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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
9C_417/2013  
   
   
 
 
 
Urteil vom 15. Oktober 2013  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Kernen, Präsident, 
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Glanzmann, 
Gerichtsschreiber R. Widmer. 
 
Verfahrensbeteiligte 
M.__________, vertreten durch Rechtsdienst Integration Handicap, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
IV-Stelle Zug, Baarerstrasse 11, 6300 Zug,  
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug vom 11. April 2013. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Der kroatische Staatsangehörige M.__________ (geboren 1973) lebt seit Oktober 2006 in der Schweiz. Nachdem die IV-Stelle des Kantons Zug mit Verfügung vom 17. Juli 2009 ein Gesuch um Zusprechung einer Invalidenrente abgelehnt hatte, weil die Invalidität bereits vor der Einreise in die Schweiz eingetreten sei, meldete sich M.__________ am 29. Februar 2008 zum Bezug einer Hilflosenentschädigung der Invalidenversicherung an. Mit Verfügung vom 19. November 2009 lehnte die IV-Stelle dieses Gesuch ab. Die Abklärungen hätten ergeben, dass der Versicherte in keiner alltäglichen Lebensverrichtung regelmässig auf die Hilfe Dritter angewiesen ist. Zudem seien keine dauernde Pflege oder persönliche Überwachung erforderlich, und die Notwendigkeit lebenspraktischer Begleitung sei ebenfalls nicht ausgewiesen. Die von M.__________ hiegegen eingereichte Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Zug mit Entscheid vom 24. Februar 2011 insofern gut, dass es die Verfügung vom 19. November 2009 aufhob und die Sache zu weiterer Abklärung und neuer Entscheidung an die IV-Stelle zurückwies. Zur Begründung hielt es fest, im Abklärungsbericht der IV-Stelle seien die Fragen zum Bedarf nach lebenspraktischer Begleitung nicht beantwortet. Zudem sei der Anspruch im Lichte der staatsvertraglichen Bestimmungen des schweizerisch-kroatischen Sozialversicherungsabkommens näher zu prüfen. Mit Verfügung vom 20. August 2012 lehnte die IV-Stelle das Leistungsgesuch wiederum ab, wobei sie einen Anspruch sowohl aufgrund der staatsvertraglichen als auch der materiellen Bestimmungen verneinte. 
 
B.   
Die hiegegen eingereichte Beschwerde, mit welcher M.__________ die Aufhebung der Verfügung der IV-Stelle und die Zusprechung einer Hilflosenentschädigung für lebenspraktische Begleitung hatte beantragen lassen, wies das Verwaltungsgericht des Kantons Zug mit Entscheid vom 11. April 2013 ab. 
 
C.   
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt der Versicherte das vorinstanzlich gestellte Rechtsbegehren erneuern. 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde; das Verwaltungsgericht des Kantons Zug äussert sich in ablehnendem Sinne, während das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) auf eine Vernehmlassung verzichtet. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht (Art. 95 lit. a BGG) und von Völkerrecht (Art. 95 lit. b BGG) gerügt werden. Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.   
Hinsichtlich der von der Vorinstanz verneinten versicherungsmässigen Voraussetzungen ist für den Beschwerdeführer als kroatischen Staatsangehörigen das Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Republik Kroatien über Soziale Sicherheit vom 9. April 1996, in Kraft seit 1. Januar 1998 (SR 0.831.109.291.1) anwendbar (Art. 3 lit. a), welches Art. 6 Abs. 2 IVG vorgeht, wonach der Leistungsanspruch für ausländische Staatsangehörige bei Eintritt der Invalidität eine Mindestbeitragsdauer von einem Jahr oder einen ununterbrochenen zehnjährigen Aufenthalt in der Schweiz voraussetzt. Das Abkommen bestimmt in Art. 4 Ziff. 1, dass die Staatsangehörigen des einen Vertragsstaates sowie deren Familienangehörige und Hinterlassene in ihren Rechten und Pflichten aus den Rechtsvorschriften des anderen Vertragsstaates den Staatsangehörigen dieses Vertragsstaates bzw. deren Familienangehörigen und Hinterlassenen gleichgestellt sind; abweichende Bestimmungen in diesem Abkommen bleiben vorbehalten. Art. 5 Ziff. 2 des Abkommens hält sodann fest, dass die Hilflosenentschädigungen der schweizerischen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung nur bei Wohnsitz in der Schweiz gewährt werden. Art. 14 bis 17 des Abkommens beziehen sich auf die Anwendung der schweizerischen Rechtsvorschriften im Bereich der Invaliden-, Alters- und Hinterlassenenversicherung. Art. 15, auf den Verwaltung und Vorinstanz Bezug nehmen, zählt in lit. a bis c verschiedene Kategorien kroatischer Staatsangehöriger auf, welche für den Erwerb des Anspruchs auf Leistungen nach den schweizerischen Rechtsvorschriften über die Invalidenversicherung als Versicherte im Sinne dieser Rechtsvorschriften gelten. Diese Bestimmungen sind auf den Beschwerdeführer als kroatischen Staatsangehörigen mit Wohnsitz in der Schweiz, der eine Hilflosenentschädigung der schweizerischen Invalidenversicherung beansprucht, allesamt nicht anwendbar und enthalten insbesondere auch keine für den vorliegenden Fall massgebende Abweichung vom Grundsatz der Gleichbehandlung, wie er in Art. 4 Ziff. 1 des Staatsvertrages statuiert ist. Wie für Schweizer Bürger gelten für den Beschwerdeführer somit keine speziellen versicherungsmässigen Voraussetzungen (vgl. Art. 6 Abs. 1 IVG). 
 
3.  
3.1 Nach Art. 42 Abs. 1 IVG haben Versicherte mit Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt in der Schweiz, die hilflos sind, Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung. Dass der Leistungsansprecher bereits bei Eintritt der Hilflosigkeit versichert war, ist entgegen der Auffassung der Vorinstanz seit längerem nicht mehr erforderlich. Eine entsprechende Versicherungsklausel kannte Art. 6 Abs. 1 IVG in der bis 31. Dezember 2000 gültig gewesenen Fassung. Mit der Änderung dieser Bestimmung auf den 1. Januar 2001 wurde die Versicherungsklausel aufgehoben (SVR 2009 IV Nr. 54 S. 168 f., 9C_1042/2008 E. 3). Aus dem Kreisschreiben des BSV über Invalidität und Hilflosigkeit (KSIH), hier massgebender Stand 1. Januar 2012, ergibt sich entgegen den Ausführungen des Verwaltungsgerichts in der Vernehmlassung nichts Abweichendes: Rz 1040 hält fest, dass bei Eintritt des Versicherungsfalls die versicherungsmässigen Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit Leistungen der Invalidenversicherung ausgerichtet werden können. Laut Rz 1041 müssen dabei die Mindestbeitragsdauer gemäss Art. 36 Abs. 1 IVG sowie der Wohnsitz und der gewöhnliche Aufenthalt in der Schweiz erfüllt sein. Art. 36 Abs. 1 IVG bestimmt, dass der Anspruch auf eine ordentliche Invalidenrente bei Eintritt der Invalidität eine Mindestbeitragszeit von drei Jahren voraussetzt. Da im vorliegenden Fall nicht der Rentenanspruch, sondern der Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung in Frage steht, ist diese Bestimmung nicht anwendbar. 
3.2 Der Beschwerdeführer lebt gemäss den Feststellungen des kantonalen Gerichts seit 5. Oktober 2006 in der Schweiz bei seinen Eltern in U.________. Wie die Vorinstanz zutreffend festgestellt hat, erfüllt er die Voraussetzung des Wohnsitzes in der Schweiz im Sinne von Art. 23 ZGB. Aufgrund der tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Entscheid kann ferner keinem Zweifel unterliegen, dass der Versicherte hier auch seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat; diesen hat eine Person laut Art. 13 Abs. 2 ATSG an dem Ort, an dem sie während längerer Zeit lebt, selbst wenn diese Zeit zum Vornherein befristet ist. 
 
4.   
Als hilflos gilt laut Art. 42 Abs. 3 Satz 1 IVG u.a. eine Person, welche zu Hause lebt und wegen Beeinträchtigung der Gesundheit dauernd auf lebenspraktische Begleitung angewiesen ist. Ein Bedarf an lebenspraktischer Begleitung im Sinne von Art. 42 Abs. 3 IVG liegt nach Art. 38 Abs. 1 IVV vor, wenn eine volljährige versicherte Person ausserhalb eines Heims lebt und in Folge Beeinträchtigung der Gesundheit: 
a.       ohne Begleitung einer Drittperson nicht selbstständig wohnen kann; 
b.       für Verrichtungen und Kontakte ausserhalb der Wohnung auf Begleitung einer Drittperson angewiesen ist; oder 
c.       ernsthaft gefährdet ist, sich dauernd von der Aussenwelt zu isolieren. 
 
Ist lediglich die psychische Gesundheit beeinträchtigt, so muss für die Annahme einer Hilflosigkeit gleichzeitig ein Anspruch auf mindestens eine Viertelsrente bestehen (Abs. 2). Zu berücksichtigen ist nur die ähnliche lebenspraktische Begleitung, die regelmässig und im Zusammenhang mit den in Abs. 1 erwähnten Situationen erforderlich ist. Nicht darunter fallen insbesondere Vertretungs- und Verwaltungstätigkeiten im Rahmen vormundschaftlicher Massnahmen nach Art. 398 bis 419 ZGB (Abs. 3; vgl. zum Ganzen BGE 133 V 450). 
 
5.   
Die Vorinstanz hat die Anspruchsberechtigung des Beschwerdeführers nur unter dem Blickwinkel der Versicherteneigenschaft geprüft und - wie dargelegt - zu Unrecht verneint. Demzufolge fehlen die tatbeständlichen Grundlagen im angefochtenen Entscheid (Art. 105 Abs. 1 BGG), welche es dem Bundesgericht ermöglichen würden, den beschwerdeweise geltend gemachten Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung für lebenspraktische Begleitung zu beurteilen. Ist das Bundesgericht aus vorab tatsächlichen, seltener rechtlichen Gründen nicht in der Lage, ein abschliessendes Urteil in der Sache selbst zu sprechen und die blosse Kassation zur Erledigung des Streits nicht ausreicht, weist es die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Entscheids an die Vorinstanz oder die Behörde, die als erste Instanz entschieden hat, zurück. Diese Rückweisung kommt vor allem dann in Frage, wenn die tatsächliche Beurteilungsgrundlage fehlt, die Vorinstanz demnach den rechtserheblichen Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder in Begehung einer Bundesrechtsverletzung festgestellt hat, ohne dass das Bundesgericht selbst zur Vervollständigung des Sachverhalts schreitet (in BGE 139 II 78 nicht veröffentlichte E. 1.3 des Urteils 2C_708/2011 vom 5. Oktober 2012). 
 
6.   
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden IV-Stelle aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Diese hat dem obsiegenden Beschwerdeführer überdies eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird damit gegenstandslos. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
In teilweiser Gutheissung der Beschwerde wird der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug vom 11. April 2013 aufgehoben. Die Sache wird an das Verwaltungsgericht des Kantons Zug zurückgewiesen, damit es über den Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung für lebenspraktische Begleitung im Sinne der Erwägungen neu entscheide. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Zug und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 15. Oktober 2013 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Kernen 
 
Der Gerichtsschreiber: Widmer