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Eidgenössisches Versicherungsgericht 
Tribunale federale delle assicurazioni 
Tribunal federal d'assicuranzas 
 
Sozialversicherungsabteilung 
des Bundesgerichts 
 
Prozess 
{T 7} 
C 49/05 
 
Urteil vom 16. August 2005 
IV. Kammer 
 
Besetzung 
Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung; Gerichtsschreiberin Hofer 
 
Parteien 
Staatssekretariat für Wirtschaft, Direktion, Arbeitsmarkt/Arbeitslosenversicherung, TCRV, Effingerstrasse 31, 3003 Bern, Beschwerdeführer, 
 
gegen 
 
S.________, 1966, Beschwerdegegner, 
 
Vorinstanz 
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur 
 
(Entscheid vom 16. Dezember 2004) 
 
Sachverhalt: 
A. 
Der 1966 geborene S.________ war ab dem 1. Juli 2002 bei der neu gegründeten X.________ AG als Linienpilot angestellt. Am 26. September 2002 teilte ihm die Arbeitgeberin mit, das Arbeitsverhältnis werde aus wirtschaftlichen Gründen auf Ende Dezember 2002 gekündigt. Nachdem am 26. November 2002 über die Gesellschaft der Konkurs eröffnet worden war, stellte S.________ am 28. November 2002 Antrag auf Insolvenzentschädigung. Mit Verfügung vom 10. Februar 2004 anerkannte die Arbeitslosenkasse des Kantons Zürich den Leistungsanspruch für die Zeit bis 8. November 2002, nicht jedoch für die Zeit vom 9. bis 26. November 2002. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 27. Mai 2004 fest. 
B. 
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 16. Dezember 2004 gut mit der Feststellung, dass S.________ bis 26. November 2002 Anspruch auf Insolvenzentschädigung hat. 
C. 
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das Staatssekretariat für Wirtschaft (seco), der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben, und der Anspruch auf Insolvenzentschädigung für die Zeit vom 9. bis 26. November 2002 sei zu verneinen. 
 
S.________ schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Zusätzlich sei ihm ein Verzugszins von 5 % ab Entstehung des Insolvenzanspruchs zuzusprechen. Die Arbeitslosenkasse beantragt Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. 
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Arbeitslosenversicherungsbereich geändert worden. In zeitlicher Hinsicht sind grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1). Der streitige Anspruch auf Insolvenzentschädigung bis 26. November 2002 beurteilt sich somit materiellrechtlich nach den vor In-Kraft-Treten des ATSG gültig gewesenen Bestimmungen (vgl. BGE 130 V 329). 
2. 
Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Bestimmungen über den Anspruch auf Insolvenzentschädigung (Art. 51 Abs. 1 lit. a AVIG), deren zeitliche Bemessung (Art. 52 Abs. 1 AVIG in der vom 1. September 1999 bis 30. Juni 2003 gültig gewesenen Fassung) und die dazu ergangene Rechtsprechung (BGE 111 V 269, 121 V 377) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen. 
3. 
3.1 Das kantonale Gericht hat erwogen, bei der Arbeitgeberin sei die Situation völlig ausser Kontrolle geraten, so dass niemand mehr vorhanden gewesen sei, den der Versicherte wirksam um eine Arbeitszuweisung hätte bemühen können. Aus diesem Grund rechtfertige es sich, von einem Annahmeverzug der Arbeitgeberin auszugehen. Aus den Akten lasse nichts darauf schliessen, dass sich der Versicherte während der Kündigungsfrist nicht mehr zur Verfügung der Arbeitgeberin habe halten müssen oder dass er freigestellt worden wäre. Unter diesen Umständen habe er grundsätzlich nicht über die Dispositionsfreiheit verfügt, die Arbeit einzustellen oder sich nicht mehr zur Arbeitsleistung bereit zu halten. Zwar wäre es ihm angesichts der nicht beglichenen Lohnforderungen möglich gewesen, das Vertragsverhältnis fristlos zu kündigen, doch sei er zu einem solchen Verhalten nicht verpflichtet gewesen, weshalb insbesondere eine Aberkennung der Leistungspflicht unter dem Titel Schadenminderungspflicht nicht in Frage komme. 
3.2 Das Beschwerde führende Bundesamt stellt sich demgegenüber im Wesentlichen auf den Standpunkt, den Mitarbeitenden sei klar gewesen, dass sie spätestens ab Ende Oktober 2002 nicht mehr für die X.________ AG würden arbeiten können. Sie hätten auch gewusst, dass sie sich unverzüglich beim Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) melden sollten, wenn sie Leistungen der Arbeitslosenversicherung beanspruchen wollten. Ob ein Arbeitgeberverzug vorgelegen habe, sei unerheblich, weil alle Angestellten ausnahmslos dem Arbeitsmarkt zur Verfügung gestanden hätten, nachdem das Arbeitsverhältnis faktisch aufgelöst und sie somit arbeitslos gewesen seien. Ab dem 8. November 2002, als auch der letzte Arbeitnehmende im Besitze einer Kündigung gewesen sei, sei keine Arbeitsleistung mehr erfolgt, weshalb ab diesem Datum kein Anspruch auf Insolvenzentschädigung bestehe. Sofern sich die Versicherten nicht spätestens ab diesem Zeitpunkt beim RAV gemeldet und die Kontrollvorschriften erfüllt hätten, könne auch keine Arbeitslosenentschädigung ausgerichtet werden. Zudem ist die Aufforderung der Arbeitgeberin im Kündigungsschreiben, sich schnellstmöglich beim RAV zu melden, nach Ansicht des seco als Verzicht auf Arbeitsleistung zu verstehen. 
4. 
4.1 Der Beschwerdegegner stand seit der von der Arbeitgeberin am 26. September 2002 auf den 31. Dezember 2002 ausgesprochenen Vertragsauflösung in einem (gekündigten) Arbeitsverhältnis. Wie die Vorinstanz zu Recht erkannt hat, ist dieses in der Folge bis zur Konkurseröffnung weder seitens der Arbeitgeberin durch Freistellung des Arbeitnehmers noch vom Beschwerdegegner durch fristlose Auflösung im Sinne von Art. 337a OR vorzeitig beendet worden. Als Kündigungsgrund nannte die Arbeitgeberin Redimensionierungsmassnahmen in diversen Betriebsbereichen. Aus dem Umstand, dass sie dem Beschwerdegegner riet, sich bereits während der laufenden Kündigungsfrist beim RAV zur Standortbestimmung und Stellenvermittlung zu melden, kann nicht geschlossen werden, dieser sei damit von der Arbeitsleistung freigestellt worden. Vielmehr ist dieser Hinweis im Zusammenhang mit der damals angespannten Arbeitsmarktlage für Piloten zu sehen, welche sich schon früh um eine neue Stelle bemühen sollten, um nach Ablauf des Vertragsverhältnisses möglichst nicht ohne Arbeit dazustehen. 
4.2 Das vom seco angeführte Präjudiz (C 167/99), wonach Ansprüche des Arbeitnehmers wegen vorzeitiger Auflösung des Arbeitsverhältnisses nicht durch die Insolvenzentschädigung gedeckt werden, ist nicht einschlägig, da in jenem Fall das Arbeitsverhältnis nicht mehr bestand und die Vermittlungsfähigkeit zu bejahen war. Aufgrund der fristlos erfolgten Entlassung lag es auf der Hand, dass die versicherte Person ab jenem Zeitpunkt der Arbeitsvermittlung uneingeschränkt hätte zur Verüfugung stehen und nicht Insolvenzentschädigung, sondern Arbeitslosenentschädigung hätte beziehen können. 
4.3 Wie das Eidgenössische Versicherungsgericht im Urteil N. vom 15. April 2005 (C 214/04), einen sich in der gleichen Situation wie der Beschwerdegegner befindenden Piloten der X.________ AG betreffend, ausgeführt hat, steht dem Arbeitnehmer mit Art. 337a OR die Möglichkeit offen, das Arbeitsverhältnis fristlos aufzulösen, um zu verhindern, dass er dem Arbeitgeber auf unbestimmte Zeit Kredit gewährt und das Risiko trägt, die Gegenleistung nicht zu erhalten. Es könne von ihm jedoch nicht unter dem Titel der Schadenminderungspflicht verlangt werden, diesen Schritt zu machen. Ob der Schaden der Arbeitslosenversicherung damit überhaupt gemindert würde, sei fraglich. Zwar sei die Arbeitslosenentschädigung (Taggelder gemäss Art. 22 AVIG) tiefer als die Insolvenzentschädigung, doch entstünden der Verwaltung aus der Vermittlungstätigkeit ebenfalls Kosten. Könnten Lohnansprüche während der Dauer des Arbeitsverhältnisses nicht erhältlich gemacht werden, bedeute dies zudem noch nicht, dass dies auch im Konkursverfahren der Fall sein werde. Weder Arbeitslosenversicherung noch Arbeitnehmer vermöchten in der Regel die wirtschaftliche Lage und die Sanierungsmöglichkeiten einer sich in finanziellen Schwierigkeiten befindenden Gesellschaft zuverlässig zu beurteilen, zumal wenn die Arbeitgeberin mit dem Hinweis auf Redimensionierungsbemühungen die Lage als weniger dramatisch erscheinen lasse, als sie in Wirklichkeit sei. Es sei für einen Versicherten in einer solchen Situation daher äusserst schwierig zu beurteilen, ab wann er sich der Arbeitslosenversicherung zur Verfügung zu stellen habe, ohne selber Nachteile zu gewärtigen. 
 
Um zu verhindern - so das Eidgenössische Versicherungsgericht im erwähnten Urteil N. weiter -, dass der Arbeitnehmer beliebig lange ohne Lohn beim bisherigen Arbeitgeber bleibe, habe der Gesetzgeber in Art. 52 Abs. 1 AVIG eine zeitliche Limite für die Bezugsdauer der Insolvenzentschädigung gesetzt. Spätestens nach vier Monaten ohne Lohn sei es dem Arbeitgeber demnach aus arbeitslosenversicherungsrechtlicher Sicht nicht mehr zumutbar, beim insolventen Arbeitgeber zu verbleiben. 
4.4 Dauert der Annahmeverzug an, und kann der Arbeitnehmer in guten Treuen nicht mehr mit einer Arbeitszuweisung rechnen, kann man sich fragen, ob das Geltendmachen von Insolvenzentschädigung ab jenem Zeitpunkt als rechtsmissbräuchlich im Sinne von Art. 2 Abs. 2 ZGB zu betrachten ist. In BGE 111 V 271 Erw. 3 hat das Eidgenössische Versicherungsgericht einen knappen Monat nicht als rechtsmissbräuchliche Geltendmachung des Anspruchs auf Insolvenzentschädigung betrachtet. In SVR 1996 ALV Nr. 59 S. 181 lag zwischen der konkursamtlichen Siegelung des Betriebes und der Nachlassstundung ebenfalls weniger als ein Monat. Als der Beschwerdegegner die Kündigung erhielt, war der Lohn für den Monat September ausstehend. Dieser Zeitpunkt kann indessen nicht ausschlaggebend sein, sondern allenfalls jener, als alle oder die meisten Arbeitnehmer im Besitze des Kündigungsschreibens waren und daraus geschlossen werden konnte, dass die wirtschaftliche Lage der Arbeitgeberin hoffnungslos war. Davon geht auch das Beschwerde führende Bundesamt aus. Im von der Arbeitslosenkasse und dem seco als massgebend bezeichneten 8. November 2002 waren die Monatslöhne September und Oktober ausstehend. Die Konkurseröffnung fand kurz darauf am 26. November 2002 statt, weshalb auch hier nicht von einer rechtsmissbräuchlichen Geltendmachung der Insolvenzentschädigung auszugehen ist. 
5. 
Die Vorinstanz hat in Erwägung 3 ausgeführt, streitig sei der Anspruch auf Insolvenzentschädigung für die Zeit vom 9. bis 26. November 2002. Dispositivmässig hat sie den angefochtenen Einspracheentscheid in Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit der Feststellung aufgehoben, dass der Versicherte für die Zeit bis 26. November 2002 Anspruch auf Insolvenzentschädigung habe. Für den Beschwerdegegner bedeutet dies, dass er von diesem Zeitpunkt an rückwärts gerechnet Anspruch auf Insolvenzentschädigung während vier Monaten hat. Nachdem er erstmals für den Monat September 2002 den Lohn nicht erhielt, hat er rückwärts gerechnet für die ganze Dauer des Lohnausstandes bis zum 26. November 2002 Anspruch auf Insolvenzentschädigung. 
6. 
Was den Anspruch auf Ausrichtung von Verzugszinsen betrifft, gilt es darauf hinzuweisen, dass gemäss der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Rechtslage im Leistungsbereich der Sozialversicherung vorbehältlich einer - hier nicht gegebenen - rechtswidrigen und schuldhaften Handlung oder Unterlassung der Verwaltung rechtsprechungsgemäss keine Verzugszinsen geschuldet sind (BGE 119 V 81 Erw. 3a, 117 V 351 ff.). Art. 26 Abs. 2 ATSG sieht nunmehr vor, dass, sofern die versicherte Person ihrer Mitwirkungspflicht vollumfänglich nachgekommen ist, die Sozialversicherungen für ihre Leistungen nach Ablauf von 24 Monaten nach der Entstehung des Anspruchs, frühestens aber 12 Monate nach dessen Geltendmachung verzugszinspflichtig sind. In den Anwendungsbereich dieser Bestimmung fallen vorbehältlich spezialgesetzlicher Regelungen sämtliche vom Gesetz erfassten Sozialversicherungsleistungen, soweit sie eine Geldforderung begründen (Urteil E. vom 1. Dezember 2004, I 671/03). Hat sich der rechtlich massgebende Sachverhalt teilweise vor und teilweise nach dem In-Kraft-Treten des ATSG verwirklicht, indem die Leistung vor dem 31. Dezember 2002 fällig geworden ist, aber erst nach dem 1. Januar 2003 zur Auszahlung kommt, erfolgt die Prüfung der materiellen Anspruchsvoraussetzungen für den Zeitraum bis 31. Dezember 2002 nach den in BGE 119 V 81 Erw. 3a dargelegten Grundsätzen und für die Zeit danach gestützt auf Art. 26 Abs. 2 ATSG in Verbindung mit Art. 6 und 7 ATSV. Dem wird die Arbeitslosenkasse bei der nachzuzahlenden Insolvenzentschädigung Rechnung zu tragen haben. 
7. 
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). 
 
Nach der Rechtsprechung hat die in eigener Sache prozessierende Partei nur in Ausnahmefällen Anspruch auf eine Parteientschädigung (vgl. BGE 110 V 132). Die Voraussetzungen, die gemäss BGE 110 V 134 f. Erw. 4d kumulativ gegeben sein müssen, damit eine solche Ausnahmesituation anzunehmen ist (komplexe Sache mit hohem Streitwert, hoher Arbeitsaufwand, vernünftiges Verhältnis zwischen dem betriebenen Aufwand und dem Ergebnis der Interessenwahrung), sind im vorliegenden Fall mit Bezug auf den Beschwerdegegner nicht erfüllt. 
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
1. 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird im Sinne der Erwägungen abgewiesen. 
2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben und keine Parteientschädigungen zugesprochen. 
3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, der Arbeitslosenkasse des Kantons Zürich und dem Amt für Wirtschaft und Arbeit, Arbeitslosenversicherung, Zürich, zugestellt. 
Luzern, 16. August 2005 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
Der Präsident der IV. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: