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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
9C_439/2017  
 
 
Urteil vom 18. Mai 2018  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichter Parrino, Bundesrichterin Moser-Szeless, 
Gerichtsschreiber R. Widmer. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch 
Rechtsanwältin Filiz-Félice Aydemir Séquin, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle Luzern, 
Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid 
des Kantonsgerichts Luzern 
vom 4. Mai 2017 (5V 16 214). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Die 1964 geborene A.________, verheiratet und Mutter von vier Kindern, war seit 1. Mai 1995 teilzeitlich als Abpackerin bei der Genossenschaft B.________ tätig. Am 17. November 1996 zog sie sich bei einem Auffahrunfall eine Commotio cerebri, eine Schädelkontusion, einen Zungenbiss und eine Distorsion der Halswirbelsäule (HWS) zu. Nachdem sie ab 2. Januar 2001 aus gesundheitlichen Gründen der Arbeit ferngeblieben war, kündigte die Genossenschaft B.________ das Anstellungsverhältnis auf den 30. November 2001. Am 19. Februar 2001 meldete sich A.________ bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Mit Verfügung vom 4. Februar 2004 sprach die IV-Stelle Luzern der Versicherten auf der Grundlage eines nach der gemischten Methode ermittelten Invaliditätsgrades von 77 % ab 1. Februar 2002 eine ganze Invalidenrente zu. Im Rahmen zweier Revisionsverfahren bestätigte die IV-Stelle diese Rentenzusprechung. 
Im Juni 2013 leitete die IV-Stelle erneut ein Revisionsverfahren ein. Sie holte eine Expertise des Ärztlichen Begutachtungsinstituts GmbH, Basel (ABI), vom 14. Juli 2014 ein, worauf sie die bisher ausgerichtete Invalidenrente mit Verfügung vom 3. Mai 2016 auf den 30. Juni 2016 aufhob. 
 
B.   
Die von A.________ eingereichte Beschwerde wies das Kantonsgericht Luzern mit Entscheid vom 4. Mai 2017 ab. 
 
C.   
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt die Versicherte beantragen, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sei ihr weiterhin eine ganze, allenfalls eine Dreiviertels-, halbe oder Viertelsrente der Invalidenversicherung zuzusprechen; eventuell sei die Sache zu ergänzenden Abklärungen und neuer Entscheidung an die IV-Stelle oder das kantonale Gericht zurückzuweisen. 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung verzichtet. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG), die Feststellung des Sachverhalts nur, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.   
Die Vorinstanz hat die gesetzlichen Bestimmungen und Grundsätze über die Revision der Invalidenrente (Art. 17 Abs. 1 ATSG), die Revisionsgründe (BGE 130 V 343 E. 3.5 S. 349 mit Hinweis), die bei einer Revision zu vergleichenden Sachverhalte (BGE 133 V 108 E. 5.4 S. 114 mit Hinweis) sowie zur Bedeutung ärztlicher Auskünfte für die Belange der Invaliditätsbemessung (BGE 132 V 93 E. 4 S. 99, 125 V 256 E. 4 S. 261 mit weiteren Hinweisen) zutreffend wiedergegeben. Darauf wird verwiesen. 
 
3.   
Streitig und zu prüfen ist, ob sich im Zeitraum zwischen der ursprünglichen Verfügung vom 4. Februar 2004 (Zusprechung einer ganzen Invalidenrente) und der Aufhebung der Invalidenrente gemäss vorinstanzlich bestätigter Verfügung vom 3. Mai 2016 eine Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen ereignet hat, welche die Rentenaufhebung rechtfertigt. 
 
3.1. Das kantonale Gericht erblickte eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen darin, dass drei der vier Kinder, welche im Zeitpunkt der Rentenzusprechung noch im Haushalt der Eltern lebten, mittlerweile ausgezogen sind. Ein Sohn lebe noch mit den Eltern im gleichen Haushalt, sei jedoch erwachsen, verheiratet und habe selbst Kinder. Das bei diesen Begebenheiten ein Wechsel in der Bemessungsmethode von einer Teil- zu einer Vollerwerbstätigkeit vorzunehmen ist, sei offensichtlich. In medizinischer Hinsicht stellte das Kantonsgericht nach Prüfung der beschwerdeweise hiegegen erhobenen Einwendungen auf das polydisziplinäre Gutachten des ABI vom 14. Juli 2014 ab; in somatischer Hinsicht seien keine objektivierbaren Befunde erhoben worden. Auch der Beurteilung im psychiatrischen Teilgutachten des ABI könne gefolgt werden. Laut dem Psychiater des ABI könne der Versicherten zugemutet werden, ganztags eine berufliche Tätigkeit auszuüben. Die Vorinstanz prüfte auch im Lichte der mit BGE 141 V 281 geänderten Rechtsprechung, ob sich die seitens des Psychiaters diagnostizierte chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren resp. die anhaltende somatoforme Schmerzstörung auf die Arbeitsfähigkeit auswirke. Aufgrund einer gesamthaften Betrachtung aller massgeblichen Indikatoren gelangte sie zum Schluss, dass funktionelle Auswirkungen einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung in einem anspruchserheblichen Ausmass nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ausgewiesen sind. Eine Arbeitsunfähigkeit liege daher aufgrund der Schmerzstörung nicht vor.  
 
3.2. Die Beschwerdeführerin macht geltend, sie habe vor dem Unfall eine Vollzeiterwerbstätigkeit ausgeübt, weshalb die Invaliditätsbemessung nach der gemischten Methode auch anfänglich nicht anwendbar gewesen sei. Des Weiteren sei zu beachten, dass sie während beinahe 15 Jahren eine Invalidenrente bezogen hat (vom 1. Februar 2002 bis 30. Juni 2016). Der Gesundheitsschaden, für welchen die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt Taggeld bezahlt hat, bestehe mindestens seit November 1996. Die Taggeldzahlung sei der Zahlung einer Invalidenrente gleichzusetzen, weshalb die nach der Rechtsprechung erforderliche Rentendauer von 15 Jahren erreicht sei mit der Folge, dass eine Revision erst nach vorgängigen beruflichen Massnahmen in Betracht fällt. Ferner kritisiert sie die Expertise des ABI, welche die Qualitätsanforderungen nicht erfülle, und hält dafür, stattdessen auf die Berichte des Medizinischen Zentrums C.________ abzustellen, wobei sie in der Folge zahlreiche Arztberichte eingehend wiedergibt. Schliesslich vertritt die Versicherte die Auffassung, die Vorinstanz habe die Schwere des Krankheitsbildes verkannt. Bei der Prüfung der Frage, ob eine somatoforme Schmerzstörung die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigt, sei sie zu unzutreffenden Schlüssen gelangt.  
 
4.   
Der Einwand der Beschwerdeführerin, sie habe vor dem Unfall eine Vollzeiterwerbstätigkeit ausgeübt, weshalb der Invaliditätsgrad von Anfang an nach der Einkommensvergleichsmethode hätte durchgeführt werden müssen, ist aktenwidrig. Es findet sich nirgends eine Grundlage dafür, dass die Beschwerdeführerin zu 100 % erwerbstätig gewesen ist. Mit der entsprechenden Behauptung vermag sie nicht darzutun, dass die vorinstanzliche Feststellung teilweiser Erwerbstätigkeit offensichtlich unrichtig sei oder auf einer willkürlichen Beweiswürdigung beruhe. Vielmehr ergibt sich aus der Auskunft der Genossenschaft B.________ vom 16. März 2001, dass die Versicherte in den Jahren 1998 bis Februar 2001 jeweils ein deutlich reduziertes Arbeitspensum erledigt hatte (zwischen 964 und 1'261 Arbeitsstunden pro Jahr). Sodann ist aus der Unfallmeldung vom 28. November 1996 ersichtlich, dass die Beschwerdeführerin unmittelbar vor dem Unfall 27.02 Stunden in der Woche (bei einem betriebsüblichen Pensum von 41 Stunden) arbeitete. Das Schreiben des damaligen Rechtsvertreters an die IV-Stelle vom 18. Juni 2003 samt Bescheinigung der Genossenschaft B.________ belegt kein volles Arbeitspensum. Gleiches gilt für den Brief des Anwalts an die IV-Stelle vom 10. März 2005. Schliesslich zeigen auch die Lohnabrechnungen für die Monate September und Oktober 1995 klar, dass die Beschwerdeführerin vor dem Unfallereignis teilzeitlich beschäftigt war, wurden doch nur 145.3 und 138.9 Arbeitsstunden entlöhnt. Dass die Vorinstanz ab Mai 2016, als das jüngste Kind der Versicherten das 20. Altersjahr vollendete und keine Betreuungspflichten mehr bestanden, von einer vollen Erwerbstätigkeit ausging, ist nicht zu beanstanden. Es liegt damit ein Revisionsgrund infolge Wechsels der Invaliditätsbemessungsmethode vor. Das Bundesgericht prüft - mangels entsprechender Rügen - nicht, ob ein Fall vorliegt, der nach der Rechtsprechung Di Trizio (BGE 143 I 50) zu entscheiden wäre. 
 
5.  
 
5.1. Die Vorinstanz hat sich einlässlich mit der Expertise des ABI befasst und auch den Bericht zur interdisziplinären Schmerzbehandlung des Medizinischen Zentrums C.________ vom 17. Februar 2016 in die Beurteilung miteinbezogen. Sie hat festgehalten, dass der Psychiater des ABI, Dr. med. D.________, die gleiche Diagnose gestellt habe wie seinerzeit Dr. med. E.________, Oberarzt Forensik des Psychiatriezentrums F.________, im Bericht vom 3. Juli 2002, welcher der ursprünglichen Verfügung zugrunde lag. Im Unterschied zu diesem Arzt vermochte Dr. med. D.________ im 12 Jahre später verfassten Teilgutachten vom 25. Juni 2014, in welchem er nebst der chronischen Schmerzstörung keine weiteren psychiatrischen Diagnosen stellte, keine Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit zu erkennen. Der Gutachter wies insbesondere auch auf das Fehlen jeglicher Therapie hin.  
 
5.2. Das Medizinische Zentrum C.________ nahm am 7. Juli 2015 zum psychiatrischen Teil des ABI-Gutachtens Stellung. Es stellte vielfältige psychische Einschränkungen und einen massiven sozialen Rückzug fest und diagnostizierte eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode, sowie eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung. Daraus resultiere eine volle Arbeitsunfähigkeit. Die erst nach Verfügungserlass abgeschlossene stationäre Behandlung in der Psychiatrie G.________ (vom 27. Mai bis 11. Juli 2016) führte zu keiner nachhaltigen Besserung des Gesundheitszustandes. Im Austrittsbericht vom 4. August 2016, der, obwohl nach Verfügungserlass erstattet, von der Vorinstanz aus prozessökonomischen Gründen in die Beurteilung miteinbezogen werden kann (vgl. BGE 130 V 138 E. 1 S. 140), finden sich die gleichen Diagnosen wie in der Stellungnahme des Medizinischen Zentrums C.________. Ebenso erachtet die Psychiatrie G.________ die Versicherte als nicht mehr arbeitsfähig.  
 
5.3. Soweit die Vorinstanz die mittelgradige Depression, an welcher die Versicherte leidet, als nicht invalidisierend bezeichnet, weil sie als therapierbar zu erachten sei, kann ihren Ausführungen nicht beigepflichtet werden. In BGE 143 V 409 und 418 hat das Bundesgericht seine Rechtsprechung geändert und festgestellt, dass die Therapierbarkeit einer leichten bis mittelgradigen Depression allein keine abschliessende evidente Aussage über das Gesamtmass der Beeinträchtigung und deren Relevanz im iv-rechtlichen Kontext zu liefern vermöge. Weiter hat es erkannt, dass sämtliche psychischen Erkrankungen, namentlich auch depressive Störungen leicht- bis mittelgradiger Natur, grundsätzlich einem strukturierten Beweisverfahren nach BGE 141 V 281 zu unterziehen seien, welches bislang bei Vorliegen somatoformer Schmerzstörungen anhand eines Kataloges von Indikatoren durchgeführt wird. Dieses bleibt entbehrlich, wenn im Rahmen beweiswertiger fachärztlicher Berichte (vgl. BGE 125 V 351) eine Arbeitsunfähigkeit in nachvollziehbar begründeter Weise verneint wird und allfälligen gegenteiligen Einschätzungen mangels fachärztlicher Qualifikation oder aus anderen Gründen kein Beweiswert beigemessen werden kann (BGE 143 V 409).  
 
5.4. Angesichts der stark divergierenden Auffassungen des ABI-Psychiaters Dr. med. D.________ einerseits und des Medizinischen Zentrums C.________ und der Psychiatrie G.________ andererseits hinsichtlich des diagnostizierten (objektiven) psychischen Krankheitsbildes sowie des Grades der Arbeitsunfähigkeit ist von einem unvollständig ermittelten medizinischen Sachverhalt auszugehen, der keine abschliessende Beurteilung erlaubt. Auf die von der Vorinstanz durchgeführte Indikatorenprüfung kann deshalb nicht abgestellt werden, weil diese lediglich die somatoforme Schmerzstörung und nicht die allfällige depressive Erkrankung rechtsgenüglich miteinbezieht. Es erscheint daher unabdingbar, ein Gerichtsgutachten zu veranlassen. Zu diesem Zweck ist die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen. Gestützt auf die bei der Begutachtung gewonnenen Erkenntnisse wird die Vorinstanz über die Beschwerde neu entscheiden; dabei wird sie gegebenenfalls die Beurteilung nach der zitierten, bei Vorliegen depressiver Erkankungen leichten oder mittelschweren Grades geltenden neuen Rechtsprechung (E. 4.2 hievor) vornehmen.  
5. 
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden IV-Stelle aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Diese hat der Beschwerdeführerin überdies eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der angefochtene Entscheid wird aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern, 3. Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 18. Mai 2018 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Der Gerichtsschreiber: Widmer