Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Grössere Schrift
 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 7} 
K 92/06 
 
Urteil vom 17. April 2007 
II. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident, 
Bundesrichter Borella, Ursprung, 
Gerichtsschreiber Grunder. 
 
Parteien 
W.________, 1922, Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
Helsana Versicherungen AG, Schadenrecht, Birmensdorferstrasse 94, 8003 Zürich, Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Krankenversicherung, 
 
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern 
vom 22. Juni 2006. 
 
Sachverhalt: 
A. 
Die 1922 geborene W.________ ist bei der Helsana Versicherungen AG obligatorisch krankenpflegeversichert. Dr. med. et med. dent. S.________, Spezialarzt FMH für Plastisch-Rekonstruktive und Aesthetische Chirurgie, Spezialarzt FMH für Kiefer- und Gesichtschirurgie, Spezialist SSO für Oralchirurgie, nahm am 22. Juni 2004 eine Operation im Mundbereich vor (Aufklappung der Wurzelreste 36 und 47, Aufklappung mit Separation 16 sowie Extraktion der beherdeten Zähne 26 und 44; Exzision von Fremdkörperimprägnationen [Amalgam] im Oberkiefer rechts sowie Unterkiefer beidseits). Ein Gesuch (Zahnschadenformular vom 28. Juni 2004) um Übernahme der von Dr. med. et med. dent. S.________ erbrachten Leistungen lehnte die Helsana Versicherungen AG - mit Ausnahme der Kosten für die Anästhesie - nach Konsultationen ihrer Vertrauensärzte ab (Verfügung vom 20. Januar 2005; Einspracheentscheid vom 29. Juni 2005). 
B. 
Die hiegegen eingereichte Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern ab (Entscheid vom 22. Juni 2006). 
C. 
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt W.________, "dass die operative Entfernung einer Pigmentveränderung der Mundschleimhaut mit differenzialdiagnostischem Verdacht auf Präkanzerose oder Malignom eine Pflichtleistung gemäss Art. 25 KVG und damit eine kassenpflichtige Leistung darstelle, unabhängig davon, ob sie als arztäquivalente Massnahme im Sinne der dafür vorgesehenen tumorähnlichen Veränderung gemäss Art. 17 c1 KLV oder, bei bösartigem Befund, gemäss Art. 17 c2 KLV anzusprechen sei oder nicht. ... Unabhängig davon (sei festzustellen, dass) die Kosten für das Zahnschadenformular, für das Röntgenbild, das der Krankenkasse zur Beurteilung der Leistungspflicht eingereicht werden musste, für die Medikamente gemäss Spezialitätenliste und für die Untersuchung durch einen Facharzt kassenpflichtige Leistungen darstellen." 
Die Helsana Versicherungen AG reicht mit Eingabe vom 26. September 2006 eine Beschwerdeantwort sowie verschiedene Unterlagen (worunter zwei Honorarrechnungen des Dr. med. et med. dent. S.________ vom 29. Mai und 5. Oktober 2004) ein. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
 
1. 
Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110) ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 392 E. 1.2 S. 395). 
2. 
2.1 Im letztinstanzlichen Verfahren ist nicht mehr streitig, dass die chirurgisch durchgeführte Aufklappung der Wurzelreste 36 und 47, Aufklappung mit Separation 16 sowie Extraktion der beherdeten Zähne 26 und 44 zahnärztliche Behandlungen darstellen, welche nicht der Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung unterliegen. Zu prüfen ist, wie es sich mit der Exzision von Fremdkörperimprägnationen (Amalgam) im Bereich der Mundschleimhaut verhält. Die Vorinstanz verneinte auch diesbezüglich eine Leistungspflicht aus der obligatorischen Krankenpflegeversicherung im Wesentlichen mit der Begründung, bei der diagnostizierten Argyrose handle es sich nicht um eine Krankheit. 
2.2 Bei dem in Art. 3 Abs. 1 ATSG definierten Krankheitsbegriff, welcher im Bereich der Krankenversicherung anwendbar ist (Art. 1 Abs. 1 und Art. 1a Abs. 2 lit. a KVG), handelt es sich um einen Rechtsbegriff, der sich nicht notwendigerweise mit dem medizinischen Krankheitsbegriff deckt (BGE 124 V 118 E. 3b S. 120 f. mit Hinweisen; Urteil K 1/05 vom 16. August 2005 E. 1.2). Während die Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit die medizinische Seite des Krankheitsbegriffs darstellt, ist die Untersuchungs- und Behandlungsbedürftigkeit die leistungsbezogene Komponente. Dadurch wird der in tatsächlicher Hinsicht umfassendere medizinische Krankheitsbegriff auf die versicherungsrechtlich relevanten Ziele eingeengt. Verlangt eine gesundheitliche Beeinträchtigung weder Untersuchung noch Behandlung und verursacht sie keine Arbeitsunfähigkeit, liegt grundsätzlich keine Krankheit im Sinne von Art. 1a Abs. 2 lit. a KVG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 ATSG vor (Gebhard Eugster, Krankenversicherung, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, 2. Aufl., S. 477 Rz 248 mit Hinweisen). Übliche und erträgliche Abweichungen von Ideal- oder Normvorstellungen stellen als solche keine Krankheit dar (vgl. BGE 129 V 32 E. 4.2.1 S. 38). Diese Grundsätze verkennt die Beschwerdeführerin, wenn sie geltend macht, die Operation sei nach Angaben des Dr. med. et med. dent. S.________ medizinisch indiziert gewesen. Auch die gesetzliche Vermutung, wonach die ärztliche Behandlung den gesetzlichen Prinzipien der Wirksamkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmässigkeit entspricht (Art. 32 Abs. 1 KVG; BGE 129 V 167 E. 4 S. 174), kommt nur zum Tragen, wenn überhaupt eine Krankheit vorliegt, was hier gemäss den zutreffenden Erwägungen im angefochtenen Entscheid, worauf im Übrigen verwiesen wird, nicht zutrifft. 
3. 
3.1 Zu prüfen ist sodann, inwieweit die Helsana Versicherungen AG die Kosten hinsichtlich der für die Diagnosestellung erforderlichen Abklärungen zu übernehmen hat. Sie anerkennt mit der letztinstanzlich eingereichten Beschwerdeantwort eine Leistungspflicht aus der obligatorischen Krankenpflegeversicherung für die erste fachärztliche Untersuchung (Fr. 65.10) sowie das Zahnschadenformular (Fr. 68.20), verneint hiegegen eine solche hinsichtlich des angefertigten Röntgenbildes (Orthopantomogramm) und der verabreichten Medikamente. Zur Begründung führt sie aus, zum einen sei das von ihr angeforderte Röntgenbild vor der Prüfung des Schadenfalles erstellt, mithin nicht von ihr angeordnet worden, zum anderen liege keine Pflichtleistung nach KVG vor. 
3.2 Nach der Rechtsprechung muss der Krankenversicherer zusätzliche Abklärungen betreffend die Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung bei zahnärztlichen Behandlungen vornehmen, wenn greifbare Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die versicherte Person eine Zahnschädigung aufweist, die in den rechtlichen Einzugsbereich der lit. a-c des Art. 31 Abs. 1 KVG und der entsprechenden Ausführungsbestimmungen (Art. 17-19 KLV) fallen könnte (Urteil K 11/06 vom 11. Juli 2006 E. 3). Besteht aufgrund lege artis klinisch erhobener Befunde der Verdacht auf eine bestimmte behandlungsbedürftige Erkrankung, sind der genauen Diagnosestellung dienende Abklärungen grundsätzlich zu vergüten, sofern sie dem Gebot der Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit der Leistungen gemäss Art. 32 Abs. 1 KVG genügen (Urteil K 5/06 vom 21. August 2006 E. 3). 
3.3 Zur Frage, ob diese Voraussetzungen hier in Bezug auf die Orthopantomographie vom 9. Juni 2004 (vgl. letztinstanzlich eingereichte Honorarrechnung des Dr. med. et med. dent. S.________ vom 5. Oktober 2004) ex ante betrachtet (vgl. Urteil K 112/03 vom 2. September 2004 E. 5.1 mit Hinweisen, publ. in: RKUV Nr. KV 307 S. 468) zutreffen, hat die Beschwerdegegnerin nicht Stellung genommen. Weiter ist festzuhalten, dass der chirurgische Eingriff vom 22. Juni 2004 wegen eines bestehenden Herzfehlers (mitrale Herzinsuffizienz) eine Endokarditisprophylaxe mit Antibiotika erforderte (vgl. Berichte der Dres. med. S.________ vom 22. Juni 2004 und D.________, Spezialarzt FMH für Innere Medizin, spez. Kardiologie, vom 23. Januar 2004). Die Helsana Versicherungen AG hat die Übernahme der Kosten der Totalnarkose der nicht kassenpflichtigen Operation mit der Begründung anerkannt, dass die Beschwerdeführerin an einer Überempfindlichkeit (Allergie) auf lokale Anästhetika leidet. Daher ist nicht ohne weiteres ersichtlich, weshalb sie generell eine Leistungspflicht für die verabreichten Medikamente verneint. Die Sache ist unter diesen Umständen an die Helsana Versicherungen AG zurückzuweisen, damit sie nach Rücksprache mit dem Vertrauensarzt über diese Punkte unter Einbezug der im letztinstanzlichen Verfahren anerkannten Leistungspflicht für die erste fachärztliche Konsultation sowie das Zahnschadenformular neu befinde. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne teilweise gutgeheissen, dass der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 22. Juni 2006 und der Einspracheentscheid vom 29. Juni 2005 aufgehoben werden und die Sache an die Helsana Versicherungen AG zurückgewiesen wird, damit sie im Sinne der Erwägung 3.3 verfahre. Im Übrigen wird die Verwaltungsgerichtsbeschwerde abgewiesen. 
2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt. 
Luzern, 17. April 2007 
 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: