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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
6B_859/2009 
 
Urteil vom 12. Januar 2010 
Strafrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Favre, Präsident, 
Bundesrichter Wiprächtiger, Bundesrichterin 
Jacquemout-Rossari. 
Gerichtsschreiber Keller. 
 
Parteien 
X.________, vertreten durch Rechtsanwalt Markus Schultz, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
Y.________, 
Beschwerdegegner, 
Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau, 8510 Frauenfeld, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Einstellungsverfügung (fahrlässige schwere Körperverletzung), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid der Anklagekammer des Kantons Thurgau vom 21. April 2009. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
Mit Verfügung vom 11. Februar 2009 stellte das Bezirksamt Münchwilen die Strafuntersuchung gegen Y.________ wegen Verdachts der fahrlässigen Körperverletzung infolge Verkehrsunfalls ein. 
Gegen diese Einstellungsverfügung erhob X.________ Beschwerde an die Anklagekammer des Kantons Thurgau. Am 21. April 2009 wies diese die Beschwerde ab. 
 
B. 
X.________ führt Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht. Sie beantragt, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und das Verfahren an das Bezirksamt Münchwilen zur Weiterführung der Strafuntersuchung wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung i.S.v. Art. 125 Abs. 2 StGB und zur anschliessenden Anklageerhebung an das zuständige Gericht zurückzuweisen. 
 
C. 
Die Vorinstanz beantragt die Abweisung der Beschwerde unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zulasten der Beschwerdeführerin, die übrigen Verfahrensbeteiligten liessen sich nicht vernehmen. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
Die Vorinstanz geht von folgendem Sachverhalt aus: 
Am 11. April 2007, um 12.07, Uhr ereignete sich in Dussnang (TG) ein Verkehrsunfall. Der Beschwerdegegner kollidierte mit seinem Auto mit der plötzlich auf die Strasse rennenden X.________ (Jg. 1997) und verletzte diese schwer. Sie erlitt unter anderem ein schweres Schädelhirntrauma, eine Schädel- und Nasenbeintrümmerfraktur sowie Rissquetschwunden, wobei mit bleibenden Beeinträchtigungen zu rechnen ist (pag. 32 der vorinstanzlichen Akten). 
Die zulässige Höchstgeschwindigkeit beim Weiler "Hätterschwil" an der Tanneggstrasse war damals mit 80 km/h (heute 50 km/h) signalisiert. Das angeordnete Gutachten ergab eine gefahrene Geschwindigkeit von mindestens 81 km/h und maximal 89 km/h. Gemäss Gutachten wäre auch bei Einhaltung der maximal zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h der Unfall unvermeidlich gewesen. 
 
2. 
2.1 Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen die Einstellung des Strafverfahrens. Trotz bestehender Zweifel an der Beweislage sei dieses eingestellt worden, obwohl nach der Maxime "in dubio pro duriore" im Zweifelsfall Anklage zu erheben sei. Es müsse Anklage erhoben werden, wenn eine Verurteilung wahrscheinlicher erscheine als ein Freispruch (Beschwerde, S. 5). 
Der Beschwerdegegner befahre die Unfallstrecke täglich und habe auch schon Kinder auf der Strasse spielen sehen. Er habe deshalb erklärt, es müsse immer wieder damit gerechnet werden, dass Kinder auf die Strasse kämen (Beschwerde, S. 6). 
Die signalisierte Höchstgeschwindigkeit bedeute nicht, dass diese unter allen Umständen ausgefahren werden könne. Sie gelte vielmehr nur bei günstigen Verhältnissen, die angesichts der bekannten Gefahren, nämlich spielende Kinder, Sichtbehinderung durch eine ca. ein Meter hohe Hecke, hohes Verkehrsaufkommen sowie eine Linkskurve nicht bestanden hätten (Beschwerde, S. 8 ff.). 
Durch die Verfahrenseinstellung habe die Vorinstanz Art. 137 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 StPO/TG willkürlich angewendet. Zudem habe sie Art. 125 Abs. 2 StGB und Art. 32 Abs. 1 SVG verletzt sowie ihr rechtliches Gehör in willkürlicher Art beschnitten. 
 
2.2 Nach Auffassung der Vorinstanz kann aus dem Umstand, dass der Beschwerdegegner im Bereich der Unfallstelle schon Kinder gesehen habe, nicht abgeleitet werden, an der fraglichen Stelle überquere jederzeit plötzlich ein Kind rennend die Strasse. Ferner habe der Beschwerdegegner an jener Stelle zur Unfallzeit noch nie Kinder gesehen. Es könne deshalb nicht davon ausgegangen werden, die entsprechende Stelle sei besonders gefährlich oder hindernisträchtig. Der Beschwerdegegner habe deshalb nicht mit dem überraschenden Auftauchen der Beschwerdeführerin rechnen müssen. Eine Mässigung seiner im Bereich der entsprechenden Signalisation von 80 km/h liegenden Geschwindigkeit sei nicht angezeigt gewesen (angefochtenes Urteil, S. 9) und der Einstellungsentscheid des Bezirksamts Münchwilen zu bestätigen. 
 
2.3 Die Vorinstanz stützt ihren Einstellungsentscheid nicht auf bundesrechtliche Opportunitätserwägungen, sondern auf Art. 137 Abs. 1 StPO/TG. Nach dieser Bestimmung ist die Untersuchung einzustellen, wenn zureichende Gründe für eine weitere Strafverfolgung fehlen. 
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung wird im Sinne des Grundsatzes "in dubio pro duriore" verlangt, dass im Zweifel Anklage zu erheben respektive zu überweisen ist. Als praktischer Richtwert kann dabei gelten, dass Anklage erhoben werden muss, wenn eine Verurteilung wahrscheinlicher erscheint als ein Freispruch. Dahinter steckt die Überlegung, dass bei nicht eindeutiger Beweislage nicht die Untersuchungs- oder Anklagebehörden, sondern die für die materielle Beurteilung zuständigen Gerichte über einen Vorwurf entscheiden sollen. Bei der Anklageerhebung gilt daher der auf die gerichtliche Beweiswürdigung zugeschnittene Grundsatz "in dubio pro reo" nicht. Vielmehr ist nach der Maxime "in dubio pro duriore" (im Zweifelsfall wegen des schwereren Delikts) Anklage zu erheben (Urteil des Bundesgerichts 6B_588/2007 vom 11. April 2008 E. 3.2 mit zahlreichen Hinweisen auf Lehre und Rechtsprechung). 
 
2.4 Der Grundsatz, dass im Zweifelsfall nicht eingestellt werden darf, ist auch bei der gerichtlichen Überprüfung von Einstellungsverfügungen zu beachten. Unter welchen Voraussetzungen ein Strafverfahren eingestellt werden darf und wann Anklage zu erheben ist, ergibt sich primär aus dem kantonalen Prozessrecht (Urteil des Bundesgerichts 6B_588/2007 vom 11. April 2008 E. 3.2). 
 
2.5 Mit der Beschwerde an das Bundesgericht kann die Verletzung von kantonalen Bestimmungen nur im Umfang von Art. 95 BGG gerügt werden. Die Verletzung von anderen kantonalen Bestimmungen, etwa von Vorschriften einer kantonalen Strafprozessordnung, kann mit der Beschwerde an das Bundesgericht nicht geltend gemacht werden. Zulässig ist insoweit allein die Rüge der willkürlichen und damit verfassungswidrigen Auslegung und Anwendung von kantonalen Bestimmungen (Urteil des Bundesgerichts 6B_87/2008 vom 31. Juli 2008 E. 1.4.2). 
 
2.6 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Die Feststellung des Sachverhalts durch die Vorinstanz kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig, d.h. willkürlich im Sinne von Art. 9 BV ist (BGE 133 II 249 E. 1.2.2) oder wenn sie auf einer Verletzung von schweizerischem Recht im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 97 Abs. 1 BGG). Die Rüge der offensichtlich unrichtigen Feststellung des Sachverhalts prüft das Bundesgericht nach Art. 105 Abs. 2 BGG nur insoweit, als in der Beschwerde explizit vorgebracht und substantiiert dargelegt wird, inwiefern der Entscheid an einem qualifizierten und offensichtlichen Mangel leidet (BGE 133 II 249 E. 1.4.3; 130 I 258 E. 1.3 mit Hinweisen). 
 
3. 
3.1 Gemäss den vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen befuhr der Beschwerdegegner die Unfallstrecke täglich vier Mal und sah hierbei auch schon Kinder auf der Strasse spielen. Er räumte anlässlich der polizeilichen Befragung ein, dass eine Geschwindigkeit von 80 km/h in diesem Bereich "schon ein bisschen zu schnell ist", dass aber zur Unfallzeit sonst keine Kinder unterwegs gewesen seien. Man müsse jedoch "immer wieder damit rechnen, dass Kinder dort auf die Strasse kommen" (pag. 40 der vorinstanzlichen Akten). Bei der untersuchungsrichterlichen Befragung sagte er aus, er habe um diese Uhrzeit dort "selten" Kinder gesehen. Die Kinder, welche gemäss Aussagen des Beschwerdegegners um 11.45 Uhr Schulschluss hätten und anschliessend mit einem Schulbus zum Weiler "Hätterschwil" gefahren würden, spielten dort auf der Strasse selbst. Der Beschwerdegegner ergänzte aber, dies geschehe hauptsächlich am Wochenende (pag. 47 der vorinstanzlichen Akten). 
 
3.2 Die Vorinstanz schloss aus diesen Aussagen, es müsse nicht damit gerechnet werden, dass an der fraglichen Stelle jederzeit plötzlich ein Kind rennend die Strasse überquere. Zudem habe der Beschwerdegegner eigenen Aussagen zufolge zur Unfallzeit um 12.07 Uhr an jener Stelle noch nie Kinder gesehen und daher nicht mit dem überraschenden Auftauchen der Beschwerdeführerin rechnen müssen (angefochtenes Urteil, S. 9). 
Die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung erweist sich vor diesem Hintergrund als aktenwidrig und willkürlich. Entgegen der Ansicht der Vorinstanz war im Unfallzeitpunkt sehr wohl mit Kindern im Strassenbereich zu rechnen. Dies ergibt sich aus dem Umstand, dass der mittägliche Schulschluss nur wenige Minuten vor Durchfahrt des Beschwerdegegners stattfand und dieser selber einräumte, er habe an der Unfallstelle wiederholt auf der Strasse spielende Kinder gesehen, zum Unfallzeitpunkt um die Mittagszeit freilich nur "selten". 
 
3.3 Der Umfang der Sorgfalt, welche der Beschwerdegegner vorliegend zu beachten hatte, richtet sich nach den Bestimmungen des SVG und der Verkehrsregelverordnung vom 13. November 1962 (VRV; SR 741.11), wie die Vorinstanz zu Recht erwähnt. Gemäss Art. 32 Abs. 1 SVG ist die Geschwindigkeit stets den Umständen anzupassen, namentlich den Besonderheiten von Fahrzeug und Ladung, sowie den Strassen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen. Art. 4 Abs. 1 VRV verdeutlicht, dass der Fahrzeugführer nur so schnell fahren darf, dass er innerhalb der überblickbaren Strecke halten kann; wo das Kreuzen schwierig ist, muss er auf halbe Sichtweite halten können. Nach Abs. 3 derselben Bestimmung muss er die Geschwindigkeit mässigen und nötigenfalls halten, wenn Kinder im Strassenbereich nicht auf den Verkehr achten. 
Der Beschwerdegegner hätte daher seine Geschwindigkeit mässigen und der örtlichen Gefahrensituation anpassen müssen. In welchem Umfang er eine Geschwindigkeitsreduktion hätte vornehmen sollen und ob er hierbei die Kollision mit der Beschwerdeführerin hätte verhindern können, bildet Gegenstand der Strafuntersuchung. Gestützt auf diese Erkenntnisse ist vom Sachrichter zu beurteilen, inwiefern in der vorliegenden Situation die Nichtreduktion der Geschwindigkeit durch den Beschwerdeführer pflichtwidrig unvorsichtig war. 
Die Vorinstanz verfällt in Willkür, wenn sie auf fehlende zureichende Gründe für eine weitere Strafverfolgung im Sinne von Art. 137 Abs. 1 StPO/TG erkennt. Die Beschwerde ist daher gutzuheissen. 
 
4. 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4 BGG), und hat der Kanton Thurgau der Beschwerdeführerin eine angemessene Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen, das Urteil der Anklagekammer des Kantons Thurgau vom 21. April 2009 aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. 
 
2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3. 
Der Kanton Thurgau hat der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung von Fr. 3000.-- auszurichten. 
 
4. 
Dieses Urteil wird den Parteien und der Anklagekammer des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt. 
 
Lausanne, 12. Januar 2010 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: 
 
Favre Keller