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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
6B_206/2016  
   
   
 
 
 
Urteil vom 16. Februar 2017  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Denys, Präsident, 
Bundesrichter Oberholzer, Rüedi, 
Gerichtsschreiber Matt. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Jugendanwaltschaft des Kantons Aargau, 
Frey-Herosé-Strasse 12, Wielandhaus, 5001 Aarau, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
X.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dominic Frey, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Anwendbarkeit von Art. 97 Abs. 3 StGB im Jugendstrafrecht, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, Jugendstrafkammer, vom 17. September 2015. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Am 4. November 2013 verurteilte das Jugendgericht Lenzburg X.________ wegen vollendeten und versuchten gewerbsmässigen und teilweise bandenmässigen Diebstahls sowie wegen Diebstahls, Sachbeschädigung, mehrfachen Hausfriedensbruchs, versuchter Nötigung, mehrfachen Entwendens eines Personenwagens zum Gebrauch, mehrfachen Führens eines Personenwagens ohne Führerausweis, Raubes, Führens eines Personenwagens ohne Versicherungsschutz, Missbrauchs von Kontrollschildern und geringfügiger Sachentziehung. Es sprach ihn von einzelnen Vorwürfen des Diebstahls und der Sachbeschädigung frei und stellte das Verfahren in Bezug auf allfällige Sachbeschädigungen sowie Hausfriedensbrüche vor dem 4. November 2010 und die Entwendung eines Personenwagens zum Gebrauch vom 5. Juli 2010 infolge Verjährung ein. Es verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von 27 Monaten, einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu Fr. 10.-- sowie einer Busse von Fr. 600.-- und erklärte die Freiheitsstrafe von 20 Tagen, welche die Jugendanwaltschaft des Kantons Aargau mit Strafentscheid vom 8. Februar 2010 bedingt ausgesprochen hatte, für vollziehbar. Auf die zu verbüssende Freiheitsstrafe rechnete es insgesamt 348 Tage für ausgestandene Untersuchungshaft und Aufenthalt in verschiedenen Unterkünften zur stationären Beobachtung und vorsorglichen Unterbringung an. 
 
B.  
Dagegen erhob X.________ Berufung. Am 17. September 2015 stellte das Obergericht des Kantons Aargau das Strafverfahren auch in Bezug auf den gewerbs- und bandenmässigen Diebstahl sowie weitere Vorwürfe der Sachbeschädigung und des Hausfriedensbruchs infolge Verjährung ein. Es verurteilte X.________ zu einer hälftig bedingten Freiheitsstrafe von 24 Monaten bei einer Probezeit von 5 Jahren, einer Geldstrafe von 85 Tagessätzen zu Fr. 10.-- sowie einer Busse von Fr. 600.-- und verzichtete auf den Vollzug der bedingten Freiheitsstrafe von 20 Tagen gemäss Strafentscheid der Jugendanwaltschaft vom 8. Februar 2010. Im Übrigen bestätigte es das jugendgerichtliche Urteil. 
 
C.  
Die Jugendanwaltschaft beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, das obergerichtliche Urteil sei aufzuheben. Eventualiter sei die Sache zur neuen Entscheidung an das Obergericht zurückzuweisen. 
 
D.  
X.________ beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei. Das Obergericht verzichtet auf einen Antrag. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Die Beschwerdeführerin macht geltend, Art. 97 Abs. 3 StGB finde auch im Jugendstrafrecht Anwendung. Dies sei in der Praxis nie ernsthaft angezweifelt worden. Das Bundesgesetz vom 20. Oktober 2005 über das Jugendstrafrecht (Jugendstrafgesetz, JStG; SR 311.1) sei am 1. Januar 2007 in Kraft gesetzt worden. Seither sei die Frage nur ganz vereinzelt aufgekommen und habe höchstrichterlich nie geklärt werden müssen. Dass Art. 97 Abs. 3 StGB in Art. 1 Abs. 2 lit. j JStG nicht erwähnt werde, sei ein gesetzgeberisches Versehen. Weil die Verjährungsfristen in Jugendstrafverfahren deutlich kürzer seien als im Erwachsenenstrafrecht, müsse Art. 97 Abs. 3 StGB im Jugendstrafrecht erst recht gelten. In den Materialien fänden sich keine Hinweise, dass der Gesetzgeber Art. 97 Abs. 3 StGB wissentlich und willentlich habe ausschliessen wollen. Art. 70 Abs. 3 aStGB, der sich inhaltlich mit dem geltenden Art. 97 Abs. 3 StGB decke, sei in den Jugendstrafverfahren anwendbar gewesen. Umso mehr müsse Art. 97 Abs. 3 StGB anwendbar sein, nachdem die Verjährungsfristen in Art. 36 Abs. 1 JStG deutlich verkürzt worden seien.  
 
1.2. Die Vorinstanz erwägt, eine Mehrheit des Spruchkörpers gelange zum Schluss, dass Art. 97 Abs. 3 StGB im Jugendstrafverfahren nicht anwendbar sei, weil die Bestimmung in Art. 1 Abs. 2 JStG nicht genannt werde. Die erste Instanz habe den Beschwerdegegner am 4. November 2013 wegen teilweise versuchten bandenmässigen und gewerbsmässigen Diebstahls sowie Sachbeschädigung und Hausfriedensbruchs verurteilt. Diese Taten seien vom 23. April bis zum 4. August 2010 sowie zwischen dem 5. und 6. November 2010 begangen worden. Seit dem banden- und gewerbsmässigen Diebstahl seien mehr als fünf Jahre verstrichen und seit der Sachbeschädigung und dem Hausfriedensbruch über drei Jahre. Daher sei das Verfahren insoweit wegen Verjährung einzustellen. Nicht verjährt sei hingegen der weitere Diebstahl, den der Beschwerdegegner als Jugendlicher zwischen dem 5. und 6. November 2010 begangen habe, da seither weniger als fünf Jahre abgelaufen seien. Im Übrigen habe der Beschwerdegegner als Erwachsener delinquiert. Die versuchte Nötigung datiere vom 9. Januar 2011 und die mehrfache Entwendung eines Personenwagens zum Gebrauch vom 24. April 2011 sowie vom 22. bis 23. November 2011. Seither seien im Zeitpunkt des erstinstanzlichen Urteils keine sieben Jahre verstrichen, weshalb die Verjährung nicht eingetreten sei. Das mehrfache Führen eines Personenwagens ohne Führerausweis falle auf den 24. April 2011 und zwischen den 22. und 23. November 2011. Zwischen diesen Taten und dem erstinstanzlichen Urteil lägen keine drei Jahre, weshalb sie nicht verjährt seien. Ebenso wenig sei der Raub vom 23. Oktober 2011 verjährt, da bis zum erstinstanzlichen Urteil keine fünfzehn Jahre vergangen seien. Der Beschwerdegegner habe vom 22. bis 23. November 2011 einen Personenwagen ohne Versicherungsschutz geführt und Kontrollschilder missbraucht. Seither seien bis zum erstinstanzlichen Urteil keine sieben Jahre verstrichen, weshalb die Verjährung nicht eingetreten sei. Schliesslich habe der Beschwerdegegner die geringfügige Sachentziehung vom 22. bis 23. November 2011 begangen. Da das erstinstanzliche Urteil vor dem Ablauf von drei Jahren gefällt worden sei, sei auch diese Tat nicht verjährt.  
 
1.3. Das Bundesgericht entschied im zur Publikation vorgesehenen Urteil 6B_646/2016 vom 3. Januar 2017, dass Art. 97 Abs. 3 StGB entgegen dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 2 lit. j JStG auch im Jugendstrafrecht gilt. Somit tritt die Verjährung in Jugendstrafverfahren nicht mehr ein, wenn vor Ablauf der Verjährungsfrist nach Art. 36 JStG ein erstinstanzliches Urteil ergangen ist (vgl. die ausführliche Begründung dort bei E. 1).  
Gemäss Art. 36 Abs. 1 JStG verjährt die Strafverfolgung in fünf Jahren, wenn die Tat nach dem für Erwachsene anwendbaren Recht mit einer Freiheitsstrafe von über drei Jahren bedroht ist (lit. a); in drei Jahren, wenn die Tat nach dem für Erwachsene anwendbaren Recht mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bedroht ist (lit. b) und in einem Jahr, wenn die Tat nach dem für Erwachsene anwendbaren Recht mit einer anderen Strafe bedroht ist (lit. c). 
Der teilweise versuchte bandenmässige und gewerbsmässige Diebstahl vom 23. April bis zum 4. August 2010 verjährte gemäss Art. 36 Abs. 1 lit. a JStG in fünf Jahren, während die Sachbeschädigung und der Hausfriedensbruch vom 5. und 6. November 2010 nach Art. 36 Abs. 1 lit. b JStG in drei Jahren verjährten. Da das erstinstanzliche Urteil vom 4. November 2013 vor Ablauf dieser Fristen erging, trat die Verjährung gemäss Art. 97 Abs. 3 StGB nicht mehr ein. 
 
2.   
Die Beschwerde ist gutzuheissen, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Der unterliegende Beschwerdegegner wird kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG).  
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 17. September 2015 aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung an das Obergericht zurückgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdegegner auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, Jugendstrafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 16. Februar 2017 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Denys 
 
Der Gerichtsschreiber: Matt