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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
1C_338/2020  
 
 
Urteil vom 19. Januar 2021  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Kneubühler, Präsident, 
Bundesrichter Chaix, Müller, 
Gerichtsschreiberin Dambeck. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt 
des Kantons Bern, 
Schermenweg 5, Postfach, 3001 Bern. 
 
Gegenstand 
Vorsorglicher Entzug des Führerausweises 
für Motorfahrzeuge, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid der 
Rekurskommission des Kantons Bern für Massnahmen 
gegenüber Fahrzeugführerinnen und Fahrzeugführern, 
Einzelrichter, vom 13. Mai 2020 (300.2020.65). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. A.________ wird vorgeworfen, am 5. Juni 2019 einen Personenwagen mit überhöhter Geschwindigkeit gelenkt zu haben. Trotz Aufforderung der Polizei soll er zunächst nicht angehalten und später, beim Versuch der Polizei, ihn aus seinem Fahrzeug zu befördern, Widerstand geleistet haben. Dabei soll er einen Polizisten mit einem Faustschlag derart verletzt haben, dass dieser hospitalisiert und operiert werden musste. Mit Verfügung vom 14. November 2019 ordnete das Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt des Kantons Bern (SVSA) gegenüber A.________ die Durchführung einer Fahreignungsuntersuchung an.  
Am 14. November 2019 führte A.________ einen Personenwagen mit einer Blutalkoholkonzentration von mindestens 1.27 Gewichtspromille. Daraufhin entzog das SVSA A.________ mit Verfügung vom 29. Januar 2020 den Führerausweis für drei Monate. 
Mit Gutachten vom 19. Februar 2020 wurde die Fahreignung von A.________ verneint. Eine erneute verkehrspsychologische Begutachtung sollte erst nach Abschluss der hängigen Strafverfahren betreffend die A.________ vorgeworfenen Strassenverkehrsdelikte erfolgen. 
 
A.b. Das SVSA entzog A.________ mit Verfügung vom 4. März 2020 den Führerausweis für Motorfahrzeuge vorsorglich bis zum Vorliegen eines rechtskräftigen Entscheids im Strafverfahren betreffend den Vorfall vom 5. Juni 2019 und bis zur Abklärung seiner Fahreignung. Ausserdem ordnete es eine verkehrspsychologische Fahreignungsuntersuchung an, die nach Vorliegen eines rechtskräftigen Entscheids der Strafbehörde durchgeführt werden sollte.  
 
A.c. Die gegen diese Verfügung erhobene Beschwerde von A.________ wies die Rekurskommission des Kantons Bern für Massnahmen gegenüber Fahrzeugführerinnen und Fahrzeugführern mit Entscheid vom 13. Mai 2020 ab.  
 
B.   
Gegen diesen Entscheid gelangt A.________ mit Eingabe vom 12. Juni 2020 an das Bundesgericht und verlangt dessen Aufhebung. Mit separater Eingabe ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege. 
Die Rekurskommission sowie das SVSA beantragen im Rahmen ihrer Vernehmlassungen die Abweisung der Beschwerde. Diese Vernehmlassungen wurden dem Beschwerdeführer zugestellt. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid in einer Angelegenheit des öffentlichen Rechts (vgl. Art. 82 lit. a, Art. 86 Abs. 1 lit. d und Abs. 2 BGG). Die kantonalen Instanzen haben dem Beschwerdeführer den Führerausweis bis zum definitiven Entscheid über den Entzug auf unbestimmte Zeit vorsorglich entzogen. Der angefochtene Entscheid schliesst das Verfahren damit nicht ab; es handelt sich um einen Zwischenentscheid, der nach der Rechtsprechung anfechtbar ist, da er einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinn von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG bewirkt (BGE 122 II 359 E. 1b S. 362; Urteil 1C_585/2019 vom 17. November 2020 E. 1 mit Hinweis). Der Beschwerdeführer hat am vorinstanzlichen Verfahren teilgenommen und ist als vom vorsorglichen Führerausweisentzug direkt betroffene Person zur Beschwerde legitimiert (vgl. Art. 89 Abs. 1 BGG). Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde einzutreten. 
 
2.  
 
2.1. Der Beschwerdeführer macht geltend, er habe von der Vorinstanz die Verfügung vom 28. April 2020 erhalten und sich dazu innerhalb der 30-tägigen Frist, mit Eingabe vom 19. Mai 2020, geäussert. Jedoch sei der angefochtene Entscheid bereits am 13. Mai 2020 ergangen, ohne dass seine Stellungnahme berücksichtigt worden wäre.  
 
2.2. Die Vorinstanz hält im Rahmen ihrer Vernehmlassung an das Bundesgericht fest, sie habe dem Beschwerdeführer mit Instruktionsverfügung vom 28. April 2020 die Eingabe des SVSA vom 22. April 2020, inkl. der Stellungnahme der Fachpsychologin für Verkehrspsychologie, zugestellt. Wie die Eingabe des Beschwerdeführers vom 19. Mai 2020 und seine Beschwerde an das Bundesgericht zeigten, sei ihm nicht der Eindruck vermittelt worden, keine Möglichkeit zur Stellungnahme zu haben. Nach Treu und Glauben wäre er jedoch gehalten gewesen, umgehend nochmals Stellung zu nehmen, zumal eine Zwischenverfügung betreffend einen vorsorglichen Führerausweisentzug gegeben und das Verfahren daher beförderlich zu behandeln gewesen sei. Mit der Entscheidfällung am 13. Mai 2020 habe sie so lange zugewartet, bis sie habe annehmen dürfen, der Beschwerdeführer verzichte auf eine Stellungnahme. Die auf den 19. Mai 2020 datierte Stellungnahme des Beschwerdeführers, welche am 22. Mai 2020 bei der Post aufgegeben worden sei, könne jedenfalls nicht mehr als nach Treu und Glauben innert nützlicher Frist erfolgt beurteilt werden.  
 
2.3. Der Anspruch einer Partei, im Rahmen eines Gerichtsverfahrens zu replizieren, bildet einen Teilgehalt des verfassungsmässigen Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV; Art. 6 Ziff. 1 EMRK). Diese Garantie umfasst das Recht, von allen beim Gericht eingereichten Stellungnahmen Kenntnis zu erhalten und sich dazu äussern zu können, unabhängig davon, ob die Eingaben neue und/oder wesentliche Vorbringen enthalten. Das Gericht muss vor Erlass seines Urteils eingegangene Vernehmlassungen den Beteiligten zustellen, damit diese sich darüber schlüssig werden können, ob sie sich dazu äussern wollen oder nicht (zum Ganzen: BGE 146 III 97 E. 3.4.1 S. 103 f.; 139 I 189 E. 3.2 S. 191 f.; 138 I 484 E. 2.1 S. 485 f.; 137 I 195 E. 2.3.1 S. 197; je mit Hinweisen).  
Es obliegt dem Gericht, in jedem Einzelfall den Parteien ein effektives Replikrecht zu gewähren. Es kann der betroffenen Person hierfür eine Frist setzen, doch genügt zur Wahrung des Replikrechts grundsätzlich, dass den Parteien die Eingaben zur Information (Kenntnisnahme, Orientierung) zugestellt werden, wenn von ihnen, namentlich von anwaltlich Vertretenen oder Rechtskundigen, erwartet werden kann, dass sie unaufgefordert Stellung nehmen (BGE 142 III 48 E. 4.1.1 S. 53 f.; 138 I 484 E. 2.4 S. 487; Urteil des EGMR Joos gegen Schweiz vom 15. November 2012, Nr. 43245/07, Ziff. 29-33). Nach der Zustellung zur Kenntnisnahme ist das Gericht gehalten, eine angemessene Zeitspanne mit dem Entscheid zuzuwarten. Die Rechtsprechung bejaht in aller Regel eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, wenn das Gericht "nur wenige Tage" nach der Mitteilung entscheidet (vgl. BGE 137 I 195 E. 2.6 S. 199). In einer allgemeinen Formulierung hielt das Bundesgericht fest, dass jedenfalls vor Ablauf von zehn Tagen nicht, hingegen nach zwanzig Tagen von einem Verzicht auf das Replikrecht ausgegangen werden dürfe (vgl. Urteile 1B_376/2020 vom 11. September 2020 E. 2.2; 1B_272/2016 vom 26. September 2016 E. 2.2.2 mit Hinweisen). Mit anderen Worten darf das Gericht vor Ablauf von zehn Tagen im Allgemeinen nicht von einem Verzicht auf das Replikrecht ausgehen (vgl. Urteile 1B_214/2019 vom 25. Juni 2019 E. 2.1; 1B_340/ 2018 vom 18. Oktober 2018 E. 2.3; je mit Hinweisen). Diese Wartefrist für das Gericht schliesst die Zeit, welche die Partei zur Übermittlung ihrer (Replik-) Eingabe benötigt, bereits ein (Urteile 2C_441/2019 vom 27. September 2019 E. 2.1; 5D_81/2015 vom 4. April 2016 E. 2.3.4 und 2.4 mit Hinweisen). Entsprechend obliegt es einer Partei, die eine Stellungnahme zu einer ihr zur Kenntnisnahme zugestellten Vernehmlassung für erforderlich hält, diese grundsätzlich unverzüglich einzureichen oder zu beantragen (BGE 138 I 484 E. 2.2 S. 486; 133 I 100 E. 4.8 S. 105; zum Ganzen: Urteil 5A_1022/2015 vom 29. April 2016 E. 3.2.2 mit Hinweisen). 
 
2.4. Aus den Vorakten geht hervor, dass das SVSA der Vorinstanz am 22. April 2020 einerseits die verkehrspsychologische Fahreignungsabklärung vom 19. Februar 2020 bzw. vom 19. April 2020 (korrigierte Fassung) und andererseits eine Stellungnahme der Fachpsychologin für Verkehrspsychologie vom 19. April 2020 zugehen liess. Die Vorinstanz stellte dem Beschwerdeführer diese Eingabe des SVSA mit Verfügung vom 28. April 2020 per eingeschriebener Post zu. Am 7. Mai 2020 ging bei der Vorinstanz die Meldung der Post vom 6. Mai 2020 ein, wonach die Sendung noch nicht hat zugestellt werden können. Am 13. Mai 2020 fällte die Vorinstanz ihren Entscheid. Auch diesbezüglich teilte die Post der Vorinstanz am 23. Mai 2020 mit (Eingang bei der Vorinstanz am 25. Mai 2020), dass die Sendung noch nicht zugestellt werden konnte. Ebenfalls am 25. Mai 2020 ging bei der Vorinstanz die auf den 19. Mai 2020 datierte Stellungnahme des Beschwerdeführers betreffend die mit Verfügung der Vorinstanz vom 28. April 2020 erfolgte Zusendung ein.  
 
2.5. Mit Blick auf die Ausführungen der Vorinstanz war der Beschwerdeführer im vorinstanzlichen Verfahren weder anwaltlich vertreten noch ist er rechtskundig. Hinzu kommt, dass die ihm mit Verfügung der Vorinstanz vom 28. April 2020 zugestellten Unterlagen entscheidrelevant sind. Vor diesem Hintergrund ist fraglich, ob deren blosse Zustellung an den Beschwerdeführer ohne Fristansetzung mit Blick auf die obige Erwägung 2.3 vorliegend ausreichend war (vgl. MICHEL DAUM, in: RUTH HERZOG/MICHEL DAUM [Hrsg.], Kommentar zum Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege im Kanton Bern, 2. Aufl. 2020, N. 23 zu Art. 21 VRPG), zumal die Vorinstanz ihren Entscheid kurz darauf fällte. Auf Letzteres ist näher einzugehen: Weder aus den Akten noch aus der Vernehmlassung der Vorinstanz an das Bundesgericht oder aus der Beschwerde ergibt sich, wann die Verfügung vom 28. April 2020 an den Beschwerdeführer versandt und diesem zugestellt worden ist. Jedoch steht mit Blick auf seine diesbezügliche Stellungnahme an die Vorinstanz und seine Beschwerde an das Bundesgericht fest, dass der Beschwerdeführer die Verfügung erhalten hat. Aus der Mitteilung der Post an die Vorinstanz ist sodann zu schliessen, dass die Sendung bis zum 6. Mai 2020 nicht hat zugestellt werden können. Dieses Datum stimmt mit jenem überein, an welchem die Verfügung in Anwendung von Art. 44 Abs. 3 des Gesetzes des Kantons Bern vom 23. Mai 1989 über die Verwaltungsrechtspflege (VRPG/BE; BSG 155.21), wonach eine entsprechende Mitteilung spätestens am siebten Tag nach dem ersten erfolglosen Zustellungsversuch als erfolgt gilt, und ausgehend vom ersten erfolglosen Zustellungsversuch am 29. April 2020, als zugestellt gälte. Nur sieben Tage später, am 13. Mai 2020 fällte die Vorinstanz ihren Entscheid. Diese Zeitspanne ist im Sinn der dargelegten Rechtsprechung (vgl. oben E. 2.3) und entgegen der Auffassung der Vorinstanz zu kurz, um einen Verzicht auf das Replikrecht annehmen zu dürfen.  
 
2.6. Der angefochtene Entscheid verletzt somit den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK). Eine Heilung dieses Mangels im bundesgerichtlichen Verfahren ist nicht möglich (vgl. BGE 133 I 100 E. 4.9 S. 105).  
 
3.   
Die Beschwerde ist somit gutzuheissen, der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Sache zu neuer Beurteilung unter Gewährung des rechtlichen Gehörs an die Vorinstanz zurückzuweisen. Damit erübrigt es sich, auf die weiteren Rügen des Beschwerdeführers einzugehen. 
Bei diesem Verfahrensausgang sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 BGG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege des Beschwerdeführers wird damit gegenstandslos. Eine Parteientschädigung ist nicht zuzusprechen, da der Beschwerdeführer seine Beschwerde ohne anwaltlichen Beistand verfasst hat (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG; BGE 133 III 439 E. 4 S. 446 mit Hinweis). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird gutgeheissen, der Entscheid der Rekurskommission des Kantons Bern für Massnahmen gegenüber Fahrzeugführerinnen und Fahrzeugführern vom 13. Mai 2020 aufgehoben und die Sache zu neuer Beurteilung an diese zurückgewiesen. 
 
2.   
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.   
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt des Kantons Bern und der Rekurskommission des Kantons Bern für Massnahmen gegenüber Fahrzeugführerinnen und Fahrzeugführern, Einzelrichter, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 19. Januar 2021 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Kneubühler 
 
Die Gerichtsschreiberin: Dambeck