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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
6B_560/2020  
 
 
Urteil vom 17. August 2020  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Denys, Präsident, 
Bundesrichter Muschietti, 
Bundesrichterin Koch, 
Gerichtsschreiber Matt. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Tobias Gähwiler, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Landesverweisung (Härtefall), 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich, II. Strafkammer, vom 30. März 2020 (SB190059-O/U/mc-cs). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Am 1. November 2018 verurteilte das Bezirksgericht Zürich A.________ wegen Raubes, versuchter Nötigung, mehrfacher Sachbeschädigung, Hausfriedensbruchs, Entwendung eines Motorfahrzeugs zum Gebrauch und Übertretung des Betäubungsmittelgesetzes zu 26 Monaten Freiheitsstrafe und Fr. 100.-- Busse. Es verwies den Beschuldigten für 8 Jahre des Landes. Auf dessen Berufung hin bestätigte das Obergericht des Kantons Zürich das erstinstanzliche Urteil am 30. März 2020 im Schuldpunkt, reduzierte aber die Freiheitsstrafe auf 20 Monate und die Landesverweisung auf 5 Jahre. Ausserdem ordnete es eine stationäre therapeutische Massnahme im Sinne von Art. 60 StGB (Suchtbehandlung Alkohol) an, zu deren Gunsten es den Vollzug der Freiheitsstrafe aufschob. 
 
B.   
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt A.________, auf die Landesverweisung sei zu verzichten, eventualiter sei die Sache an das Obergericht zurückzuweisen. Er ersucht um unentgeltliche Rechtspflege. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Der Beschwerdeführer bestreitet einzig die Landesverweisung. Die Vorinstanz verneine einen persönlichen Härtefall zu Unrecht, wobei sie namentlich der langen Aufenthaltsdauer und dem Integrationswillen in der Schweiz sowie den schlechten Wiedereingliederungschancen und medizinischen Behandlungsmöglichkeiten in der Heimtat zu wenig Rechnung trage. Sie gewichte die gegenläufigen Interessen falsch. 
 
1.1.  
 
1.1.1. Das Gericht verweist den Ausländer, der wegen Raubes verurteilt wird, unabhängig von der Höhe der Strafe für 5-15 Jahre aus der Schweiz (Art. 66a Abs. 1 lit. c StGB). Die obligatorische Landesverweisung wegen einer Katalogtat im Sinne von Art. 66a Abs. 1 StGB greift grundsätzlich unabhängig von der konkreten Tatschwere (BGE 144 IV 332 E. 3.1.3). Sie muss unabhängig davon ausgesprochen werden, ob es beim Versuch geblieben ist und ob die Strafe bedingt, unbedingt oder teilbedingt ausfällt (BGE 144 IV 168 E. 1.4.1).  
Von der Anordnung der Landesverweisung kann nur "ausnahmsweise" unter den kumulativen Voraussetzungen abgesehen werden, dass sie (1.) einen schweren persönlichen Härtefall bewirken würde und (2.) die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung gegenüber den privaten Interessen des Ausländers am Verbleib in der Schweiz nicht überwiegen. Dabei ist der besonderen Situation von Ausländern Rechnung zu tragen, die in der Schweiz geboren oder aufgewachsen sind (Art. 66a Abs. 2 StGB; sog. Härtefallklausel). Die Härtefallklausel dient der Umsetzung des Verhältnismässigkeitsprinzips (vgl. Art. 5 Abs. 2 BV; BGE 145 IV 364 E. 3.2; 144 IV 332 E. 3.1.2; je mit Hinweisen). Sie ist restriktiv anzuwenden (BGE 144 IV 332 E. 3.3.1). Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung lässt sich zur kriteriengeleiteten Prüfung des Härtefalls im Sinne von Art. 66a Abs. 2 StGB der Kriterienkatalog der Bestimmung über den "schwerwiegenden persönlichen Härtefall" in Art. 31 Abs. 1 der Verordnung vom 24. Oktober 2007 über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE; SR 142.201) heranziehen. Zu berücksichtigen sind namentlich der Grad der (persönlichen und wirtschaftlichen) Integration, einschliesslich familiärer Bindungen des Ausländers in der Schweiz bzw. in der Heimat, Aufenthaltsdauer und Resozialisierungschancen. Ebenso ist der Rückfallgefahr und wiederholter Delinquenz Rechnung zu tragen. Das Gericht darf auch vor dem Inkrafttreten von Art. 66a StGB begangene Straftaten berücksichtigen (BGE 146 IV 105 E. 3.4.1; 144 IV 332 E. 3.3.2). 
Die Sachfrage entscheidet sich mithin in einer Interessenabwägung nach Massgabe der "öffentlichen Interessen an der Landesverweisung". Nach der gesetzlichen Systematik ist die obligatorische Landesverweisung anzuordnen, wenn die Katalogtaten einen Schweregrad erreichen, sodass die Landesverweisung zur Wahrung der inneren Sicherheit notwendig erscheint. Diese Beurteilung lässt sich strafrechtlich nur in der Weise vornehmen, dass massgebend auf die verschuldensmässige Natur und Schwere der Tatbegehung, die sich darin manifestierende Gefährlichkeit des Täters für die öffentliche Sicherheit und auf die Legalprognose abgestellt wird (Urteile 6B_742/2019 vom 23. Juni 2020 E. 1.1.2; 6B_627/2018 vom 22. März 2019 E. 1.6.2; je mit Hinweisen). 
 
1.1.2. Art. 8 EMRK verschafft praxisgemäss keinen Anspruch auf Einreise oder Aufenthalt oder auf einen Aufenthaltstitel. Der EGMR anerkennt das Recht der Staaten, die Einwanderung und den Aufenthalt von Nicht-Staatsangehörigen auf ihrem Territorium zu regeln (BGE 144 I 266 E. 3.2). Die Staaten sind berechtigt, Delinquenten auszuweisen; berührt die Ausweisung Gewährleistungen von Art. 8 Ziff. 1 EMRK, sind die Voraussetzungen von Art. 8 Ziff. 2 EMRK zu prüfen (Urteil des EGMR in Sachen  I.M. gegen die Schweiz vom 9. April 2019, Nr. 23887/16, § 68). Erforderlich ist, dass die aufenthaltsbeendende oder -verweigernde Massnahme gesetzlich vorgesehen ist, einem legitimen Zweck im Sinne von Art. 8 Ziff. 2 EMRK entspricht (Schutz der nationalen oder öffentlichen Sicherheit, Aufrechterhaltung der Ordnung, Verhütung von Straftaten etc.) und verhältnismässig ist. Die nationalen Instanzen haben sich unter anderem von folgenden Kriterien leiten zu lassen: Natur und Schwere der Straftat, Dauer des Aufenthalts im ausweisenden Staat, seit der Straftat abgelaufene Zeit und Verhalten während dieser Zeit, familiäre Situation usw. (Urteil des EGMR in Sachen  I.M. gegen die Schweiz, a.a.O., §§ 69 ff.; zum Ganzen: BGE 146 IV 105 E. 4.2).  
 
1.2. Der Beschwerdeführer bringt nichts vor, was die Landesverweisung als bundes- oder völkerrechtswidrig erscheinen liesse. Entgegen seiner Auffassung ist nicht ersichtlich, dass die Vorinstanz einen schweren persönlichen Härtefall zu Unrecht verneint, das ihr zustehende Ermessen überschritten, oder die sich entgegenstehenden öffentlichen und privaten Interessen falsch gewichtet hätte.  
 
1.2.1. Es ist unbestritten und erstellt, dass der Beschwerdeführer eine Katalogtat begangen hat, die grundsätzlich eine Landesverweisung nach sich ziehen muss. Sodann kann von einer gelungenen Integration des Beschwerdeführers in der Schweiz nicht gesprochen werden. Namentlich behauptet er nicht, jemals dauerhaft arbeitstätig gewesen zu sein. Er verfügt über keinen Lehrabschluss und nennt keine einheimischen Kollegen, Bekannte oder soziale resp. gesellschaftliche Tätigkeiten, die auf eine Verwurzelung schliessen liessen. Der Beschwerdeführer ist vorbestraft und nach eigenen Angaben drogensüchtig. Dass er einwandfrei Deutsch spricht, seine Mittel- und Oberschulzeit hier absolviert und nun bei der Stiftung Netzwerk erste Arbeitseinsätze geleistet hat, vermag an der mangelhaften Integration in der Schweiz nichts zu ändern und begründet jedenfalls keine besonders schützenswerte Integration. Gleiches gilt für die geltend gemachte Beziehung zu Mutter und Halbbruder. Der Beschwerdeführer behauptet in diesem Zusammenhang insbesondere nicht, dass die Angehörigen von ihm abhängig und von einer Landesverweisung besonders betroffen wären, etwa aufgrund persönlicher Gebrechen oder Unterstützungsleistungen des Beschwerdeführers zu deren Gunsten. Er macht vielmehr geltend, er selbst sei auf seine Mutter angewiesen; sie sei seine wichtigste Bezugsperson und Stütze. Nachdem er indes die Landesverweisung durch sein eigenes Verhalten zu verantworten hat, kann er aus der Nähe zur Mutter nichts für sich ableiten. Abgesehen davon äussert er sich mit keinem Wort dazu, weshalb es der Mutter unmöglich oder unzumutbar sein soll, ihn in die Ukraine zu begleiten und sei dies auch nur vorübergehend zur Eingewöhnung. Im Übrigen sind die Mutter und der zum erstinstanzlichen Urteilszeitpunkt 9-jährige Halbbruder, entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers, grundsätzlich nicht Teil der nach Art. 8 EMRK geschützten Kernfamilie. Es ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer volljährig und unverheiratet ist und keine minderjährigen Kinder hat, für die er sorgen müsste. Er spricht unbestrittenermassen die ukrainische und die russische Sprache. Er migrierte im Alter von 11 Jahren in die Schweiz.  
Die vom Beschwerdeführer als Argument für seinen Verbleib angeführten medizinischen Gründe bleiben sodann aufgrund seiner Ausführungen vage. Er macht zwar geltend, drogensüchtig zu sein, führt dies aber nicht weiter aus. Seine Schuldfähigkeit war deswegen offenbar bloss leicht vermindert, sodass die Schwere der Abhängigkeit unklar bleibt. Ferner ist dem Beschwerdeführer insoweit entgegen zu halten, dass ihm die Vorinstanz die Möglichkeit bietet, die Abhängigkeit im Rahmen einer stationären Massnahme, zu deren Gunsten die Freiheitsstrafe aufgeschoben wurde, zu überwinden. Es liegt an ihm, diese Chance zu nutzen. Nachdem der Beschwerdeführer zudem selbst vorbringt, es habe ein gefestigter Sinneswandel stattgefunden und er wolle die Drogensucht besiegen, steht diese der Anordnung einer Landesverweisung von vornherein nicht entgegen. Dies gilt umso weniger, als der (Miss) -Erfolg der Massnahme noch nicht feststeht. Die Behauptung, wonach bei einem allfälligen Scheitern der Therapie in der Schweiz in der Ukraine keine erfolgversprechenden Behandlungsmöglichkeiten bestünden, belegt der Beschwerdeführer zudem in keiner Weise. Dies gilt ebenso für die angeblich unmögliche Reintegration im Heimatland. Wohl mögen die dortige medizinische Versorgung bzw. die wirtschaftlichen Aussichten denjenigen in der Schweiz nicht ebenbürtig sein. Dies bedeutet aber, wie die Vorinstanz zutreffend erwägt, nicht, dass in der Ukraine keine angemessene Behandlung gewährleistet wäre. Gleiches trifft auf die wirtschaftlichen Eingliederungsmöglichkeiten zu. Der Beschwerdeführer legt jedenfalls nicht dar, dass er von einer Landesverweisung ungleich schwerer betroffen wäre, als andere ausländische Straftäter. Es verletzt daher kein Bundes- oder Völkerrecht, wenn die Vorinstanz einen Härtefall verneint. 
 
1.2.2. Auch die vorinstanzliche Interessenabwägung hält vor Bundes- und Völkerrecht stand: Der dem Beschwerdeführer zur Last gelegte mittäterschaftlich begangene Raub stellt eine schwere Straftat dar. Dies nicht zuletzt mit Blick auf andere Straftatbestände, die prinzipiell ebenfalls eine Landesverweisung nach sich ziehen. Entsprechend ist das öffentliche Fernhalteinteresse hoch zu gewichten, während das persönliche Interesse des Beschwerdeführers an einem Verbleib, nach dem in der vorstehenden Erwägung Gesagten, nicht übermässig schwer wiegt. Daran ändert nichts, dass es sich nach Auffassung der Vorinstanz um einen eher leichten Fall von Raub handelte. Dem trägt sie aber im Rahmen der Dauer der Landesverweisung angemessen Rechnung, reduziert sie diese doch auf das gesetzliche Minimum von 5 Jahren. Der Beschwerdeführer ist zudem unbestrittenermassen einschlägig vorbestraft, nachdem er bereits im Jahr 2014 unter anderem wegen Raubes verurteilt wurde. Sein diesbezüglicher Einwand, wonach eher von jugendlicher Unreife als einer kriminellen Grundhaltung auszugehen sei, ändert weder an der Tat noch am Fernhalteinteresse etwas Grundlegendes. Ebenso geht die Vorinstanz - unbesehen eines Erfolgs der Massnahme - nachvollziehbar von einer ungünstigen Legalprognose aus. Dass die Gewichtung der widerstrebenden Interessen zugunsten des öffentlichen Fernhalteinteresses ausfällt, ist nicht zu beanstanden. Der Beschwerdeführer mag im Übrigen kaum bestreiten, dass eine erfolgreiche Therapie auch seine Wiedereingliederungsschancen in der Ukraine verbessern würde. Es ist daher nicht widersprüchlich, ihm eine Therapie zu gewähren, aber trotzdem eine negative Legalprognose zu stellen. Abschliessend ist darauf hinzuweisen, dass die Härtefallklausel nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers restriktiv anzuwenden ist, und der Verzicht auf eine Landesverweisung die Ausnahme bleiben soll (oben E. 1.1.1). Derlei schwerwiegende Umstände sind vorliegend nicht dargetan.  
 
2.   
Die Beschwerde ist abzuweisen. Ausgangsgemäss hat der Beschwerdeführer die Gerichtskosten zu tragen, da sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege infolge Aussichtslosigkeit der Beschwerde abzuweisen ist. Den finanziellen Verhältnissen des Beschwerdeführers ist bei der Kostenfestsetzung Rechnung zu tragen (Art. 64, Art. 65 und Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen. 
 
3.   
Der Beschwerdeführer trägt die Gerichtskosten von Fr. 1'200.--. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, II. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 17. August 2020 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Denys 
 
Der Gerichtsschreiber: Matt