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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1B_247/2010 
 
Urteil vom 13. August 2010 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Aemisegger, präsidierendes Mitglied, Bundesrichter Reeb, Raselli, 
Gerichtsschreiber Stohner. 
 
Verfahrensbeteiligte 
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Martin Tobler, 
 
gegen 
 
Staatsanwaltschaft II des Kantons Zürich, 
Selnaustrasse 28, Postfach, 8027 Zürich. 
 
Gegenstand 
Anordnung der Sicherheitshaft, 
 
Beschwerde gegen die Präsidialverfügung vom 6. Juli 2010 des Bezirksgerichts Zürich, 7. Abteilung. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
Das Bezirksgericht Zürich befand X.________ am 6. Juli 2010 der qualifizierten Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz für schuldig und verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von 3½ Jahren, unter Anrechnung von 509 Tagen Untersuchungs- und Sicherheitshaft. Zugleich widerrief das Gericht die mit Urteil des Bezirksgerichts Zürich vom 12. Juli 2006 ausgefällte, bedingte Strafe von fünf Monaten Gefängnis und die mit Urteil des Tribunal de Police Genf vom 10. November 2006 ausgesprochene, bedingte Strafe von acht Monaten Gefängnis (wovon 158 Tage durch Haft erstanden sind). 
 
Mit Präsidialverfügung gleichen Datums ordnete das Bezirksgericht Zürich an, X.________ habe in Sicherheitshaft zu bleiben. 
 
B. 
Mit Beschwerde in Strafsachen vom 21. Juli 2010 beantragt X.________, die Präsidialverfügung sei aufzuheben, und er sei unverzüglich aus der Sicherheitshaft zu entlassen. Eventualiter sei die Angelegenheit zur Prüfung von Ersatzmassnahmen im Sinne von § 72 und 73 der Strafprozessordnung des Kantons Zürich vom 4. Mai 1919 (StPO/ZH; LS 321) an die Vorinstanz zurückzuweisen. Des Weiteren ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung für das bundesgerichtliche Verfahren. 
 
C. 
Das Bezirksgericht Zürich reicht eine Vernehmlassung ein, ohne jedoch ausdrücklich Anträge zu stellen. Die Staatsanwaltschaft beantragt die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei. Der Beschwerdeführer hält an seinen Anträgen und Rechtsauffassungen fest. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
Gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG beurteilt das Bundesgericht Beschwerden gegen Entscheide in Strafsachen. Ein kantonales Rechtsmittel gegen den angefochtenen Entscheid steht nicht zur Verfügung. Die Beschwerde ist nach Art. 80 i.V.m. Art. 130 Abs. 1 BGG zulässig. Der Beschwerdeführer nahm vor der Vorinstanz am Verfahren teil und hat ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung des angefochtenen Entscheids. Er ist nach Art. 81 Abs. 1 BGG zur Beschwerde berechtigt. Das Bundesgericht kann nach Art. 107 Abs. 2 BGG bei Gutheissung der Beschwerde in der Sache selbst entscheiden. Deshalb ist der Antrag auf Haftentlassung zulässig. Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde einzutreten. 
 
2. 
2.1 Die Sicherheitshaft schränkt die persönliche Freiheit des Beschwerdeführers ein (Art. 10 Abs. 2 i.V.m. Art. 31 BV, Art. 5 EMRK). Eine Einschränkung dieses Grundrechts ist zulässig, wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruht, im öffentlichen Interesse liegt und verhältnismässig ist; zudem darf sie den Kerngehalt des Grundrechts nicht beeinträchtigen (Art. 36 BV). Im vorliegenden Fall steht ein Freiheitsentzug und damit eine schwerwiegende Einschränkung der persönlichen Freiheit in Frage. Es bedarf deshalb sowohl nach Art. 36 Abs. 1 Satz 2 BV als auch nach Art. 31 Abs. 1 BV einer Grundlage im Gesetz selbst. 
 
Bei Beschwerden, die gestützt auf das Recht der persönlichen Freiheit wegen der Anordnung von Untersuchungs- oder Sicherheitshaft erhoben werden, prüft das Bundesgericht im Hinblick auf die Schwere des Eingriffs die Auslegung und Anwendung des kantonalen Prozessrechts frei. Soweit jedoch reine Sachverhaltsfragen und damit Fragen der Beweiswürdigung zu beurteilen sind, greift das Bundesgericht nur ein, wenn die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz offensichtlich unrichtig sind oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruhen (Art. 97 Abs. 1 i.V.m. Art. 105 Abs. 2 BGG; BGE 135 I 71 E. 2.5 S. 73 f. mit Hinweis). 
 
Für die Anordnung bzw. Fortsetzung von Sicherheitshaft ist nach zürcherischem Strafprozessrecht erforderlich, dass die beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtigt wird und ausserdem ein besonderer Haftgrund vorliegt (§ 67 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 58 Abs. 1 StPO/ZH). Die Sicherheitshaft ist durch mildere Massnahmen zu ersetzen, sofern sich der Haftzweck auch auf diese Weise erreichen lässt (vgl. § 58 Abs. 4 i.V.m. § 72 und 73 StPO/ZH; siehe auch BGE 135 I 71 E. 2.3 S. 73 mit Hinweisen). 
 
2.2 Die Vorinstanz begründet die Fortsetzung der Sicherheitshaft mit dem besonderen Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 58 Abs. 1 Ziff. 1 StPO/ZH). Sie führt aus, der Beschwerdeführer verfüge zwar in der Schweiz über einen festen Wohnsitz und habe hier auch bis zu seiner Verhaftung mit seiner Familie zusammengelebt. Er sei jedoch mazedonischer Staatsangehöriger und ein grosser Teil seiner Verwandtschaft lebe in Mazedonien. Es sei deshalb zu befürchten, dass er sich dem Vollzug der Freiheitsstrafen durch Flucht zu entziehen versuchen würde. 
 
2.3 Der Beschwerdeführer bestreitet das Vorliegen von Fluchtgefahr. Aufgrund der bereits erstandenen Haft und der Möglichkeit der bedingten Entlassung habe er eine geringe Reststrafe zu erwarten. Er habe zudem gegen das Urteil des Bezirksgerichts Berufung angemeldet und mache sich berechtigte Hoffnungen auf ein milderes zweitinstanzliches Urteil. Zu seinen Gunsten zu würdigen sei, dass er seit seinem neunten Lebensjahr in der Schweiz lebe, hier die obligatorischen Schulen besucht habe und die deutsche Sprache mündlich und schriftlich perfekt beherrsche. Er sei in der Schweiz verheiratet und habe drei Kinder (Jahrgänge 2003, 2006 und 2009). Überdies befänden sich seine Tochter aus erster Ehe und sein gesamter Freundeskreis in der Schweiz. Ferner könne er im Falle seiner Haftentlassung eine Arbeitsstelle als Juniorpersonalberater antreten. Zu seinen in Mazedonien lebenden Eltern pflege er keinen Kontakt. Seiner Ehefrau zuliebe habe er zwar einige Male seine Schwiegereltern in Mazedonien besucht; die Beziehung zu ihnen sei jedoch sehr lose. 
 
Der Beschwerdeführer betont weiter, die Vorinstanz habe zu Unrecht nicht geprüft, ob eine Haftentlassung unter Anordnung von Ersatzmassnahmen nach § 72 und 73 StPO/ZH möglich respektive geboten gewesen wäre. Eine solche Überprüfung hätte zum Schluss geführt, dass allfälligen Bedenken betreffend Fluchtgefahr durch eine engmaschige Meldepflicht, mit der Hinterlegung seiner Reisepapiere und allenfalls durch eine angemessene Sicherheitsleistung hinreichend Rechnung getragen werden könne. 
 
2.4 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts braucht es für die Annahme von Fluchtgefahr eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sich die beschuldigte Person, wenn sie in Freiheit wäre, dem Vollzug der Strafe durch Flucht entziehen würde. Hierfür sind die gesamten konkreten Verhältnisse in Betracht zu ziehen. Es müssen konkret Gründe dargetan werden, die eine Flucht nicht nur als möglich, sondern als wahrscheinlich erscheinen lassen. Die Schwere der drohenden Strafe darf als ein Indiz für Fluchtgefahr gewertet werden, genügt jedoch für sich allein nicht, um den Haftgrund zu bejahen. Es müssen die gesamten Lebensverhältnisse, familiäre Bindungen, die berufliche und finanzielle Situation und Kontakte zum Ausland mitberücksichtigt werden (Urteil 1B_201/2009 vom 26. August 2009 E. 4.2, in: EuGRZ 2010 S. 623). 
 
2.5 Der Beschwerdeführer wurde erstinstanzlich zu einer Freiheitsstrafe von 3½ Jahren verurteilt; zugleich wurden zwei bedingte Gefängnisstrafen von fünf respektive acht Monaten aus dem Jahr 2006 widerrufen. Auf dieses Urteil ist grundsätzlich abzustellen. Auch im Falle einer bedingten Entlassung nach Verbüssung von zwei Dritteln der gesamten Strafe hat der Beschwerdeführer daher mit einer Reststrafe von deutlich über einem Jahr zu rechnen, was durchaus einen gewichtigen Anreiz zur Flucht darstellt. Insbesondere kann von einer grossen zeitlichen Nähe der zu erwartenden Freiheitsstrafe und damit einer möglichen Präjudizierung des Rechtsmittelverfahrens keine Rede sein. Im Rahmen der Beurteilung der Fluchtgefahr ist zudem nicht ausser Acht zu lassen, dass aufgrund der Anfechtung des erstinstanzlichen Urteils durch die Staatsanwaltschaft die Möglichkeit besteht, dass die Berufungsinstanz eine deutlich höhere Strafe ausfällt (vgl. insoweit auch Urteil 1B_372/2009 vom 12. Januar 2010 E. 2.2.4). 
Die persönlichen Verhältnisse sprechen ebenfalls für eine beträchtliche Fluchtgefahr. Der Beschwerdeführer wie auch seine Ehefrau stammen aus Mazedonien, wo auch seine Eltern und Schwiegereltern leben. Die drei Kinder des Beschwerdeführers sind angesichts ihres Alters (noch) nicht in der Schweiz verwurzelt. Schliesslich stellen auch die wirtschaftlichen Umstände ein Indiz für Fluchtgefahr dar. Der Beschwerdeführer ist gemäss eigenen Angaben stark überschuldet und könnte sich daher durch eine Flucht seinen Gläubigern entziehen. Trotz der im bundesgerichtlichen Verfahren eingereichten Bestätigung, welche ihm eine Arbeitsstelle in Aussicht stellt, scheint schliesslich seine berufliche Zukunft in der Schweiz unsicher. 
 
Die gesamten Umstände deuten folglich auf eine sehr erhebliche Fluchtgefahr hin, weshalb Ersatzanordnungen im Sinne von § 72 und 73 StPO/ZH von vornherein als ungenügend einzustufen sind. 
 
Die Beschwerde ist folglich abzuweisen. 
 
3. 
Der Beschwerdeführer ist mittellos. Da die Untersuchungshaft einen schweren Eingriff in die persönliche Freiheit darstellt, konnte er sich zur Beschwerde veranlasst sehen. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung nach Art. 64 BGG wird daher gutgeheissen. Es werden keine Kosten erhoben und dem Vertreter des Beschwerdeführers wird eine Entschädigung ausgerichtet. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird gutgeheissen. 
 
3. 
Es werden keine Kosten erhoben. 
 
4. 
Dem Vertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt Martin Tobler, wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'000.-- ausgerichtet. 
 
5. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft II des Kantons Zürich und dem Bezirksgericht Zürich, 7. Abteilung, schriftlich mitgeteilt. 
 
Lausanne, 13. August 2010 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Das präsidierende Mitglied: Der Gerichtsschreiber: 
 
Aemisegger Stohner