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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1P.655/2006 /fun 
 
Urteil vom 11. Dezember 2006 
I. Öffentlichrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Féraud, Präsident, 
Bundesrichter Aeschlimann, Fonjallaz, 
Gerichtsschreiber Kessler Coendet. 
 
Parteien 
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Markus Weber, 
 
gegen 
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau, 
Frey-Herosé-Strasse 12, 5001 Aarau, 
Obergericht des Kantons Aargau, 1. Strafkammer, Obere Vorstadt 38, 5000 Aarau, 
Obergericht des Kantons Aargau, Verwaltungskommission, Obere Vorstadt 40, 5000 Aarau. 
 
Gegenstand 
Art. 30 BV, Art. 6 EMRK (Ablehnung), 
 
Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid der Verwaltungskommission des Obergerichts des Kantons Aargau vom 20. September 2006. 
 
Sachverhalt: 
A. 
Das Bezirksgericht Kulm verurteilte X.________ am 13. Januar 2004 wegen vorsätzlicher Tötung und eines nicht damit zusammenhängenden Verkehrsdelikts zu 13 Jahren Zuchthaus, unter Anrechnung der erstandenen Untersuchungshaft. Ferner ordnete es eine vollzugsbegleitende ambulante psychotherapeutische Behandlung an. 
 
Eine von der Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau erhobene Berufung hiess das Obergericht des Kantons Aargau, 1. Strafkammer, am 11. Mai 2005 teilweise gut. Es ordnete die Verwahrung des Verurteilten an und bestätigte im Übrigen das erstinstanzliche Urteil. An diesem Urteil wirkten Oberrichter U. Wuffli, Präsident, Oberrichter G. Marbet und Oberrichterin D. Briner sowie die Gerichtsschreiberin S. Stöckli mit. 
 
Der Kassationshof des Bundesgerichts hiess seinerseits mit Urteil 6S.258/2005 vom 24. September 2005 eine vom Verurteilten eingereichte Nichtigkeitsbeschwerde gut. Der Kassationshof betrachtete das bestehende Gutachten der Psychiatrischen Dienste des Kantons Aargau vom 16. Mai 2003 über den Beschuldigten nicht als genügende Grundlage für die Anordnung einer Verwahrung. Demzufolge wurde das Urteil des Obergerichts vom 11. Mai 2005 aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. 
B. 
In der Folge holte die 1. Strafkammer des Obergerichts bei der Psychiatrischen Klinik A.________ ein Ergänzungsgutachten ein; dieses wurde am 31. Juli 2006 erstattet. Im Rahmen der Stellungnahme zum Ergänzungsgutachten liess X.________ durch seinen Verteidiger ein Ablehnungsbegehren gegen alle vier Mitwirkenden am ersten obergerichtlichen Urteil stellen. Die Verwaltungskommission des Obergerichts wies das Ausstandsbegehren am 20. September 2006 ab. 
C. 
Gegen den Entscheid der Verwaltungskommission des Obergerichts führt X.________ staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung der Ausstandspflicht. Er verlangt die Aufhebung des angefochtenen Entscheids. Ausserdem ersucht er um Gewährung der aufschiebenden Wirkung sowie der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung. 
Die Staatsanwaltschaft und die Verwaltungskommission beantragen die Abweisung der Beschwerde. Die 1. Strafkammer des Obergerichts hat sich nicht vernehmen lassen. 
D. 
Der Präsident der I. öffentlichrechtlichen Abteilung hat das Gesuch um aufschiebende Wirkung mit Verfügung vom 30. Oktober 2006 abgewiesen. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
1.1 Der angefochtene Entscheid ist kantonal letztinstanzlich und stützt sich auf kantonales Recht; es wurden Ausstandsfragen beurteilt. Gegen derartige Zwischenentscheide steht im Bund die staatsrechtliche Beschwerde zur Verfügung (Art. 84 Abs. 2, Art. 86 Abs. 1 und Art. 87 Abs. 1 OG). Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen gegeben sind, ist auf die Beschwerde einzutreten. 
1.2 Der Beschwerdeführer beruft sich auf die Garantie des verfassungsmässigen Richters, wie sie sich aus Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK ergibt. Ausserdem wird eine Verletzung von § 42 Abs. 1 Ziff. 3 der Strafprozessordnung des Kantons Aargau vom 11. November 1958 (StPO/AG; SAR 251.100) gerügt. Nach dieser Bestimmung kann ein Richter oder Protokollführer abgelehnt werden, wenn andere Tatsachen - als ein besonderes Verhältnis zu einer Partei (Ziff. 1) oder ihrem Rechtsvertreter (Ziff. 2) - vorliegen, die in dem zu beurteilenden Falle seine Befangenheit befürchten lassen. Der Beschwerdeführer macht jedoch nicht geltend, dass der durch diese kantonale Vorschrift gewährte Schutz weiter reiche als die verfassungs- und konventionsrechtliche Garantie. Daher ist vorliegend einzig, und zwar mit freier Kognition, zu prüfen, ob diese Garantie eingehalten ist (BGE 131 I 113 E. 3.2 S. 115 mit Hinweisen). 
2. 
Nach Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK, die in dieser Hinsicht dieselbe Tragweite aufweisen, hat der Einzelne Anspruch darauf, dass seine Sache von einem unparteiischen, unvoreingenommenen und unbefangenen Richter ohne Einwirken sachfremder Umstände entschieden wird. Liegen bei objektiver Betrachtungsweise Gegebenheiten vor, die den Anschein der Befangenheit und die Gefahr der Voreingenommenheit zu begründen vermögen, ist die Garantie verletzt (BGE 131 I 24 E. 1.1 S. 25, 113 E. 3.4 S. 116, je mit Hinweisen). 
Der Eindruck möglicher Voreingenommenheit kann bei den Parteien entstehen, wenn einzelne Gerichtspersonen in einem früheren Verfahren mit der konkreten Streitsache schon einmal befasst waren. In einem solchen Fall der sog. Vorbefassung stellt sich die Frage, ob sich ein Richter durch seine Mitwirkung an früheren Entscheidungen in einzelnen Punkten bereits in einem Mass festgelegt hat, das ihn nicht mehr als unbefangen und dementsprechend das Verfahren als nicht mehr offen erscheinen lässt. Ob von einer unzulässigen, den Verfahrensausgang vorwegnehmenden Vorbefassung eines Richters auszugehen ist, kann nicht generell gesagt werden, sondern ist im Einzelfall anhand der tatsächlichen und verfahrensrechtlichen Umstände zu untersuchen (BGE 131 I 113 E. 3.4 116 f. mit Hinweisen). 
 
Die Tatsache, dass ein Richter an einem Urteil mitgewirkt hat, das im Rechtsmittelverfahren aufgehoben wird, schliesst diesen nach der Rechtsprechung noch nicht von der Neubeurteilung der zurückgewiesenen Sache aus, zumal er sich dabei an die Auffassung der Rechtsmittelinstanz zu halten hat (vgl. BGE 131 I 113 E. 3.6 S. 120 mit Hinweisen). Es ist zwar einfühlbar, dass eine Partei einem Richter misstraut, vor dem sie in einem vorangegangenen Verfahren unterlegen ist. Da aber die Befürchtung der Voreingenommenheit nach der Rechtsprechung objektiv begründet erscheinen muss, bedarf es zusätzlicher Tatsachen, die den Schluss auf Parteilichkeit zulassen. Das kann der Fall sein, wenn der Richter nach Aufhebung seines früheren Urteils durch die obere Instanz auf seine Überzeugung zurückkommen und etwa entgegen seiner persönlichen Gewissheit Beweismassnahmen ausführen sowie deren Ergebnisse neu werten müsste (BGE 116 Ia 28 E. 2b S. 30 f.). 
3. 
3.1 Vorliegend stellt sich die Ausstandsfrage in einem Fall der Vorbefassung. Die vom Beschwerdeführer abgelehnten Justizpersonen haben bereits an dem - vom Kassationshof des Bundesgerichts aufgehobenen - Berufungsurteil vom 11. Mai 2005 gegen den Beschwerdeführer mitgewirkt. In diesem Berufungsurteil wurde die Verwahrung des Beschwerdeführers angeordnet. Insofern stellte der Kassationshof in seinem Urteil vom 24. September 2005 eine mangelhafte Abklärung des rechtserheblichen Sachverhalts in folgender Hinsicht fest: Das psychiatrische Gutachten vom 16. Mai 2003 war zu wenig schlüssig bezüglich der Notwendigkeit dieser Massnahme im konkreten Fall (Urteil 6S.258/2005, E. 2.3). 
3.2 Im Gegensatz zum bundesgerichtlichen Entscheid hatte die 1. Strafkammer des Obergerichts dieses Gutachten im Berufungsurteil für schlüssig gehalten. Sie hatte das vom Beschwerdeführer zuvor beantragte zusätzliche psychiatrische Gutachten ausdrücklich abgelehnt. Damit liegt dem aufgehobenen Entscheid insofern eine antizipierte Beweiswürdigung zugrunde. Dessen ungeachtet vertritt die obergerichtliche Verwaltungskommission im angefochtenen Entscheid die Auffassung, die abgelehnten Gerichtspersonen seien einer unbefangenen Würdigung des inzwischen eingeholten Ergänzungsgutachtens hinreichend zugänglich. Diese hätten - nach dem Berufungsurteil zu schliessen - bloss die Aussagekraft des ersten Gutachtens falsch verstanden; sie hätten indessen dort keine antizipierende Beweiswürdigung in dem Sinne vorgenommen, dass die damals noch abgelehnte Einholung eines zusätzlichen Gutachtens zu keinem anderen Ergebnis als zu einer Verwahrung führen könnte. 
3.3 Die vom Beschwerdeführer vorgebrachten Einwände gegen die Würdigung im angefochtenen Entscheid überzeugen nicht. 
 
Dass die 1. Strafkammer des Obergerichts ein ergänzendes Gutachten im Zusammenhang mit der zur Diskussion stehenden Verwahrung im ersten Urteil ablehnte, beruhte offensichtlich auf ihrem unrichtigen Verständnis des vorhandenen Gutachtens. Zwar trifft es zu, dass die sichernde Massnahme in jenem Urteil nicht nur mit den Ausführungen dieses Gutachtens, sondern auch mit der vom Gericht selbst gewürdigten Vorgeschichte des Beschwerdeführers gerechtfertigt wurde. Hierbei hatte es aber nicht die Meinung, ein zusätzliches Gutachten erübrige sich auch wegen dieser Vorgeschichte. Im Gegenteil stellte jenes Urteil die Pflicht, den Entscheid über eine Verwahrung auf eine rechtsgenügliche psychiatrische Expertise abzustützen, nicht in Frage. 
 
Wie der angefochtene Entscheid zu Recht festhält, wurde im fraglichen Urteil auch nicht zum Ausdruck gebracht, dass der Inhalt eines zusätzlichen Gutachtens für den Verfahrensausgang unerheblich wäre. Die Verwahrung wurde vielmehr unter ausdrücklichem Bezug auf die damalige gutachterliche Einschätzung beschlossen, wonach wenig Aussicht bestehe, das Rückfallrisiko des Beschwerdeführers mit irgendeiner in Frage kommenden Therapie wesentlich reduzieren zu können. Eine derartige Entscheidbegründung schliesst es nicht von vornherein aus, dass die Notwendigkeit einer Verwahrung bei einer abweichenden gutachterlichen Stellungnahme hätte verneint werden können. 
3.4 Zusammengefasst: Der antizipierten Beweiswürdigung, mit der ein ergänzendes Gutachten als entbehrlich eingestuft wurde, kam im Hinblick auf die damals zu Unrecht angeordnete Verwahrung nur eine beschränkte Tragweite zu. Daraus lässt sich keine Voreingenommenheit für eine erneute Prüfung dieser Massnahme, nach Vorliegen des verlangten Ergänzungsgutachtens, ableiten. 
4. 
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde abzuweisen. Die Voraussetzungen von Art. 152 OG sind erfüllt. Dem Begehren um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung kann entsprochen werden. 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen. 
2. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird gutgeheissen. 
2.1 Es werden keine Kosten erhoben. 
2.2 Rechtsanwalt Markus Weber wird als amtlicher Rechtsvertreter bestellt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit einem Honorar von Fr. 1'500.-- entschädigt. 
3. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft sowie dem Obergericht des Kantons Aargau, 1. Strafkammer und Verwaltungskommission, schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 11. Dezember 2006 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: