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[AZA] 
I 226/99 Ge 
 
III. Kammer  
 
Bundesrichter Schön, Spira und Bundesrichterin Widmer; 
Gerichtsschreiberin Kopp Käch 
 
Urteil vom 15. Mai 2000  
 
in Sachen 
 
P.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt 
S.________, 
 
gegen 
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, Aarau, 
Beschwerdegegnerin, 
und 
 
Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau 
 
    A.- Mit vier Verfügungen vom 19. Dezember 1997 sprach 
die IV-Stelle Aargau P.________ ab 1. April 1995 eine halbe 
Invalidenrente zu. 
    Die dagegen erhobene Beschwerde vom 26. März 1998, mit 
welcher P.________ sinngemäss die Zusprechung einer ganzen 
Rente beantragen liess, schrieb das Versicherungsgericht 
des Kantons Aargau mit Entscheid vom 26. Mai 1998 als 
gegenstandslos geworden von der Kontrolle ab, nachdem die 
IV-Stelle mit Verfügung vom 22. Mai 1998 die angefochtenen 
Verfügungen lite pendente aufgehoben und weitere Abklärun- 
gen angekündigt hatte. Auf die Beschwerde vom 18. Juni 
1998, mit welcher P.________ die Aufhebung der Verfügung 
vom 22. Mai 1998 beantragen liess, trat das Versi- 
cherungsgericht mit Entscheid vom 11. August 1998 nicht 
ein. 
    P.________ liess mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 
17. August 1998 die Aufhebung des Entscheids des 
Versicherungsgerichts vom 26. Mai 1998 sowie die Rückwei- 
sung der Sache an die IV-Stelle zur Vornahme weiterer Ab- 
klärungen und mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 
24. September 1998 die Aufhebung des Entscheids des Versi- 
cherungsgerichts vom 11. August 1998 sowie die Rückweisung 
an die Vorinstanz zur materiellen Entscheidung beantragen. 
    Mit Urteil vom 17. Dezember 1998 hob das Eidgenössi- 
sche Versicherungsgericht den Entscheid des Versicherungs- 
gerichts vom 26. Mai 1998 in Gutheissung der Verwaltungsge- 
richtsbeschwerde vom 17. August 1998 auf und wies die Sache 
an das Versicherungsgericht zurück, damit es im Sinne der 
Erwägungen verfahre. Gleichzeitig wies es die Verwaltungs- 
gerichtsbeschwerde vom 24. September 1998 ab. 
 
    B.- Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau hiess 
daraufhin die Beschwerde vom 26. März 1998 mit Entscheid 
vom 2. März 1999 in dem Sinne gut, dass die Verfügungen der 
IV-Stelle vom 19. Dezember 1997 aufgehoben wurden und die 
Sache zu weitergehenden Abklärungen an die IV-Stelle zu- 
rückgewiesen wurde. 
 
    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt P.________ 
beantragen, es sei der Entscheid vom 2. März 1999 insoweit 
aufzuheben, als in Ziff. 1 festgehalten werde, dass die 
Verfügungen der IV-Stelle vom 19. Dezember 1997 
aufgehoben werden. Ziff. 1 des vorinstanzlichen Entscheids 
sollte seiner Meinung nach wie folgt gefasst sein: Die Be- 
schwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass die Sache zu 
weitergehenden Abklärungen an die IV-Stelle zurückgewiesen 
wird. 
    Die IV-Stelle verzichtet auf eine Stellungnahme. Das 
Bundesamt für Sozialversicherung hat sich nicht vernehmen 
lassen. 
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:  
 
    1.- Die Vorinstanz hat in ihrem Entscheid vom 2. März 
1999 die Verfügungen der IV-Stelle, mit welchen dem Versi- 
cherten ab 1. April 1995 eine halbe Invalidenrente zuge- 
sprochen worden war, aufgehoben und die Sache zu weiterge- 
henden Abklärungen an die IV-Stelle zurückgewiesen. - Der 
Beschwerdeführer rügt nun, dass diese Verfügungen vollum- 
fänglich aufgehoben worden sind. Er habe bereits im vorin- 
stanzlichen Verfahren den Streitgegenstand dahingehend ein- 
geschränkt, dass die Verfügungen insoweit nicht angefochten 
würden, als ihm damit eine halbe Rente zugesprochen werde. 
Mit der vollständigen Aufhebung habe eine unzulässige Aus- 
weitung des Streitgegenstandes stattgefunden. Er sei da- 
durch schlechter gestellt worden, weil mit der gänzlichen 
Aufhebung auch der Anspruch auf eine halbe Rente dahinge- 
fallen sei. Da es sich dabei um eine reformatio in peius 
handle, wäre die Vorinstanz gehalten gewesen, ihm eine 
Frist anzusetzen um die Beschwerde zurückzuziehen. 
 
    2.- a) Im verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren 
sind grundsätzlich nur Rechtsverhältnisse zu überprüfen 
bzw. zu beurteilen, zu denen die zuständige Verwaltungs- 
behörde vorgängig verbindlich - in Form einer Verfügung - 
Stellung genommen hat. Insoweit bestimmt die Verfügung den 
beschwerdeweise weiterziehbaren Anfechtungsgegenstand. Um- 
gekehrt fehlt es an einem Anfechtungsgegenstand und somit 
an einer Sachurteilsvoraussetzung, wenn und insoweit keine 
Verfügung ergangen ist (BGE 125 V 414 Erw. 1a, 119 Ib 36 
Erw. 1b, 118 V 313 Erw. 3b, je mit Hinweisen). 
 
    b) Streitgegenstand im System der nachträglichen Ver- 
waltungsrechtspflege ist das Rechtsverhältnis, welches - im 
Rahmen des durch die Verfügung bestimmten Anfechtungsgegen- 
standes - den auf Grund der Beschwerdebegehren effektiv an- 
gefochtenen Verfügungsgegenstand bildet. Nach dieser Be- 
griffsumschreibung sind Anfechtungsgegenstand und Streit- 
gegenstand identisch, wenn die Verwaltungsverfügung ins- 
gesamt angefochten wird. Bezieht sich demgegenüber die 
Beschwerde nur auf einen Teil des durch die Verfügung be- 
stimmten Rechtsverhältnisses, gehören die nicht beanstan- 
deten Teilaspekte des verfügungsweise festgelegten Rechts- 
verhältnisses zwar wohl zum Anfechtungs-, nicht aber zum 
Streitgegenstand (BGE 125 V 414 Erw. 1b). 
 
    3.- a) In BGE 125 V 413 hat sich das Eidgenössische 
Versicherungsgericht in Präzisierung der bisherigen Recht- 
sprechung weiter zur begrifflichen Umschreibung des Streit- 
gegenstandes und seiner Abgrenzung vom Anfechtungsgegen- 
stand geäussert. Dabei führte es aus, Anfechtungsgegenstand 
im verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren bildeten, 
formell betrachtet, Verfügungen im Sinne von Art. 5 VwVG 
und - materiell - die in den Verfügungen geregelten Rechts- 
verhältnisse. Streitgegenstand bilde demgegenüber das auf 
Grund der Beschwerdebegehren tatsächlich angefochtene, so- 
mit als Prozessthema vor das (erst- oder zweitinstanzli- 
che) Gericht gezogene Rechtsverhältnis. 
    Nach dieser Umschreibung beziehen sich Anfechtungs- 
und Streitgegenstand auf eines oder mehrere materielle 
Rechtsverhältnisse. Streitgegenstand ist mithin nicht der 
beschwerdeweise beanstandete "Teil des durch die Verfügung 
bestimmten Rechtsverhältnisses" (so noch BGE 110 V 51 
Erw. 3c, 112 V 99 Erw. 1a, 117 V 295 Erw. 2a und 122 V 244 
Erw. 2a ["partie du rapport juridique déterminé par la 
décision litigieuse"]). Vielmehr erfolgt die begriffliche 
Unterscheidung von Streit- und Anfechtungsgegenstand auf 
der Ebene von Rechtsverhältnissen. Bezieht sich also die 
Beschwerde nur auf einzelne der durch die Verfügung be- 
stimmten Rechtsverhältnisse, gehören die nicht beanstande- 
ten - verfügungsweise festgelegten - Rechtsverhältnisse 
zwar wohl zum Anfechtungs-, nicht aber zum Streitgegen- 
stand. Sache des Gerichts bleibt es, im jeweiligen Einzel- 
fall unter Berücksichtigung des materiellrechtlichen Kon- 
textes, des massgeblichen Verfügungsinhaltes und der, in 
Anbetracht der Beschwerde, konkreten Verfahrenslage zu 
entscheiden, was den zu beurteilenden Streitgegenstand 
bildet und ob allenfalls die Voraussetzungen für eine Aus- 
dehnung des Prozesses über den Streit- oder sogar den 
Anfechtungsgegenstand hinaus erfüllt sind (BGE 125 V 415 
Erw. 2a mit Hinweisen). 
 
    b) Für die begriffliche Umschreibung des Streitgegen- 
standes und seine Abgrenzung vom Anfechtungsgegenstand 
nicht von Bedeutung sind demzufolge die bestimmenden Ele- 
mente ("Teilaspekte", "aspects", vgl. BGE 110 V 51 Erw. 3c 
und 122 V 244 Erw. 2a) des oder der verfügungsweise festge- 
legten Rechtsverhältnisse. Dazu zählen bei der Zusprechung 
von Versicherungsleistungen unter anderem die für die An- 
spruchsberechtigung als solche massgebenden Gesichtspunkte, 
wie die versicherungsmässigen Voraussetzungen, ferner die 
einzelnen Faktoren für die (massliche und zeitliche) Fest- 
setzung der Leistung, bei Invalidenrenten insbesondere der 
Invaliditätsgrad, die Rentenberechnung und der Rentenbe- 
ginn. Teilaspekte eines verfügungsweise festgelegten 
Rechtsverhältnisses dienen in der Regel lediglich der Be- 
gründung der Verfügung und sind daher grundsätzlich nicht 
selbstständig anfechtbar. Sie können folgerichtig erst als 
rechtskräftig beurteilt und damit der richterlichen Über- 
prüfung entzogen gelten, wenn über den Streitgegenstand 
insgesamt rechtskräftig entschieden worden ist (BGE 125 V 
416 Erw. 2b mit Hinweisen). 
 
    c) Den Streitgegenstand bestimmende, aber nicht bean- 
standete Elemente prüft im Übrigen die Beschwerdeinstanz 
nur, wenn hiezu auf Grund der Vorbringen der Parteien oder 
anderer sich aus den Akten ergebender Anhaltspunkte hinrei- 
chender Anlass besteht. Zieht das Gericht an sich nicht 
bestrittene Aspekte des streitigen Rechtsverhältnisses in 
die Prüfung mit ein, hat es bei seinem Entscheid je nachdem 
die Verfahrensrechte der am Prozess Beteiligten, insbeson- 
dere das Anhörungsrecht der von einer möglichen Schlechter- 
stellung bedrohten Partei oder den grundsätzlichen Anspruch 
auf den doppelten Instanzenzug zu beachten (BGE 125 V 417 
Erw. 2c mit Hinweisen). 
 
    d) Mit der verfügungsweisen Zusprechung einer unbe- 
fristeten Invalidenrente wird ein im Wesentlichen durch die 
Anspruchsberechtigung an sich sowie die Höhe und den Beginn 
der Leistung bestimmtes Rechtsverhältnis geordnet. Werden, 
was die Regel ist, lediglich einzelne Elemente der Renten- 
festsetzung (Invaliditätsgrad, Rentenbeginn etc.) beanstan- 
det, bedeutet dies nicht, dass die unbestrittenen Teilas- 
pekte in Rechtskraft erwachsen und demzufolge der richter- 
lichen Überprüfung entzogen sind. Die Beschwerdeinstanz 
prüft vielmehr von den Verfahrensbeteiligten nicht aufge- 
worfene Rechtsfragen und nimmt allenfalls selber zusätzli- 
che Abklärungen vor (oder veranlasst solche), unter den in 
Erw. 3c in fine hievor eben erwähnten Voraussetzungen. 
Diese Grundsätze gelten auch bei der revisionsweisen Erhö- 
hung, Herabsetzung oder Aufhebung einer laufenden Rente 
(Art. 41 IVG und Art. 87 ff. IVV). Wird beispielsweise eine 
halbe auf eine ganze Rente heraufgesetzt und beantragt der 
Versicherte schon ab einem früheren als dem in der Verfü- 
gung festgelegten Zeitpunkt die Erhöhung der Rente, hat der 
Richter gegebenenfalls, insbesondere wenn dies die Gegen- 
partei oder weitere Verfahrensbeteiligte verlangen, auch 
den bisher nicht in Frage gestellten Anspruch auf eine gan- 
ze Rente in die Beurteilung miteinzubeziehen (BGE 125 V 417 
Erw. 2d mit Hinweisen). 
 
    e) Aus den obigen Ausführungen ergibt sich, dass keine 
unzulässige Ausdehnung des Verfahrens vorliegt. Wird einer 
versicherten Person verfügungsweise eine halbe Rente zuge- 
sprochen und beantragt diese beschwerdeweise die Zuspre- 
chung einer ganzen, wächst die unbestrittene halbe Rente 
nicht in Teilrechtskraft. Vielmehr unterliegt der Rentenan- 
spruch als solcher insgesamt (Anspruchsberechtigung, Höhe 
und Beginn einer allfälligen Leistung) der uneingeschränk- 
ten richterlichen Überprüfung. Dieser Streitgegenstand 
bleibt bei einer Rückweisung an die Verwaltung zu weiter- 
gehenden Abklärungen der gleiche. Die Aufhebung der Verfü- 
gungen ist somit vorliegend zu Recht erfolgt. 
 
    4.- Ebenfalls unbegründet ist der Einwand des Be- 
schwerdeführers, die Vorinstanz habe unzulässigerweise eine 
reformatio in peius vorgenommen, indem sie die Verfügungen 
vom 19. Dezember 1997 vollumfänglich aufgehoben habe. Von 
einer reformatio in peius kann nur gesprochen werden, wenn 
die urteilende Instanz selber einen reformatorischen Ent- 
scheid fällt. Die blosse Möglichkeit einer Schlechterstel- 
lung der beschwerdeführenden Partei infolge Aufhebung des 
angefochtenen Entscheids oder der angefochtenen Verfügung 
verbunden mit Rückweisung zu ergänzender Sachverhaltsfest- 
stellung sowie zu neuer Beurteilung der Sache gilt gemäss 
ständiger Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungs- 
gerichts, von welcher abzuweichen kein Anlass besteht, 
nicht als reformatio in peius (ARV 1995 Nr. 23 S. 138 
Erw. 3a mit Hinweis auf ZAK 1988 S. 615 Erw. 2b). Das Vor- 
gehen der Vorinstanz ist demzufolge nicht zu beanstanden. 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:  
 
I. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.  
 
II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.  
 
III. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungs-  
    gericht des Kantons Aargau, der Ausgleichskasse des 
    Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversiche- 
    rung zugestellt. 
 
 
Luzern, 15. Mai 2000 
 
Im Namen des 
Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
Der Präsident der III. Kammer: 
 
Die Gerichtsschreiberin: