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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
1C_105/2022  
 
 
Urteil vom 14. Februar 2023  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Kneubühler, Präsident, 
Bundesrichter Müller, 
nebenamtlicher Bundesrichter Fellmann, 
Gerichtsschreiber Hahn. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt des Kantons Bern (SVSA),  
Schermenweg 5, Postfach, 3001 Bern. 
 
Gegenstand 
Entzug des Führerausweises für Motorfahrzeuge, 
 
Beschwerde gegen das Urteil der Rekurskommission des Kantons Bern für Massnahmen gegenüber Fahrzeugführerinnen und Fahrzeugführern vom 16. Juni 2021 (300.2021.3). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
A.________ fuhr am 4. Juli 2020 um ca. 21:10 Uhr als Lenker eines Motorrads auf der Autobahn A1 in Fahrtrichtung Bern bei Derendingen hinter einem Personenwagen auf dem Überholstreifen. In der Folge wechselte er auf die Normalspur, wo er beschleunigte und den weiterhin auf dem Überholstreifen fahrenden Personenwagen rechts überholte. Für dieses Überholmanöver sprach ihn die Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn mit Strafbefehl vom 20. Oktober 2020 der groben Verletzung der Verkehrsregeln und der Benützung der Nationalstrassen ohne gültige Vignette schuldig und verurteilte ihn zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen à Fr. 50.-- sowie einer Busse von Fr. 200.--. Die von A.________ gegen diesen Strafbefehl bis an das Bundesgericht erhobenen Rechtsmittel blieben erfolglos (vgl. Urteil 6B_180/2021 vom 10. März 2021). 
 
B.  
Mit Verfügung vom 14. Dezember 2020 entzog das Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt des Kantons Bern (nachfolgend: SVSA) A.________ für den als schwere Widerhandlung gegen Strassenverkehrsvorschriften beurteilten Vorfall vom 4. Juli 2020 den Führerausweis für zwölf Monate. Dabei berücksichtigte das SVSA, dass es A.________ mit Verfügung vom 3. September 2019 bereits einmal den Führerausweis wegen einer schweren Verkehrsregelverletzung entzogen hatte. 
Gegen die Verfügung des SVSA vom 14. Dezember 2020 führte A.________ Beschwerde an die Rekurskommission des Kantons Bern für Massnahmen gegenüber Fahrzeugführerinnen und Fahrzeugführern. Diese wies das Rechtsmittel mit Urteil vom 16. Juni 2021 (versandt am 10. Januar 2022) ab. 
 
C.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 9. Februar 2022 beantragt A.________, das Urteil der Rekurskommission vom 16. Juni 2021 sei aufzuheben. Eventualiter sei ihm für die Dauer des Führerausweisentzugs das Führen eines Kleinmotorrads zu erlauben. Zudem stellt er ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege. 
Die Rekurskommission, das SVSA und das zur Vernehmlassung eingeladene Bundesamt für Strassen (ASTRA) beantragten unter Hinweis auf das angefochtene Urteil die Abweisung der Beschwerde. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Innerhalb der Rechtsmittelfrist von 30 Tagen (vgl. Art. 100 Abs. 1 BGG) angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Endentscheid über einen Führerausweisentzug. Dagegen steht die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht offen (vgl. Art. 82 lit. a, Art. 86 Abs. 1 lit. d und Abs. 2, Art. 90 BGG). Ein Ausnahmegrund nach Art. 83 BGG liegt nicht vor. Der Beschwerdeführer hat zudem am vorinstanzlichen Verfahren teilgenommen und als vom Führerausweisentzug direkt Betroffener ein schutzwürdiges Interesse an der Aufhebung des angefochtenen Urteils, womit er nach Art. 89 Abs. 1 BGG zur Beschwerdeführung berechtigt ist. Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Auf die Beschwerde ist somit einzutreten.  
 
2.  
 
2.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann insbesondere die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Das Bundesgericht wendet das Recht dabei von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), prüft die bei ihm angefochtenen Entscheide aber grundsätzlich nur auf Rechtsverletzungen hin, die von der beschwerdeführenden Person vorgebracht und begründet werden, sofern die rechtlichen Mängel des angefochtenen Entscheids nicht geradezu offensichtlich sind (vgl. Art. 42 Abs. 2 BGG; BGE 144 V 388 E. 2). Erhöhte Anforderungen an die Begründung gelten, soweit die Verletzung von Grundrechten gerügt wird (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 143 I 1 E. 1.4; 142 I 99 E. 1.7.2; 139 I 229 E. 2.2).  
 
2.2. Das Bundesgericht legt seinem Urteil weiter den von der Vorinstanz festgestellten Sachverhalt zugrunde (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig sind oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruhen. Erforderlich ist zudem, dass die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (vgl. Art. 97 Abs. 1 und Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 140 III 16 E. 1.3.1, 264 E. 2.3).  
 
3.  
 
3.1. Der Beschwerdeführer rügt eine unrichtige Sachverhaltsfeststellung. Die Vorinstanz habe ihm zu Unrecht vorgeworfen, er sei unmittelbar nach dem Überholmanöver wieder auf die Fahrspur des überholten Personenwagen eingebogen. Richtig sei, dass er den auf der Überholspur fahrenden Personenwagen rechts überholt habe. Danach sei er jedoch ohne weiteren Spurwechsel auf der rechten Fahrspur weitergefahren.  
 
3.2. Die Vorinstanz beschreibt das strittige Überholmanöver unterschiedlich. Mehrheitlich geht die Vorinstanz davon aus, dass der Beschwerdeführer nach dem Rechtsüberholen keinen Fahrspurwechsel mehr vorgenommen hat (vgl. angefochtenes Urteil, Sachverhalt lit. A sowie E. 4.4). Im Zusammenhang mit dem subjektiven Tatbestand der schweren Widerhandlung gegen die Strassenverkehrsvorschriften im Sinne von Art. 16c Abs. 1 lit. a SVG (SR 741.01) scheint sie demgegenüber davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer unmittelbar nach dem Überholmanöver wieder auf die Überholspur eingebogen sei (vgl. angefochtenes Urteil, E. 4.8.1).  
 
3.3. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist die strassenverkehrsrechtliche Verwaltungsbehörde grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen des Strafgerichts gebunden. Sie darf davon nur abweichen, wenn sie Tatsachen feststellt, die dem Strafgericht unbekannt waren, wenn sie zusätzliche Beweise erhebt oder wenn das Strafgericht bei der Rechtsanwendung auf den Sachverhalt nicht alle Rechtsfragen abgeklärt, namentlich die Verletzung bestimmter Verkehrsregeln übersehen hat (vgl. BGE 139 II 95 E. 3.2; 136 II 447 E. 3.1; 124 II 103 E. 1c/aa; je mit Hinweisen). Die Verwaltungsbehörde ist unter bestimmten Umständen auch an die sachverhaltlichen Feststellungen eines Strafbefehls gebunden, selbst wenn dieser - wie vorliegend - ausschliesslich auf einem Polizeirapport beruht. Dies gilt insbesondere, wenn die betroffene Person weiss oder wissen musste, dass neben dem Strafverfahren ein Administrativverfahren eröffnet wird, und sie es trotzdem unterlässt oder darauf verzichtet, im Rahmen des Strafverfahrens ihre Verteidigungsrechte geltend zu machen (vgl. BGE 123 II 97 E. 3c/aa; zum Ganzen: Urteil 1C_266/2022 vom 26. September 2022 E. 4.3).  
 
3.4. Von den vorgenannten Grundsätzen geht auch die Vorinstanz aus. Sie stützt ihr Urteil deshalb in tatsächlicher Hinsicht auf die Sachverhaltsfeststellungen gemäss dem Strafbefehl vom 20. Oktober 2020 ab (vgl. angefochtenes Urteil, E. 2). Danach fuhr der Beschwerdeführer nach dem Überholmanöver auf der Normalspur weiter und bog nicht direkt wieder auf die Überholspur ein. Dieser Geschehensablauf deckt sich mit den Schilderungen im aktenkundigen Polizeirapport vom 13. Juli 2020 und in der erstinstanzlichen Verfügung des SVSA vom 14. Dezember 2020. Den im Strafbefehl vom 20. Oktober 2020 festgehaltenen Sachverhalt hat der Beschwerdeführer sodann jedenfalls in Bezug auf das eigentliche Überholmanöver soweit ersichtlich zu keinem Verfahrenszeitpunkt bestritten. Mit Blick auf die zitierte Rechtsprechung und in Übereinstimmung mit der im angefochtenen Urteil mehrheitlich wiedergegebenen Sachdarstellung ist davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer direkt nach dem Rechtsüberholen keinen erneuten Spurwechsel von der Normal- auf die Überholspur vollzog.  
 
4.  
 
4.1. Gemäss Art. 16 Abs. 2 SVG wird nach Widerhandlungen gegen die Strassenverkehrsvorschriften, bei denen das Verfahren nach dem Ordnungsbussengesetz vom 18. März 2016 (OBG; SR 314.1) ausgeschlossen ist, der Lernfahr- oder Führerausweis entzogen oder eine Verwarnung ausgesprochen. Das Ordnungsbussenverfahren ist insbesondere ausgeschlossen, wenn die beschuldigte Person jemanden gefährdet oder verletzt oder Schaden verursacht hat (Art. 4 Abs. 3 lit. a OBG). Eine konkrete Gefährdung ist dabei nicht erforderlich; eine erhöhte abstrakte Gefährdung genügt (vgl. BGE 148 IV 374 E. 2.2; 114 IV 63 E. 3). Eine abstrakte Gefährdung liegt vor, wenn die Möglichkeit einer konkreten Gefährdung oder einer Verletzung naheliegt (vgl. BGE 142 IV 93 E. 3.1; 131 IV 133 E. 3.2; je mit Hinweisen). Ob dies zutrifft, ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalls zu beurteilen (vgl. BGE 131 IV 133 E. 3.2; Urteile 1C_626/2021 vom 3. November 2022 E. 3.1 [zur Publ. vorgesehen]; 1C_634/2017 vom 10. April 2018 E. 5.1; je mit Hinweisen).  
Eine schwere Widerhandlung gegen die Strassenverkehrsvorschriften gemäss Art. 16c Abs. 1 lit. a SVG begeht, wer durch grobe Verletzung von Verkehrsregeln eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf nimmt. Die schwere Widerhandlung gemäss Art. 16c Abs. 1 lit. a SVG entspricht der groben Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 90 Abs. 2 SVG (vgl. BGE 132 II 234 E. 3; Urteil 1C_626/2021 vom 3. November 2022 E. 3.1 [zur Publ. vorgesehen]). Nach Art. 90 Abs. 2 SVG wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wer durch grobe Verletzung der Verkehrsregeln eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf nimmt. Eine solche Gefahr wird bereits bei einer erhöhten abstrakten Gefährdung im vorgenannten Sinne bejaht. Subjektiv erfordert der Tatbestand ein rücksichtsloses oder sonst in schwerwiegender Weise verkehrswidriges Verhalten, das heisst ein schweres Verschulden, bei fahrlässiger Begehung jedenfalls grobe Fahrlässigkeit (vgl. BGE 142 IV 93 E. 3.1; 131 IV 133 E. 3.2; Urteil 1C_626/2021 vom 3. November 2022 E. 3.1 [zur Publ. vorgesehen]; je mit Hinweisen). 
 
4.2. Die Ordnungsbussenverordnung vom 16. Januar 2019 (OBV; SR 314.11) enthält in Anhang 1 eine Bussenliste für Übertretungen nach dem SVG, die im Ordnungsbussenverfahren geahndet werden (vgl. Art. 1 lit. a OBV). Am 1. Januar 2021 (AS 2020 2115) trat die neu in diese Bussenliste aufgenommene Ziff. 314.3 in Kraft. Die Bestimmung sieht vor, dass Rechtsüberholen durch Ausschwenken und Wiedereinbiegen auf Autobahnen und Autostrassen mit mehreren Fahrstreifen mit einer Ordnungsbusse von Fr. 250.-- sanktioniert wird. Sie nimmt Bezug auf den gleichzeitig in Kraft getretenen, geänderten Art. 36 Abs. 5 der Verkehrsregelverordnung vom 13. November 1962 (VRV; SR 741.11). Danach ist auf Autobahnen und Autostrassen das Rechtsüberholen durch Ausschwenken und Wiedereinbiegen untersagt. Hingegen darf in gewissen Fällen (vgl. Art. 36 Abs. 5 lit. a-d VRV) mit der gebotenen Vorsicht rechts an anderen Fahrzeugen vorbeigefahren werden (vgl. Urteil 1C_626/2021 vom 3. November 2022 E. 3.2 [zur Publ. vorgesehen]).  
 
5.  
 
5.1. Die Vorinstanz ging zutreffend davon aus, dass auf das Administrativverfahren gegen den Beschwerdeführer, das erst nach dem Inkrafttreten von Ziff. 314.3 Anhang 1 OBV durchgeführt wurde, gestützt auf den Grundsatz der lex mitior (vgl. Art. 102 Abs. 1 SVG i.V.m. Art. 2 Abs. 2 StGB) das neue Recht anzuwenden ist, falls dieses das strittige Rechtsüberholmanöver des Beschwerdeführers vom 4. Juli 2020 milder sanktioniert als das im Tatzeitpunkt geltende Recht. Nach Letzterem wurde der Beschwerdeführer mit Strafbefehl vom 9. Oktober 2020 wegen einer groben Verkehrsregelverletzung nach Art. 90 Abs. 2 SVG verurteilt (vgl. zur Anwendbarkeit des Grundsatzes der lex mitior auf die vorliegende Änderung des Ordnungsbussenverfahrens Urteil 1C_626/2021 vom 3. November 2022 E. 4 [zur Publ. vorgesehen], m.H.).  
 
5.2. Nach umfassender Prüfung der Sach- und Rechtslage kam die Vorinstanz zum Schluss, das neue Recht führe nicht zu einer milderen Sanktionierung des Rechtsüberholmanövers des Beschwerdeführers, weshalb es vorliegend keine Anwendung finde. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, sowohl nach der neuen als auch nach der früheren Rechtslage sei durch das Rechtsüberholen des Beschwerdeführers eine erhöhte abstrakte Gefährdung geschaffen worden und sei sich der Beschwerdeführer des Verbots des Rechtsüberholens bewusst gewesen. Das Überholmanöver sei sowohl nach altem als auch nach neuem Recht in objektiver und subjektiver Hinsicht als grobe Verkehrsregelverletzung gemäss Art. 90 Abs. 2 SVG und als schwere Widerhandlung gegen die Strassenverkehrsvorschriften im Sinne von Art. 16c Abs. 1 lit. a SVG zu beurteilen. Somit sei das Ordnungsbussenverfahren nach Art. 4 Abs. 3 lit. a OBG jeweils ausgeschlossen. Die neu eingeführte Ziff. 314.3 in Anhang 1 OBV ändere daran nichts. Diese Bestimmung könne nur zur Anwendung kommen, wenn durch ein Rechtsüberholmanöver auf der Autobahn keine abstrakte Gefährdung geschaffen werde. Hiervon könne allenfalls ausgegangen werden, wenn im Sinne von Art. 36 Abs. 5 lit. a VRV bei Kolonnenverkehr mit der gebotenen Vorsicht rechts an anderen Fahrzeugen vorbeigefahren und danach wieder auf den linken Fahrstreifen gewechselt werde, ohne dass dabei andere Verkehrsteilnehmende behindert würden. Ein Rechtsüberholen, wie es der Beschwerdeführer ausgeführt habe, könne hingegen weiterhin nicht als Ordnungswidrigkeit im Sinne von Ziff. 314.3 Anhang 1 OBV geahndet werden. Da dem Beschwerdeführer mit Verfügung vom 3. September 2018 der Führerausweis bereits einmal wegen einer schweren Widerhandlung entzogen gewesen sei, verletze der auf Art. 16c Abs. 2 lit. c SVG gestützte Warnungsentzug kein Bundesrecht.  
 
5.3. Der Beschwerdeführer macht sinngemäss geltend, aufgrund der am 1. Januar 2021 in Kraft getretenen Änderung der Ordnungsbussenverordnung könne ein Rechtsüberholen auf der Autobahn nur noch mit einer Ordnungsbusse von Fr. 250.-- sanktioniert werden. Eine Beurteilung seines Überholmanövers vom 4. Juli 2020 als grobe Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art 90 Abs. 2 SVG und als schwere Widerhandlung gegen die Strassenverkehrsvorschriften gemäss Art. 16c Abs. 1 lit. a SVG komme daher nicht mehr in Frage. Der gegen ihn angeordnete Führerausweisentzug sei unverhältnismässig und somit rechtswidrig.  
 
6.  
 
6.1. Ob das neue Recht im Vergleich zum alten Recht milder ist, beurteilt sich nicht nach einer abstrakten Betrachtungsweise, sondern in Bezug auf den konkreten Fall (Grundsatz der konkreten Vergleichsmethode). Das Gericht hat die Tat sowohl nach dem alten als auch nach dem neuen Recht (hypothetisch) zu prüfen und durch Vergleich der Ergebnisse festzustellen, nach welchem der beiden Rechte der Täter oder die Täterin besser gestellt ist (vgl. BGE 147 IV 471 E. 4, 241 E. 4.2.2; 142 IV 401 E. 3.3; 134 IV 82 E. 6.2.1; Urteil 1C_626/2021 vom 3. November 2022 E. 5.1 [zur Publ. vorgesehen]; je mit Hinweisen). Die günstigere Rechtslage bestimmt sich nicht nach dem subjektiven Empfinden des Täters oder der Täterin, sondern nach objektiven Gesichtspunkten (Grundsatz der Objektivität; vgl. BGE 147 IV 471 E. 4; 134 IV 82 E. 6.2.2; Urteil 1C_626/2021 vom 3. November 2022 E. 5.1 [zur Publ. vorgesehen]; je mit Hinweisen). Steht fest, dass die Strafbarkeit des fraglichen Verhaltens unter dem neuen Recht fortbesteht, sind die gesetzlichen Strafrahmen bzw. Sanktionen zu vergleichen (vgl. BGE 147 IV 417 E. 4; 134 IV 82 E. 6.2.1; Urteil 1C_626/2021 vom 3. November 2022 E. 5.1 [zur Publ. vorgesehen]; je mit Hinweis).  
 
6.2. Nach Art. 35 Abs. 1 SVG ist links zu überholen, woraus sich das Verbot des Rechtsüberholens ergibt. Dieses Verbot wird neu auch durch Satz 1 des geänderten Art. 36 Abs. 5 VRV als Sonderregel für Autobahnen und Autostrassen zusätzlich zu Art. 8 Abs. 3 VRV ausdrücklich festgehalten (vgl. Urteil 1C_626/2021 vom 3. November 2022 E. 5.2 [zur Publ. vorgesehen]). Nach der unter dem bisherigen Recht ergangenen bundesgerichtlichen Rechtsprechung handelt es sich beim Verbot des Rechtsüberholens - das keinen Spurwechsel voraussetzt (vgl. BGE 142 IV 93 E. 3.2; 133 II 58 E. 4; mit Hinweisen) - um eine für die Verkehrssicherheit objektiv wichtige Vorschrift, deren Missachtung eine erhebliche Gefährdung der Verkehrssicherheit mit beträchtlicher Unfallgefahr nach sich zieht und daher objektiv schwer wiegt. Wer auf der Autobahn fährt, muss sich darauf verlassen können, dass er oder sie nicht plötzlich rechts überholt wird. Das Rechtsüberholen auf der Autobahn, wo hohe Geschwindigkeiten gefahren werden, stellt eine erhöhte abstrakte Gefährdung dar (vgl. BGE 142 IV 93 E. 3.2; 126 IV 192 E. 3; Urteil 1C_626/2021 vom 3. November 2022 E. 5.3.1 [zur Publ. vorgesehen]; je mit Hinweisen). Entsprechende Überholmanöver sind daher regelmässig als grobe Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 90 Abs. 2 SVG (vgl. dazu vorne E. 4.1) zu qualifizieren (vgl. BGE 126 IV 192 E. 3; Urteile 6B_558/2017 vom 21. September 2017 E. 1.5; 6B_848/2016 vom 13. Februar 2017 E. 1.3.3; Urteil 1C_626/2021 vom 3. November 2022 E. 5.3.1 [zur Publ. vorgesehen]; je mit Hinweisen).  
 
6.3. Im zur Publikation vorgesehenen Urteil 1C_626/2021 vom 3. November 2022 hat sich das Bundesgericht mit dieser bisherigen Rechtsprechung zum Rechtsüberholen auf der Autobahn auseinandergesetzt und geprüft, ob daran auch nach dem Inkrafttreten von Anhang 1 Ziff. 314.3 OBV festzuhalten und ein Rechtsüberholen weiterhin in jedem Fall als grobe Verkehrsregelverletzung zu beurteilen ist. In Würdigung der Erläuterungen des Bundesamts für Strassen (ASTRA) zur eingeführten Gesetzesänderung, verschiedenen Bestrebungen in der Bundesversammlung und der strassenverkehrsrechtlichen Gesetzessystematik gelangte es zum Schluss, dass die neue Bestimmung jedenfalls gewisse, wenig gravierende Fälle von Rechtsüberholen durch Ausschwenken und Wiedereinbiegen erfassen soll. Der Verordnungsgeber sei mit der Aufnahme von Ziff. 314.3 Anhang 1 OBV in die Ordnungsbussenliste bewusst von der bisherigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung abgewichen und habe mit der neuen Regelung zum Ausdruck gebracht, dass diejenigen Fälle eines Rechtsüberholens auf der Autobahn, die keine erhöhte abstrakte Gefährdung schaffen, im Ordnungsbussenverfahren geahndet werden können (vgl. Urteil 1C_626/2021 vom 3. November 2022 E. 5.4 [zur Publ. vorgesehen]).  
 
6.4. Nach dieser Rechtsprechung bestimmt sich der Anwendungsbereich von Ziff. 314.3 Anhang 1 OBV danach, ob zum Rechtsüberholmanöver an sich erschwerende Umstände hinzukommen, welche die Annahme einer erhöhten abstrakten Gefährdung rechtfertigen. Ist dies nicht der Fall, gilt das Überholmanöver nach der neuen Regelung als einfaches Rechtsüberholen und somit als Widerhandlung, die im Ordnungsbussenverfahren mit einer Busse von Fr. 250.-- zu ahnden ist. Angesichts der mit Rechtsüberholmanövern auf der Autobahn verbundenen Risiken ist Ziff. 314.3 Anhang 1 OBV allerdings eng auszulegen und zurückhaltend anzuwenden. Eine Bewertung und Ahndung von Rechtsüberholen auf der Autobahn als Ordnungswidrigkeit kommt nur ausnahmsweise in Betracht. Erforderlich ist, dass im Einzelfall in Berücksichtigung der gesamten konkreten Verhältnisse ein einfaches Rechtsüberholen ohne erschwerende Umstände, welche die Annahme einer erhöhten abstrakten Gefährdung rechtfertigen, bejaht werden kann. Dabei ist ein strenger Massstab anzuwenden und die Schwelle für das Vorliegen solcher Umstände tief anzusetzen (vgl. zum Ganzen Urteil 1C_626/2021 vom 3. November 2022 E. 5.5 [zur Publ. vorgesehen]).  
 
7.  
 
7.1. Nach den für das Bundesgericht verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz nahm der Beschwerdeführer das Rechtsüberholmanöver auf der Autobahn bei schwachem Verkehrsaufkommen vor, wobei auf keinem Fahrstreifen Kolonnenverkehr herrschte. Beim Überholmanöver handelt es sich somit nicht um ein zulässiges Rechtsvorbeifahren im Sinne von Art. 36 Abs. 5 lit. a VRV. Auch die übrigen Varianten eines straffreien Rechtsvorbeifahrens gemäss Art. 36 Abs. 5 lit. b - d VRV kommen vorliegend nicht in Frage. Mit Blick auf die erwähnte Rechtsprechung stellt das strittige Überholmanöver des Beschwerdeführers vom 4. Juli 2020 - auch wenn nach dem Überholen kein weiterer Spurenwechsel stattfand - daher sowohl nach altem wie auch nach geltendem Recht ein strafbares Rechtsüberholen auf der Autobahn dar. Fraglich und zu prüfen ist allerdings, ob mit der Vorinstanz auch insoweit übereinzustimmen ist, dass das Verhalten nach dem Inkrafttreten von Ziff. 314.3 von Anhang 1 OBV weiterhin als grobe Verkehrsregelverletzung gemäss Art. 90 Abs. 2 SVG zu beurteilen oder ob es ausnahmsweise als Ordnungswidrigkeit zu behandeln ist.  
 
7.2. Die Vorinstanz stellte in tatsächlicher Hinsicht auf die Sachverhaltsfeststellungen im Strafbefehl vom 20. Oktober 2020 ab. Danach ist der Beschwerdeführer als Lenker eines Motorrads am 4. Juli 2020 um ca. 21:10 Uhr bei schwachem Verkehrsaufkommen auf der Autobahn hinter einem Personenwagen auf dem Überholstreifen gefahren und hat dann auf den Normalstreifen gewechselt. Nach dem Wechsel der Fahrspur hat er beschleunigt, um den weiterhin auf der Überholspur fahrenden Personenwagen zu überholen. Nach Abschluss des Überholmanövers ist er auf der Normalspur weitergefahren. In Ergänzung des Sachverhalts (vgl. Art. 105 Abs. 2 BGG) kann dem aktenkundigen Anzeigerapport der Kantonspolizei Bern vom 13. Juli 2020 zudem entnommen werden, dass das Überholmanöver bei schönem Wetter, guter Sicht und trockenen Strassenverhältnissen stattfand. Zudem ist in den Akten nirgends vermerkt, dass der Beschwerdeführer beim Rechtsüberholen die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten hätte. Anzeichen für erschwerende Umstände, welche die Annahme einer erhöhten abstrakten Gefährdung und damit eine Beurteilung des Überholmanövers als schwere Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 90 Abs. 2 SVG rechtfertigten könnten (vgl. vorne E. 6.4), sind bei dieser Ausgangslage nicht ersichtlich. Insbesondere liegen keine Hinweise vor, dass der überholte Lenker des Personenwagens aufgrund des Rechtsüberholens überrascht wurde oder seine Fahrweise anpassen musste. Der hier zu beurteilende Sachverhalt ist somit vergleichbar mit jenem, der dem Leiturteil 1C_626/2021 vom 3. November 2022 zugrunde lag. Das Manöver ist daher als einfaches Rechtsüberholen ohne erschwerende Umstände und damit als Ordnungswidrigkeit im Sinne von Ziff. 314.3 Anhang 1 OBV zu qualifizieren. Diese Schlussfolgerung rechtfertigt sich umso mehr, als die Wetterverhältnisse (bewölkt) im dort zu beurteilenden Fall schlechter waren und der Fahrzeuglenker - anders als der Beschwerdeführer - unmittelbar nach dem Rechtsüberholen wieder auf die Überholspur einbog. Nicht weiter einzugehen ist vor diesem Hintergrund auf das Vorbringen des Beschwerdeführers, wonach er sich aufgrund der Fahrweise der zum Tatzeitpunkt hinter ihm fahrenden zivilen Polizeipatrouille zum Rechtsüberholen gedrängt gefühlt habe.  
 
7.3. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz und des SVSA ist das Rechtsüberholen des Beschwerdeführers auf der Autobahn vom 4. Juli 2020 somit nach neuem Recht nicht gleich zu beurteilen wie unter dem alten. Vielmehr ist es nach Ziff. 314.3 Anhang 1 OBV als Ordnungswidrigkeit zu qualifizieren, die im Ordnungsbussenverfahren zu ahnden wäre (vgl. Urteil 1C_626/2021 vom 3. November 2022 E. 5.7 [zur Publ. vorgesehen]). Damit ist im Administrativverfahren gegen den Beschwerdeführer das neue Recht als lex mitior anzuwenden, kommt doch bei dessen Anwendung nach Art. 16 Abs. 2 SVG ein Führerausweisentzug zur Sanktionierung des Überholmanövers nicht mehr in Betracht. Der angeordnete Führerausweisentzug von zwölf Monaten ist folglich bundesrechtswidrig. Die Rüge des Beschwerdeführers, wonach auf das strittige Überholmanöver die neu eingefügte Ziff. 314.3 Anhang 1 OBG Anwendung finde und der strittige Führerausweisentzug aufzuheben sei, erweist sich damit als begründet. Bei Verkehrsregelverletzungen, die nach dem Ordnungsbussengesetz zu beurteilen sind, sind sodann keine Administrativmassnahmen anzuordnen (vgl. Art. 16 Abs. 2 SVG; Urteile 1C_183/2016 vom 22. September 2016 E. 3.1; 1C_406/2010 vom 29. November 2010 E. 2.1). Das angefochtene Urteil und damit auch der strittige Führerausweisentzug des SVSA vom 14. Dezember 2020 sind daher ersatzlos aufzuheben.  
 
8.  
Die Beschwerde ist aus den genannten Gründen gutzuheissen. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben. Bei diesem Verfahrensausgang sind für das bundesgerichtliche Verfahren keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der anwaltlich nicht vertretene Beschwerdeführer hat praxisgemäss keinen Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG; Urteil 1B_29/2020 vom 11. September 2020 E. 5). Das vom Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren gestellte Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird damit gegenstandslos. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil der Rekurskommission des Kantons Bern für Massnahmen gegenüber Fahrzeugführerinnen und Fahrzeugführern vom 16. Juni 2021 wird aufgehoben. 
 
2.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.  
Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten, der Rekurskommission des Kantons Bern für Massnahmen gegenüber Fahrzeugführerinnen und Fahrzeugführern und dem Bundesamt für Strassen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 14. Februar 2023 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Kneubühler 
 
Der Gerichtsschreiber: Hahn