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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
9C_702/2016  
   
   
 
 
 
Urteil vom 13. Februar 2017  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Glanzmann, 
Gerichtsschreiberin Huber. 
 
Verfahrensbeteiligte 
 A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt David Husmann, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 14. September 2016. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
A.________ meldete sich am 11. April 2002 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Zürich sprach ihr mit Verfügungen vom 27. Mai 2003 eine ganze Rente mit Wirkung ab dem 1. März 2002 zu und bestätigte den Anspruch revisionsweise mit Mitteilungen vom 15. November 2004 und 1. Juni 2010. 
Im Rahmen einer weiteren Rentenrevision im Jahr 2013 liess die IV-Stelle A.________ einen Fragebogen ausfüllen. Aufgrund von zwei anonymen Hinweisen, wonach die Versicherte erwerbstätig sei, veranlasste die IV-Stelle eine Beweissicherung vor Ort mittels Observierung und Videoaufzeichnungen an mehreren Tagen im Zeitraum von Dezember 2013 bis Februar 2014, holte beim Regionalen Ärztlichen Dienst (RAD) eine Stellungnahme dazu ein und führte ein Gespräch mit der Versicherten (Protokoll vom 31. Juli 2014). Mit Verfügung vom 15. August 2014 sistierte die IV-Stelle die Rente per sofort (Ende Juli 2014). In der Folge gab sie eine polydisziplinäre Begutachtung im BEGAZ Begutachtungszentrum, Binningen, (Expertise vom 13. Januar 2015) in Auftrag. Nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren ordnete die IV-Stelle mit Verfügung vom 5. Juni 2015 die Aufhebung der Invalidenrente rückwirkend auf den 1. Februar 2014 an. Zudem forderte sie am 22. Juni 2015 einen Gesamtbetrag von Fr. 7'572.- für die vom 1. Februar bis 31. Juli 2014 unrechtmässig bezogenen Leistungen (Kinder- und Invalidenrente) zurück. 
 
B.   
Gegen die Verfügungen vom 5. und 22. Juni 2015 erhob A.________ Beschwerde beim Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich. Dieses vereinigte die Verfahren und wies die Beschwerden mit Entscheid vom 14. September 2016 ab. 
 
C.   
A.________ erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die IV-Stelle zu verpflichten, ihr über den September 2014 hinaus bis zum Abschluss der Prüfung, beziehungsweise Gewährung von Wiedereingliederungsmassnahmen, die bisherigen Rentenleistungen auszurichten. Eventualiter sei die IV-Stelle zu verpflichten, von einer rückwirkenden Rentenaufhebung per Februar 2014 abzusehen und die Rente bis Ende September 2014 auszurichten. Im Weiteren ersucht A.________ um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege. 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen hat von einer Vernehmlassung abgesehen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. In prozessualer Hinsicht beantragt die Beschwerdeführerin die Beiladung der Stadt B.________ und des Kantons Zürich, weil diese die finanziellen Konsequenzen eines für sie negativen Entscheids zu tragen hätten. Sie sei seit der Einstellung der Rente auf wirtschaftliche Hilfe angewiesen.  
 
1.2. Mit der Beiladung werden Dritte, deren Interessen durch einen Entscheid berührt sind, in ein Verfahren einbezogen und daran beteiligt. Der Einbezug eines Beteiligten in den Schriftenwechsel (Art. 102 Abs. 1 BGG) hat den Sinn, die Rechtskraft des Urteils auf ihn auszudehnen, so dass dieser in einem später gegen ihn gerichteten Prozess dieses Urteil gegen sich gelten lassen muss. Das Interesse an einer Beiladung ist rechtlicher Natur. Es muss eine Rückwirkung auf eine Rechtsbeziehung zwischen der Hauptpartei und dem Mitinteressierten in Aussicht stehen. Die Beiladung ermöglicht es, dem Recht auf vorgängige Anhörung Rechnung zu tragen, bevor ein nachteiliger Entscheid ergeht; damit ist die Beiladung auch Ausfluss des rechtlichen Gehörs (Urteil 9C_158/2008 vom 30. September 2008 E. 3.1 mit Hinweisen). Der beizuladende Dritte muss in einer besonders engen Beziehung zum das Prozessthema bildenden Rechtsverhältnis stehen (Urteile 8C_834/2013 vom 18. Juli 2014 E. 1.1 mit Hinweisen, in: SVR 2014 UV Nr. 32 S. 106; 8C_248/2007 vom 4. August 2008 E. 1).  
 
1.3. Fehlt der sozialversicherungsrechtliche Schutz, erweist er sich im Einzelfall als ungenügend oder sind Leistungen der Sozialversicherung nicht rechtzeitig erhältlich, kann Sozialhilfe beantragt werden. Die dem Gemeinwesen kraft Gesetz obliegende Fürsorgepflicht besteht unabhängig von einer allfälligen Leistungspflicht der Invalidenversicherung. Angesichts der an das Rechtsschutzinteresse von Nichtadressaten von Verfügungen zu stellenden erhöhten Anforderungen ist das Beiladungsbegehren der Beschwerdeführerin in Bezug auf die Stadt B.________ und den Kanton Zürich abzulehnen (vgl. Urteil 8C_140/2008 vom 25. Februar 2009 E. 2.2 mit Hinweisen [Zusammenfassung in SZS 2009 S. 406]).  
 
2.   
 
2.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).  
 
2.2. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Indes prüft es, unter Berücksichtigung der allgemeinen Begründungspflicht der Beschwerde (vgl. E. 3.2 vorne), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236).  
 
3.   
Der angefochtene Entscheid bestätigt die rückwirkende Aufhebung der ganzen Rente der Invalidenversicherung durch die Beschwerdegegnerin gemäss Art. 17 Abs. 1 ATSG und Art. 88 bis Abs. 2 lit. b IVV auf den 1. Februar 2014 sowie die Rückforderung der vom 1. Februar bis 31. Juli 2014 ausgerichteten Leistungen in Anlehnung an Art. 25 Abs. 1 ATSG. Die Beschwerdeführerin rügt im Wesentlichen, die Vorinstanz handle aktenwidrig und willkürlich, wenn sie sich für die Frage des Zeitpunktes der Gesundheitsverbesserung den Schlussfolgerungen der IV-Stelle anschliesse. Es sei hierfür auf das vom kantonalen Gericht als beweiskräftig angesehene BEGAZ-Gutachten abzustellen. Eine Meldepflicht über einen verbesserten Gesundheitszustand könne es in Anlehnung daran keine gegeben haben.  
 
4.   
 
4.1. Die Vorinstanz erwog unter Hinweis auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung zum Beweiswert von Expertisen (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232; 125 V 351 E. 3a S. 352), das BEGAZ-Gutachten vom 13. Januar 2015 erfülle die praxisgemässen Kriterien vollumfänglich, so dass für die Entscheidung darauf abzustellen sei. Danach ist der Beschwerdeführerin gesamtmedizinisch mindestens ab dem Gutachtenszeitpunkt (Januar 2015) eine adaptierte Tätigkeit mit einer Verminderung des Rendements von maximal 20 % bezogen auf ein vollschichtiges Arbeitsvolumen zumutbar. In Abweichung davon erachtete die Vorinstanz eine Gesundheitsverbesserung gestützt auf die Observationsergebnisse bereits am 30. Januar 2014 als überwiegend wahrscheinlich.  
 
4.2. Das kantonale Gericht legte nicht dar, weshalb es in Bezug auf die im Rahmen einer Rentenrevision relevante Frage nach einer möglichen Gesundheitsverbesserung von der von ihm als beweiskräftig angesehenen Expertise abwich. Es stellte einzig fest, das im psychiatrischen Teilgutachten gewählte Datum einer Veränderung (Juli 2014; Konfrontation der Beschwerdeführerin mit den Observationsergebnissen) sage nichts über den Gesundheitszustand an sich aus, weshalb darauf nicht abgestellt werden könne. Dies mag zutreffen; so folgten denn die Gutachter in ihrer Gesamtbeurteilung nicht dieser Einschätzung des Psychiaters, sondern attestierten eine Verbesserung der Arbeitsfähigkeit in Kenntnis der Observationsergebnisse erst ab Januar 2015. Das Gericht darf in Fachfragen nicht ohne triftige Gründe von Gutachten abweichen und muss Abweichungen begründen (BGE 125 V 351 E. 3a S. 352; vgl. auch 130 I 337 E. 5.4.2 S. 345 f. mit Hinweisen), was das kantonale Gericht in Bezug auf die gesamtmedizinische Einschätzung der Verbesserung des Gesundheitszustand ab Januar 2015 unterlassen hat. Dieses Vorgehen verletzt Bundesrecht, wie die Beschwerdeführerin zu Recht geltend macht.  
 
4.3. Ausserdem ist darauf hinzuweisen, dass die Ergebnisse einer zulässigen Observation zusammen mit einer ärztlichen Aktenbeurteilung eine genügende Grundlage für Sachverhaltsfeststellungen betreffend den Gesundheitszustand und die Arbeitsfähigkeit bilden können (BGE 137 I 327 E. 7.1 S. 337 mit Hinweisen). Ein Observationsbericht für sich allein genügt nicht; er kann diesbezüglich höchstens Anhaltspunkte liefern oder Anlass zu Vermutungen geben. Sichere Kenntnis des Sachverhalts kann in dieser Hinsicht erst die ärztliche Beurteilung, in welche die Erkenntnisse aus der Observation einfliessen, liefern (Urteil 8C_192/2013 vom 16. August 2013 E. 3.1 mit Hinweisen, in: SVR 2013 UV Nr. 32 S. 111). Dabei geht es nicht einfach darum, das Observationsergebnis zu würdigen, sondern wie dieses im psychiatrischen Kontext zu verstehen ist. Dies setzt entsprechende Fachkenntnisse voraus (Urteil 9C_395/2016 vom 25. August 2016 E. 4.2.1). Das Vorgehen der Vorinstanz, gestützt auf die Observationsergebnisse von einer Gesundheitsverbesserung auszugehen, verletzt ebenfalls Bundesrecht.  
 
4.4. In Anlehnung an das BEGAZ-Gutachten vom 13. Januar 2015 ist mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eine Gesundheitsverbesserung ab Januar 2015 anzunehmen. Gründe, die gegen den Beweiswert sprechen, werden nicht vorgebracht und sind auch nicht ersichtlich. Es ist folglich davon auszugehen, dass der Beschwerdeführerin ab diesem Zeitpunkt eine adaptierte Tätigkeit mit einer Verminderung des Rendements von 20 % bezogen auf ein vollschichtiges Arbeitsvolumen zumutbar ist. Die Versicherte stellt die weiteren Erwägungen der Vorinstanz zur Bemessung des Invaliditätsgrades nicht in Frage, weshalb darauf nicht einzugehen ist.  
 
4.5. Nach dem Gesagten (E. 4.1-4.4) ist die Frage nach einer Meldepflichtverletzung betreffend rentenerhebliche Gesundheitsverbesserung im Januar 2014 obsolet, da diese überwiegend wahrscheinlich erst im Januar 2015 eingetreten ist. Laut vorinstanzlichen Feststellungen konnte der Verdacht auf eine Erwerbstätigkeit nicht erhärtet werden, weshalb auch dies gegen eine Meldepflichtverletzung spricht. Eine Rückforderung der Rentenleistungen vom 1. Februar bis 31. Juli 2014 fällt folglich ausser Betracht.  
 
5.   
Nachdem die anspruchswesentliche Verbesserung des Gesundheitszustands im Grundsatz feststeht, stellt sich die Frage, ob die seit März 2002 laufende ganze Invalidenrente mit Verfügung vom 5. Juni 2015 auf das Ende des der Zustellung der Verfügung folgenden Monats (Art. 88 bis Abs. 2 lit. a IVV) einzustellen ist. Dies ist insbesondere unter dem Aspekt der Eingliederungsmassnahmen zu prüfen.  
 
5.1. Die Versicherte war im Zeitpunkt der Rentenaufhebungsverfügung vom 5. Juni 2015 (BGE 141 V 5 E. 4.2.1 S. 7) älter als 55 Jahre alt (geb. 1958) und bezog seit März 2002 eine ganze Invalidenrente. Eine erhebliche invaliditätsbedingte arbeitsmarktliche Desintegration liegt auf der Hand. Damit ist grundsätzlich von der Notwendigkeit beruflicher Massnahmen auszugehen (vgl. statt vieler 8C_19/2016 vom 4. April 2016 E. 5.1).  
 
5.2. Die Vorinstanz erwog, die Selbsteingliederung sei der Versicherten insbesondere in Anbetracht des von ihr getätigten "Arbeitsversuches" im Restaurant eines Bekannten trotz fortgeschrittenem Alter ausnahmsweise zumutbar. Mit Blick auf die Feststellung des kantonalen Gerichts, die erfolgte Observation habe den Verdacht auf eine Erwerbstätigkeit nicht erhärten können, verletzt der angefochtene Entscheid Bundesrecht, wenn die Vorinstanz entgegen dieser Feststellung die Verwertung des Leistungspotenzials ohne vorgängige Durchführung befähigender Massnahmen allein vermittels Eigenanstrengung aufgrund eines "Arbeitsversuches" bejaht hat.  
 
5.3. Die Verwaltung hat - die Motivation der Beschwerdeführerin vorausgesetzt (Art. 21 Abs. 4 ATSG) - die Verwertbarkeit der wiedergewonnenen Arbeitsfähigkeit zu prüfen und die nach den konkreten Umständen sich als unerlässlich herausstellenden Eingliederungsmassnahmen an die Hand zu nehmen, sofern und soweit deren Voraussetzungen erfüllt sind. Anschliessend ist über die revisionsweise Aufhebung des Rentenanspruchs neu zu verfügen (Urteil 9C_524/2015 vom 30. November 2015 E. 4.4.2 mit Hinweisen). Die Beschwerde ist begründet.  
 
6.   
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend werden die Gerichtskosten der Beschwerdegegnerin auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG). Diese hat der Beschwerdeführerin überdies eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 14. September 2016 und die Verfügungen der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 5. Juni 2015 und 22. Juni 2015 werden aufgehoben. Die Sache wird im Sinne der Erwägungen zu neuer Verfügung an die IV-Stelle des Kantons Zürich zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4.   
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich hat die Gerichtskosten und die Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens neu festzulegen. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 13. Februar 2017 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Die Gerichtsschreiberin: Huber