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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
5C.45/2005 /bnm 
 
Urteil vom 11. April 2005 
II. Zivilabteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Raselli, Präsident, 
Bundesrichterin Nordmann, Bundesrichter Meyer, 
Gerichtsschreiber von Roten. 
 
Parteien 
B.________, 
Berufungsklägerin, 
vertreten durch Rechtsanwalt Edmund Schönenberger, 
 
gegen 
 
Obergericht des Kantons Aargau, Kammer für Vormundschaftswesen und deren Präsident, 
Obere Vorstadt 38, 5000 Aarau. 
 
Gegenstand 
fürsorgerische Freiheitsentziehung bei Unmündigen, 
 
Berufung gegen die Verfügung des Obergerichts des Kantons Aargau, Kammer für Vormundschaftswesen, Präsident, vom 10. Januar 2005, und gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau, Kammer für Vormundschaftswesen, vom 12. Januar 2005. 
 
Sachverhalt: 
A. 
Mit Präsidialentscheid vom 30. November 2004 ordnete die Vormundschaftsbehörde W.________ für B.________, Jahrgang 1988, den fürsorgerischen Freiheitsentzug an und wies B.________ in die Psychiatrische Klinik V.________ ein. Im Beschwerdeverfahren vor Obergericht des Kantons Aargau wies der Präsident der Kammer für Vormundschaftswesen Anträge auf Erlass superprovisorischer Verfügungen ab, soweit darauf eingetreten werden konnte (Verfügung vom 10. Januar 2005). In der Sache stellte das Obergericht eine Rechtsverzögerung fest (E. 2 S. 11 f.), hob den angefochtenen Präsidialentscheid auf und ordnete die Entlassung von B.________ aus der Klinik an (E. 3a S. 13 und Dispositiv-Ziff. 1). Alle weiteren Anträge - vorab auf Feststellung von Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) - wurden abgewiesen, soweit darauf eingetreten werden konnte (E. 3b und 4 S. 13 ff. und Dispositiv-Ziff. 2 des Entscheids vom 12. Januar 2005). 
B. 
Mit eidgenössischer Berufung beantragt B.________ dem Bundesgericht, die Verfügung vom 10. Januar 2005 sowie Dispositiv-Ziff. 2 des Entscheids vom 12. Januar 2005 aufzuheben und ihre Begehren auf Feststellung von Verletzungen der EMRK gutzuheissen. Für das Berufungsverfahren ersucht B.________ um unentgeltliche Rechtspflege. Das Obergericht hat auf Gegenbemerkungen verzichtet. 
C. 
Mit Urteil vom heutigen Tag hat die II. Zivilabteilung des Bundesgerichts die gleichzeitig gegen die nämlichen Entscheide erhobene staatsrechtliche Beschwerde der Berufungsklägerin abgewiesen, soweit darauf eingetreten werden konnte (5P.57/2005). 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Mit der Präsidialverfügung vom 10. Januar 2005 sind Anträge auf Erlass superprovisorischer Verfügungen abgewiesen worden, soweit darauf eingetreten werden konnte. Ein solcher Entscheid, der die Verhältnisse für die Dauer des Verfahrens und damit nur vorläufig bis zum Erlass des Entscheids in der Sache regelt, gilt nicht als Endentscheid im Sinne von Art. 48 OG (BGE 104 II 216 E. 2 S. 217). Nicht eingetreten werden kann deshalb auf die Berufung, soweit damit die Aufhebung der Präsidialverfügung vom 10. Januar 2005 verlangt wird (S. 1 und Ziff. 9 S. 18 f. der Berufungsschrift). Mit Berufung kann hingegen der Entscheid des Obergerichts vom 12. Januar 2005 betreffend Unterbringung in einer Anstalt (Art. 314a ZGB) angefochten werden (Art. 44 lit. d und Art. 48 Abs. 1 OG; vgl. aber E. 2.1 sogleich). 
2. 
Das Obergericht hat die Entlassung der Berufungsklägerin aus der Klinik angeordnet, ist hingegen auf die - im Übrigen auch als unbegründet bezeichneten - Begehren nicht eingetreten, Verletzungen von Bestimmungen der EMRK ausdrücklich und im Entscheiddispositiv festzustellen. Gegen die daherige Dispositiv-Ziff. 2 des angefochtenen Entscheids wendet sich die Berufungsklägerin (vorab in Ziff. 5-13 S. 10 ff. der Berufungsschrift). 
2.1 Zur Anfechtung der fürsorgerischen Freiheitsentziehung ist die Berufungsklägerin nach erfolgter Entlassung - hier unzutreffende Ausnahmefälle vorbehalten - nicht legitimiert. Es fehlt ihr an der erforderlichen Beschwer (BGE 109 II 350 Nr. 73 und die seitherige ständige Rechtsprechung, z.B. Urteile 5C.72/2000 vom 17. März 2000 und 5C.191/2001 vom 14. August 2001). Beschwert ist die Berufungsklägerin hingegen durch die Verneinung eines schutzwürdigen Interesses an den beantragten Feststellungen. Die Frage betrifft Bundesrecht, dessen Verletzung die Berufungsklägerin auch behauptet. Soweit sie ihren Feststellungsanspruch auf Bestimmungen der EMRK stützt, kann auf die Berufung nicht eingetreten werden. Die Europäische Menschenrechtskonvention ist zwar ein völkerrechtlicher Vertrag und damit Bundesrecht im Sinne von Art. 43 Abs. 1 OG (Satz 1). Die Rechtsprechung stellt jedoch die Verletzung von Konventionsgarantien in verfahrensrechtlicher Hinsicht der Verletzung verfassungsmässiger Rechte gleich, die auf Grund des ausdrücklichen Vorbehalts in Art. 43 Abs. 1 OG (Satz 2) mit staatsrechtlicher Beschwerde und nicht mit eidgenössischer Berufung geltend zu machen ist (BGE 101 Ia 67 Nr. 13; seither z.B. BGE 124 III 1 E. 1b S. 2). Diesbezüglich kann auf das im Urteil über die staatsrechtliche Beschwerde (E. 3) Gesagte verwiesen werden. 
2.2 Die Feststellungsklage ist bundesrechtlich zulässig, wenn der Kläger ein tatsächliches oder rechtliches Interesse an der sofortigen Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses hat. Ein solches Interesse besteht grundsätzlich dort, wo die Ungewissheit der Rechtsbeziehungen zwischen den Parteien durch die gerichtliche Feststellung behoben werden kann und die Fortdauer der Ungewissheit der klagenden Partei nicht zuzumuten ist. Es fehlt hingegen regelmässig, wenn eine Leistungs- oder Gestaltungsklage erhoben werden kann (allgemein: BGE 123 III 49 E. 1a S. 51; 125 II 152 E. 2 S. 160; 128 V 41 E. 3a S. 48). Eine Klagemöglichkeit, die die Feststellungsklage ausschliesst, besteht im Bereich der fürsorgerischen Freiheitsentziehung. Nach Art. 429a ZGB hat Anspruch auf Schadenersatz und, wo die Schwere der Verletzung es rechtfertigt, auf Genugtuung, wer durch eine widerrechtliche Freiheitsentziehung verletzt wird (Abs. 1). Im Verantwortlichkeitsprozess wird die Rechtmässigkeit der fürsorgerischen Freiheitsentziehung (Art. 397a ff. ZGB) überprüft. An einer Feststellung der Verletzung einzelner Voraussetzungen der fürsorgerischen Freiheitsentziehung besteht deshalb kein schutzwürdiges Interesse. Unter diesem Blickwinkel verletzt der obergerichtliche Nichteintretensentscheid kein Bundesrecht (BGE 118 II 254 E. 1c S. 258; Urteil 5C.153/1996 vom 30. Juli 1996, E. 3). 
 
Die Feststellung der Widerrechtlichkeit kann nun aber "eine andere Art der Genugtuung" bedeuten, auf die das Gericht im Sinne von Art. 49 Abs. 2 OR anstatt oder neben einer Geldleistung erkennen darf. Auf diese Möglichkeit der Kompensation durch Feststellung der Widerrechtlichkeit verweist die Berufungsklägerin insoweit zu Recht. Diese Form der Genugtuung hat das Bundesgericht in seinem Leiturteil BGE 118 II 254 Nr. 52 (einen Direktprozess betreffend) nicht als ausgeschlossen, sondern im konkreten Fall als nicht rechtsgenüglich geltend gemacht betrachtet (BGE 118 II 254 E. 1c S. 258). Es stellt sich die Frage, ob Feststellungsbegehren als Begehren auf Leistung von Genugtuung "anderer Art" (Art. 429a Abs. 1 ZGB i.V.m. Art. 49 Abs. 2 OR) im Verfahren der gerichtlichen Beurteilung einer fürsorgerischen Freiheitsentziehung gestellt und gleichsam mit einem Begehren um Entlassung aus der fürsorgerischen Freiheitsentziehung verbunden werden können. 
 
Das Bundesgericht hat sich mit der aufgeworfenen Frage bereits befasst und festgehalten, mit der gerichtlichen Beurteilung der Freiheitsentziehung im Sinne von Art. 397d ZGB könnten weder Begehren, die sich auf die Behandlungsmethoden in der psychiatrischen Klinik beziehen, noch Klagen gemäss Art. 429a ZGB verbunden werden. Eine Verbindung des Entlassungsgesuchs mit einer Klage gemäss Art. 429a ZGB stünde vielmehr im Widerspruch zu den Regeln über die gerichtliche Beurteilung der fürsorgerischen Freiheitsentziehung (Art. 397d-f ZGB), die ein möglichst einfaches und rasches Verfahren gewährleisten wollten (Urteil 5C.76/1991 vom 19. Juni 1991, E. 2; Beschluss 5C.109/1994 vom 26. September 1994, E. 1b, letzter Absatz). Der bundesgerichtlichen Auffassung wird - soweit ersichtlich - in Lehre und kantonaler Praxis gefolgt, namentlich auch mit Rücksicht darauf, dass die Kantone grundsätzlich frei sind, für die Beurteilung der fürsorgerischen Freiheitsentziehung gemäss Art. 397d ZGB und für Verantwortlichkeitsprozesse gemäss Art. 429a ZGB verschiedene Gerichtsbehörden einzusetzen. Es kann somit nicht beanstandet werden, wenn die für die Entlassung aus der fürsorgerischen Freiheitsentziehung zuständige Instanz auf gleichzeitig gestellte Feststellungs- und/oder Genugtuungsbegehren nicht eintritt (vgl. Spirig, Zürcher Kommentar, 1995, N. 129 und N. 133 f. zu Art. 397e und N. 9-11 zu Art. 397f ZGB, mit Hinweisen; Imhof, Der formelle Rechtsschutz, insbesondere die gerichtliche Beurteilung, bei der fürsorgerischen Freiheitsentziehung, Diss. Freiburg i.Ue. 1999, S. 161 und S. 215/216; seither, z.B. EGV-SZ 2002 E. 1d S. 143 f.; AGVE 2001 E. 2b/bb/aaa S. 231). 
2.3 Der angefochtene Nichteintretensentscheid verletzt aus den dargelegten Gründen kein Bundesrecht. Dass das Obergericht die Feststellungsbegehren in einer Zusatzbegründung auch noch abgewiesen hat, vermag als blosses Entscheidmotiv die Berufungsklägerin nicht zu beschweren (BGE 130 III 321 E. 6 S. 328). 
3. 
Die Berufung muss nach dem Gesagten abgewiesen werden, soweit darauf einzutreten ist. Die Berufungsklägerin wird damit kostenpflichtig (Art. 156 Abs. 1 OG). Ihrem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege kann wegen offensichtlicher Aussichtslosigkeit der Begehren nicht entsprochen werden (Art. 152 Abs. 1 OG). Die gezeigten Grundsätze sind in Lehre und Rechtsprechung unbestritten und wiederholt dargelegt worden. Der Rechtsvertreter der Berufungsklägerin bzw. dessen Bureaupartner haben die bundesgerichtliche Praxis im Übrigen zumindest teilweise mitbegründet und veranlasst. Insgesamt konnte den Berufungsanträgen von Beginn an kein Erfolg beschieden sein. Auf die Erhebung von Gerichtskosten kann unter den Umständen des vorliegenden Falls ausnahmsweise verzichtet werden. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
1. 
Die Berufung wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
2. 
Das Gesuch der Berufungsklägerin um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen. 
3. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
4. 
Dieses Urteil wird der Berufungsklägerin und dem Obergericht des Kantons Aargau, Kammer für Vormundschaftswesen, schriftlich mitgeteilt. 
 
Lausanne, 11. April 2005 
Im Namen der II. Zivilabteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: