können, die auf von Anfang an fehlerhaften tatsächlichen Grundlagen beruht. 
Zweitens steht die formelle Rechtskraft einer Verfügung über ein Dauerrechtsverhältnis unter dem Vorbehalt, dass nach Verfügungserlass keine erheblichen tatsächlichen Änderungen eintreten, welche mittels Leistungs- oder Rentenrevision zu berücksichtigen sind. Der Korrektur einer anfänglich unrichtigen Rechtsanwendung unter Einschluss der unrichtigen Sachverhaltsfeststellung im Sinne der Würdigung des Sachverhalts dient drittens die Wiedererwägung als allgemeiner Grundsatz des Sozialversicherungsrechts. Viertens ist zu beurteilen, wie es sich mit der formellen Rechtskraft einer Verfügung bei nachträglicher Änderung der objektiven Rechtslage verhält (BGE 127 V 13 Erw. 4b mit zahlreichen Hinweisen). 
 
bb) Wann Änderungen des objektiven Rechts seit Verfügungserlass das Eingreifen in ein rechtskräftig geregeltes Dauerrechtsverhältnis rechtfertigen, wird von der Rechtsprechung differenziert beantwortet. Besteht die Rechtsänderung in einem Eingriff des Gesetzgebers, somit in einer neuen für den Anspruch erheblichen Norm, so ist - die Existenz wohlerworbener Rechte vorbehalten - die Anpassung der Verfügung über ein Dauerrechtsverhältnis nicht nur erlaubt, sondern gefordert. Besteht aber die Änderung des massgebenden Rechts lediglich in einer neuen gerichtlich bestätigten Verwaltungspraxis oder einer neuen Rechtsprechung, so darf die Verfügung über das Dauerrechtsverhältnis grundsätzlich nicht angetastet werden; eine solche Anpassung einer ursprünglich fehlerfreien Verfügung an eine neue gerichtlich bestätigte Verwaltungspraxis oder eine neue Rechtsprechung ist nur ausnahmsweise gerechtfertigt (BGE 127 V 14 Erw. 4c in fine mit Hinweis). Ein wichtiger Ausnahmefall ist dann gegeben, wenn eine neue Praxis in einem solchen Masse allgemeine Verbreitung erhält, dass deren Nichtbefolgung als Verstoss gegen das Gleichheitsgebot erschiene. Unter dieser Voraussetzung liegt im Ergebnis die gleiche Situation vor wie im Falle einer nachträglichen Änderung des objektiven Rechts, so dass eine Praxisänderung Anlass zur Umgestaltung eines Dauerrechtsverhältnisses geben kann (BGE 121 V 162 Erw. 4a in fine mit Hinweisen). 
 
c) Vorliegend geht es um die Anrechnung von Unterhaltsbeiträgen der Ehegattin. Solche Anrechnungen waren in Art. 1 Abs. 3 ELV geregelt, was auch die Verwaltung einräumt. 
In BGE 127 V 18, namentlich 21 ff. Erw. 4, hat das Eidgenössische Versicherungsgericht jedoch die genannte Verordnungsbestimmung als bundesrechtswidrig bezeichnet. 
Spätestens seit dem Datum dieses Urteils (15. Januar 2001) kann Art. 1 Abs. 3 ELV somit nicht mehr angewendet werden. 
Dadurch dürfte eine neue Praxis allgemeine Verbreitung erhalten, indem bisher gesetzwidrig angerechnete Unterhaltsbeiträge von Ehegatten wegfallen, so dass sich daraus Anlass zur Umgestaltung von Dauerrechtsverhältnissen ergibt. 
Damit ist einer der von der Rechtsprechung zugelassenen Gründe zur Änderung derartiger Verhältnisse gegeben (Erw. 3b/bb hievor), weshalb die Vorinstanz auf die kantonale Beschwerde hätte eintreten müssen. Die angefochtenen Verfügungen vom 4. und 28. Dezember 2000 betrafen auch Ergänzungsleistungen ab Januar 2001, somit ab jenem Monat, in welchem das Urteil gefällt wurde. Im Weiteren hat der Versicherte im kantonalen Prozess ausdrücklich eine rückwirkende Korrektur mindestens ab Anfang 2000 verlangt. 
Deshalb hätte die Vorinstanz, ehe sie auf die Beschwerde nicht eintrat, überdies prüfen müssen, ob noch andere der gemäss Rechtsprechung anerkannten Gründe zur Änderung von Dauerrechtsverhältnissen vorlagen und gegebenenfalls eine Handhabe zur - vielleicht rückwirkenden - Änderung der bisher ausgerichteten Ergänzungsleistungen boten. Zu einer solchen Prüfung bestand ausreichender Anlass, machte doch der Beschwerdeführer in der kantonalen Replik vom 3. Mai 2001 geltend, seine Ehefrau habe die Stelle am Spital X.________ (auf dem dort bezogenen Lohn basiert die Berechnung des streitigen Betrags von Fr. 9986.-) Ende Oktober 1999 aufgegeben und seither weniger Einkommen erzielt. 
Es ist daher nicht auszuschliessen, dass sachverhaltlich relevante Änderungen eingetreten sind. Unklar ist auch, ob und inwieweit das Ehescheidungsverfahren sich auf die streitige Anrechnung auswirkt. 
 
d) Bereits aus dem Gesagten ergibt sich, dass die Vorinstanz auf die kantonale Beschwerde hätte eintreten müssen. 
Hinzu kommt, dass das Eidgenössische Versicherungsgericht in der Zwischenzeit das zur Publikation in BGE 128 V bestimmte Urteil L. vom 5. März 2002 (P 71/01) gefällt hat, welches die Rechtsbeständigkeit von Verfügungen im Bereich der Ergänzungsleistungen betrifft. Darin hat es festgehalten, dass Ergänzungsleistungen grundsätzlich jährlich ausgerichtet werden (Art. 3 Abs. 1 lit. a ELG). Basis ist das Kalenderjahr (Art. 3a Abs. 2 ELG). Für die Bemessung der Ergänzungsleistungen ist in der Regel das während des vorausgegangenen Kalenderjahres erzielte Einkommen sowie das am 1. Januar des Bezugsjahres vorhandene Vermögen massgeblich (Art. 23 Abs. 1 ELV). In Anbetracht der formell-gesetzlichen Ausgestaltung der Ergänzungsleistungen als einer auf das Kalenderjahr bezogenen Versicherung kann eine Verfügung darüber in zeitlicher Hinsicht von Vornherein nur für ein Kalenderjahr Rechtsbeständigkeit entfalten. Dies bedeutet, dass die Grundlagen zur Berechnung der Ergänzungsleistungen im Rahmen der jährlichen Überprüfung ohne Bindung an die früher verwendeten Berechnungsfaktoren und unabhängig von der Möglichkeit der während der Bemessungsdauer vorgesehenen Revisionsgründe (Art. 25 ELV) von Jahr zu Jahr neu festgelegt werden können. 
 
e) Unter diesen Umständen ist die Sache an das kantonale Gericht zurückzuweisen, damit es untersuche, ob und gegebenenfalls in Bezug auf welche Zeitspannen auf die Anrechnung des Unterhaltsbeitrags der Ehefrau zurückgekommen werden kann, und die kantonale Beschwerde insoweit materiell beurteile. 
 
4.- Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Da der Beschwerdeführer obsiegt, wird das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung gegenstandslos. 
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
 
I. In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird 
der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons 
St. Gallen vom 18. Juli 2001 aufgehoben und die Sache 
an die Vorinstanz zurückgewiesen, damit sie im Sinne 
der Erwägungen verfahre. 
 
II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
III. Die Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Eidg. Versicherungsgericht eine Parteientschädigung 
 
 
von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu 
bezahlen. 
 
IV. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt. 
 
 
Luzern, 10. Juli 2002 
 
Im Namen des 
Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
Der Präsident der III. Kammer: 
 
Der Gerichtsschreiber: