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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_409/2021  
 
 
Urteil vom 15. September 2021  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Maillard, Präsident, 
Bundesrichterinnen Heine, Viscione, 
Gerichtsschreiber Walther. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva), Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Christian Thöny, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Unfallversicherung (Kausalzusammenhang), 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden vom 30. März 2021 (S 19 145). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
A.________, geboren 1976, arbeitete seit 24. Oktober 2016 als Produktionsmitarbeiter bei der B.________ AG und war dadurch bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (Suva) obligatorisch gegen die Folgen von Unfällen und Berufskrankheiten versichert. Am 10. November 2016 geriet er bei der Reinigung einer Tofu-Produktionsmaschine mit seiner rechten Hand in den Propeller des Förderbandes, wodurch er eine vollständige Zerstörung des rechten Zeigefingers, Frakturen, Sehnen- und Hautläsionen am Mittelfinger und offene (Quer-) Frakturen sowie eine Strecksehnenläsion am Ringfinger erlitt (Austrittsbericht des Spitals C.________ vom 18. November 2016). Die Suva übernahm die Heilbehandlung und richtete ein Taggeld aus. Mit Verfügung vom 19. Dezember 2018 sprach sie A.________ aufgrund der organisch bedingten Unfallfolgen ab 1. Dezember 2018 eine Invalidenrente basierend auf einer Erwerbsunfähigkeit von 11 % und eine Integritätsentschädigung bei einer Integritätseinbusse von 17.5 % zu. Hinsichtlich der psychischen Beschwerden verneinte die Suva den adäquaten Kausalzusammenhang zum Unfall vom 10. November 2016 und damit ihre Leistungspflicht, was sie mit Einspracheentscheid vom 5. November 2019 bestätigte. 
 
B.  
Die hiergegen erhobene Beschwerde des A.________ hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden mit Urteil vom 30. März 2021 insofern gut, als es den Einspracheentscheid der Suva vom 5. November 2019 aufhob und die Sache zur weiteren medizinischen Abklärung und neuem Entscheid über die Invalidenrente und Integritätsentschädigung an die Suva zurückwies. 
 
C.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die Suva, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und der Einspracheentscheid vom 5. November 2019 zu bestätigen. 
Die Vorinstanz schliesst auf Abweisung der Beschwerde. A.________ lässt beantragen, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten; eventualiter sei diese abzuweisen. Zudem ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Stellungnahme. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Das Bundesgericht prüft die Eintretensvoraussetzungen von Amtes wegen und mit freier Kognition (Art. 29 Abs. 1 BGG; BGE 145 II 153 E. 1.1 mit Hinweis).  
 
1.2. Beim angefochtenen Rückweisungsentscheid handelt es sich, da das Verfahren noch nicht abgeschlossen wird und die Rückweisung auch nicht einzig der Umsetzung des oberinstanzlich Angeordneten dient, um einen selbstständig eröffneten Vor- oder Zwischenentscheid im Sinne von Art. 93 BGG. Die Zulässigkeit der Beschwerde setzt somit alternativ voraus, dass der Entscheid einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (Abs. 1 lit. a) oder dass die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (Abs. 1 lit. b).  
Indem die Vorinstanz entschieden hat, zwischen den psychischen Beschwerden und dem Unfall vom 10. November 2016 bestehe ein adäquater Kausalzusammenhang, macht sie der Suva Vorgaben für den Erlass einer ihres Erachtens rechtswidrigen Verfügung, was für diese einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG darstellt (BGE 133 V 477 E. 5.2; Urteile 8C_289/2020 vom 17. Februar 2021 E. 1.1, nicht publ. in: BGE 147 V 207, und 8C_212/2019 vom 21. August 2019 E. 1 mit Hinweis). Auf die Beschwerde der Suva ist demnach einzutreten. 
 
2.  
 
2.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 146 IV 88 E. 1.3.2 mit Hinweisen).  
 
2.2. Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).  
 
3.  
Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie den Einspracheentscheid der Suva vom 5. November 2019 aufhob und die Sache zu ergänzender medizinischer Abklärung an diese zurückwies. Im Zentrum steht die Frage, ob die Vorinstanz den adäquaten Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall vom 10. November 2016 und den psychischen Beschwerden zu Recht bejahte. 
 
4.  
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über das zeitlich massgebende Recht (BGE 144 V 224 E. 6.1.1 mit Hinweis; zur 1. UVG-Revision vgl. Abs. 1 der Übergangsbestimmungen zur Änderung des UVG vom 25. September 2015, AS 2016 4375, 4387) richtig dargelegt. Zutreffend sind auch die Ausführungen zum Anspruch auf eine Rente der Unfallversicherung (Art. 18 Abs. 1 UVG) und die Voraussetzungen des Anspruchs auf Integritätsentschädigung (Art. 24 Abs. 1 UVG). Gleiches gilt betreffend den für die Leistungspflicht des obligatorischen Unfallversicherers (Art. 6 Abs. 1 UVG) erforderlichen natürlichen und adäquaten Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall und dem Gesundheitsschaden im Allgemeinen (BGE 134 V 109 E. 2.1) sowie bei psychischen Unfallfolgen (BGE 115 V 133) im Besonderen. Darauf kann ebenso verwiesen werden wie auf die Ausführungen zur freien Beweiswürdigung (Art. 61 lit. c ATSG) und zu den beweisrechtlichen Anforderungen an Arztberichte im Allgemeinen (BGE 134 V 231 E. 5.1; 125 V 351 E. 3a) und bei Berichten versicherungsinterner Ärzte im Besonderen (BGE 135 V 465 E. 4.4). 
 
5.  
Die Vorinstanz erwog nach einlässlicher Darstellung der Aktenlage, der Beschwerdegegner leide infolge des Unfalls vom 10. November 2016 unter Schmerzen und Einschränkungen der rechten Hand. Zudem bestünden psychische Beschwerden, wobei die Vorinstanz in Bezug auf diese einen natürlichen Kausalzusammenhang zum Unfall prüfte, diese Frage letztlich jedoch offen liess. Im Weiteren ordnete sie den Unfall den mittelschweren Unfällen im engeren Sinne zu. Von den gemäss BGE 115 V 133 E. 6c/aa erforderlichen Adäquanzkriterien bejahte sie das Kriterium der besonders dramatischen Begleitumstände oder der besonderen Eindrücklichkeit des Unfalls in besonders ausgeprägter Weise. Auch das Kriterium der Schwere oder der besonderen Art der erlittenen Verletzungen sei zumindest in einfacher, wenn nicht in ausgeprägter Weise erfüllt. Entsprechend bejahte die Vorinstanz den adäquaten Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall und den psychischen Beschwerden, wobei sie auf eine Prüfung der weiteren Adäquanzkriterien verzichtete. Gestützt darauf schlussfolgerte sie, es könne nicht bei der kreisärztlichen Beurteilung des Dr. med. D.________, Facharzt für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparates, vom 21. November 2018 bleiben, da sich dieser nur zu den somatischen Einschränkungen geäussert habe. Die Sache sei an die Suva zurückzuweisen, damit diese ergänzende Abklärungen vornehme und über den Anspruch auf eine Invalidenrente und Integritätsentschädigung für den ganzen (somatischen und psychischen) Unfallschaden neu entscheide. 
 
6.  
 
6.1. Die Suva rügt die vorinstanzliche Bejahung des adäquaten Kausalzusammenhangs zwischen den psychischen Beschwerden und dem Unfallereignis vom 10. November 2016. Das kantonale Gericht habe die Kriterien der besonders dramatischen Begleitumstände oder der besonderen Eindrücklichkeit des Unfalls sowie der Schwere oder der besonderen Art der erlittenen Verletzungen zu Unrecht bejaht. Auch die übrigen Kriterien seien nicht erfüllt. Der Beschwerdegegner hält dem entgegen, das erstgenannte Kriterium sei zu Recht als ausgeprägt beurteilt worden. Überdies seien auch die Kriterien der Schwere oder der besonderen Art der erlittenen Verletzungen, der körperlichen Dauerschmerzen sowie des Grades und der Dauer der physischen Arbeitsunfähigkeit erfüllt.  
 
6.2. Praxisgemäss kann die Frage, ob ein natürlicher Kausalzusammenhang zwischen den medizinisch nicht hinreichend nachweisbaren Beschwerden und dem Unfall besteht, bei Verneinung der adäquaten Kausalität offen gelassen werden (BGE 135 V 465 E. 5.1 mit Hinweisen, Urteil 8C_438/2020 vom 22. Dezember 2020 E. 4.1). Nicht zulässig ist nach der Rechtsprechung demgegenüber, den adäquaten Kausalzusammenhang zwischen allfälligen psychischen Beschwerden und einem Unfallereignis zu bejahen, bevor die sich in tatsächlicher Hinsicht stellenden Fragen bezüglich der Natur der gesundheitlichen Beeinträchtigungen und des natürlichen Kausalzusammenhangs mittels einer psychiatrischen Begutachtung geklärt sind (BGE 147 V 207 E. 6.1; Urteile 8C_192/2018 vom 12. März 2019 E. 6 und 8C_685/2015 vom 13. September 2016 E. 4.2; in: SVR 2017 UV Nr. 4 S. 11). Ein solches Vorgehen wäre zunächst widersprüchlich, weil die Leistungspflicht eines Unfallversicherers gemäss Art. 6 Abs. 1 UVG voraussetzt, dass zwischen dem Unfallereignis und dem eingetretenen Schaden ein natürlicher Kausalzusammenhang besteht. Ohne verlässliche medizinische Entscheidungsgrundlagen, welche sich über das Vorliegen psychischer Beschwerden, deren Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit sowie den natürlichen Kausalzusammenhang zum Unfallereignis äussern, kann aus rechtlicher Sicht nicht darauf geschlossen werden, einem Unfallereignis komme für die Entstehung einer psychisch bedingten Arbeits- oder Erwerbsunfähigkeit eine massgebende Bedeutung zu. Zudem wäre die vorhergehende Anerkennung eines adäquaten Kausalzusammenhangs allenfalls geeignet, den psychiatrischen Experten - ob bewusst oder unbewusst - in seiner Einschätzung zu beeinflussen und dadurch das Ergebnis einer im Nachhinein vorgenommenen medizinischen Beurteilung zu verzerren (BGE 147 V 207 E. 6.1; Urteile 8C_192/2018 vom 12. März 2019 E. 6 und 8C_685/2015 vom 13. September 2016 E. 4.2). Soweit das kantonale Gericht den adäquaten Kausalzusammenhang zwischen den nach dem Unfall aufgetretenen psychischen Problemen bereits im Voraus bejahte und die Sache zur Abklärung eines entsprechenden natürlichen Kausalzusammenhangs an die Suva zurückwies, hält das vorinstanzliche Urteil somit vor Bundesrecht nicht stand.  
Aus den genannten Gründen erscheint es vorliegend verfrüht, über die von der Suva vorgebrachten Rügen hinsichtlich des adäquaten Kausalzusammenhangs zu entscheiden. Ohne die Frage nach letzterem vorwegzunehmen, ist daher Dispositiv-Ziffer 1 des angefochtenen Urteils insoweit aufzuheben, als sie auf die Erwägungen zur Frage nach dem adäquaten Kausalzusammenhang verweist. Die Sache ist an die Suva zurückzuweisen, damit diese die von der Vorinstanz angeordneten medizinischen Abklärungen vornehme. Anhand des Ergebnisses dieser Abklärungen wird die Suva über den natürlichen und adäquaten Kausalzusammenhang und sodann über den Leistungsanspruch des Beschwerdegegners neu zu entscheiden haben. 
 
7.  
 
7.1. Der unterliegende Beschwerdegegner hat die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).  
 
7.2. Gemäss Art. 64 Abs. 1 BGG wird einer Partei die unentgeltliche Rechtspflege nur gewährt, wenn sie bedürftig ist und ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Die Bedürftigkeit ist nicht ausgewiesen, weshalb dem Gesuch des Beschwerdegegners um unentgeltliche Rechtspflege nicht entsprochen werden kann. Die Suva hat keinen Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 3 BGG).  
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Dispositiv-Ziffer 1 des Urteils des Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden vom 30. März 2021 und der Einspracheentscheid der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (Suva) vom 5. November 2019 werden aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verfügung an die Suva zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen. 
 
2.  
Das Gesuch des Beschwerdegegners um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen. 
 
3.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 15. September 2021 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Maillard 
 
Der Gerichtsschreiber: Walther