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[AZA] 
H 276/99 Gi 
 
III. Kammer  
 
Bundesrichter Schön, Spira und Bundesrichterin Widmer; 
Gerichtsschreiber Schäuble 
 
Urteil vom 19. Mai 2000  
 
in Sachen 
 
Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 
St. Gallen, Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
R.________, 1969, Beschwerdegegnerin, 
 
und 
 
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen 
 
    A.- In Ergänzung zu Beitragsverfügungen vom 16. Mai 
1994, 16. Februar 1996 und 16. Februar 1998 legte die Aus- 
gleichskasse des Kantons St. Gallen mit sechs Nachtragsver- 
fügungen vom 19. Januar 1996 und 8. Mai 1998 die persönli- 
chen Beiträge der selbständigerwerbenden Coiffeuse 
R.________ für die Beitragsjahre 1994 (ab 1. April) bis 
1999 fest. 
    B.- Eine Beschwerde gegen die Nachtragsverfügungen für 
die Beitragsjahre 1997 bis 1999 wies das Versicherungsge- 
richt des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 30. April 
1999 im Sinne der Erwägungen ab. Es hielt fest, die strit- 
tigen Beiträge seien zu Recht im ordentlichen Verfahren 
aufgrund des Durchschnittseinkommens der Jahre 1995/96 er- 
hoben worden. Dieses betrage indessen Fr. 58'200.- statt 
der von der Ausgleichskasse ermittelten Fr. 59'200.-. Die 
angefochtenen Verfügungen seien daher entsprechend zu kor- 
rigieren. 
 
    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die 
Ausgleichskasse die Aufhebung des vorinstanzlichen Ent- 
scheides und die Bestätigung ihrer Nachtragsverfügungen für 
die Jahre 1997 bis 1999. Auf die Begründung wird, soweit 
erforderlich, in den Erwägungen eingegangen. 
    R.________, Vorinstanz und Bundesamt für Sozialversi- 
cherung verzichten auf eine Vernehmlassung. 
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:  
 
    1.- Da keine Versicherungsleistungen streitig sind, 
hat das Eidgenössische Versicherungsgericht nur zu prüfen, 
ob der vorinstanzliche Entscheid Bundesrecht verletzt, ein- 
schliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, 
oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich un- 
richtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher 
Verfahrensbestimmungen festgestellt worden ist (Art. 132 in 
Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 
OG). 
 
    2.- a) Die Beschwerdeführerin bringt in erster Linie 
vor, die Beschwerdegegnerin habe die Nachtragsverfügungen 
im vorinstanzlichen Verfahren einzig mit der Begründung an- 
gefochten, die Beiträge für die Jahre 1997 bis 1999 dürften 
wegen ihres Mutterschaftsurlaubs und der Teilzeitarbeit 
nicht aufgrund des Durchschnittseinkommens 1995/96 erhoben 
werden. Das ermittelte Durchschnittseinkommen von 
Fr. 59'200.- sei dabei unbestritten geblieben. Streitgegen- 
stand des kantonalen Beschwerdeverfahrens bildete somit 
einzig die Frage, nach welcher Methode die beitragspflich- 
tigen Einkommen für die Jahre 1997 bis 1999 festzulegen 
seien. Gemäss Rügeprinzip, das auch im Sozialversicherungs- 
recht gilt, hätte sich die Vorinstanz auf die Prüfung die- 
ser Frage beschränken müssen. Indem sie diese Schranke ih- 
rer Zuständigkeit nicht beachtet habe, habe sie sich auf- 
sichtsrechtliche Kompetenzen angemasst, die ihr nicht zu- 
stünden. Der vorinstanzliche Entscheid sei daher schon aus 
diesem Grunde aufzuheben. 
 
    b) Dieser Betrachtungsweise kann nicht beigepflichtet 
werden. Wohl prüft nach der Rechtsprechung die Beschwerde- 
instanz den Streitgegenstand bestimmende, aber nicht bean- 
standete Elemente nur, wenn hiezu auf Grund der Vorbringen 
der Parteien oder anderer sich aus den Akten ergebender An- 
haltspunkte hinreichender Anlass besteht. Indes hat das 
Eidgenössische Versicherungsgericht in einem neueren Urteil 
klargestellt, dass der Umstand, dass lediglich einzelne 
Elemente des streitigen Rechtsverhältnisses beanstandet 
werden, nicht bedeutet, dass die unbestrittenen Teilaspekte 
in Rechtskraft erwachsen und demzufolge der richterlichen 
Überprüfung entzogen sind. Die Beschwerdeinstanz prüft 
vielmehr von den Verfahrensbeteiligten nicht aufgeworfene 
Rechtsfragen und nimmt allenfalls selber zusätzliche Abklä- 
rungen vor, oder veranlasst solche (BGE 125 V 417 Erw. 2c 
und d mit Hinweisen). Im Lichte dieser Rechtsprechung hat 
die Vorinstanz kein Bundesrecht im Sinne von Art. 104 lit. 
a OG verletzt, wenn sie das an sich unbestrittene Durch- 
schnittseinkommen der Jahre 1995/96 in die Prüfung mitein- 
bezogen hat. 
    3.- a) Die Beschwerdeführerin macht subsidiär geltend, 
ihre Nachtragsverfügungen seien auch bei einer allfälligen 
Verwerfung ihres primären Standpunktes zu bestätigen, da 
das Durchschnittseinkommen der Jahre 1995/96 entgegen der 
vorinstanzlichen Auffassung, die auf einer unkorrekten Bei- 
tragsaufrechnung beruhe, abgerundet Fr. 59'200.- betrage. 
Sie legt neu die Nachtragsverfügung vom 19. Januar 1996 für 
die Beitragsperiode vom 1. April bis 31. Dezember 1994 ins 
Recht, welche im vorinstanzlichen Verfahren nicht einge- 
reicht worden war, da sie zur Beurteilung der Beschwerde 
nicht notwendig schien. 
 
    b) Da die AHV/IV/EO-Beiträge der Selbständigerwerben- 
den - im Gegensatz zur direkten Bundessteuer - bei der AHV- 
rechtlichen Beitragsbemessung nicht abgezogen werden dürfen 
(vgl. Art. 9 Abs. 2 lit. d Satz 2 AHVG mit Art. 33 Abs. 1 
lit. d und f DBG), sind sie von der Ausgleichskasse aufzu- 
rechnen. Wie im vorinstanzlichen Entscheid dargelegt, be- 
steht der Zweck der Aufrechnung darin, die unterschiedliche 
Behandlung der persönlichen Beiträge im Bundessteuer- und 
im AHV-Recht dadurch auszugleichen, dass das von der Steu- 
erbehörde gemeldete Nach-Abzugseinkommen (vgl. Art. 23 
Abs. 1 AHVV) um den steuerlich anerkannten Beitragsabzug 
erhöht, d.h. eine steuerlich zulässige Operation rückgängig 
gemacht wird. Aufgerechnet werden darf daher nur, was steu- 
erlich abgezogen werden konnte (BGE 111 V 298 Erw. 4e). 
 
    c) Der Vorinstanz wird im Einzelnen vorgeworfen, bei 
der Berechnung des Durchschnittseinkommens 1995/96 die Auf- 
rechnung der am 19. Januar 1996 verfügungsmässig nachgefor- 
derten Beiträge für den Zeitraum vom 1. April bis 31. De- 
zember 1994 in Höhe von Fr. 2006.10 unterlassen zu haben. 
Nachdem die Beschwerdegegnerin von der Gelegenheit zur Ver- 
nehmlassung keinen Gebrauch gemacht hat, besteht - trotz 
fehlender entsprechender Aktenhinweise - kein Anlass, daran 
zu zweifeln, dass es sich dabei um Beiträge handelt, die 
steuerlich in Abzug gebracht wurden. Festzuhalten ist al- 
lerdings, dass sich die fragliche Nachtragsverfügung nicht 
bei den vorinstanzlichen Akten befand und von der Beschwer- 
deführerin erst im vorliegenden Verfahren eingereicht wur- 
de. Dieser Umstand gereicht ihr indes nicht zum Nachteil, 
obwohl im Rahmen von Art. 105 Abs. 2 OG die Möglichkeit, im 
Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht neue 
Beweismittel beizubringen, weitgehend eingeschränkt ist und 
grundsätzlich nach der Rechtsprechung nur solche neuen Be- 
weismittel zulässig sind, welche die Vorinstanz von Amtes 
wegen hätte erheben müssen und deren Nichterheben die Ver- 
letzung einer wesentlichen Verfahrensvorschrift bedeutet 
(BGE 120 V 485 Erw. 1b mit Hinweisen). Zieht nämlich der 
Richter, wie es im vorliegenden Fall die Vorinstanz getan 
hat, an sich nicht bestrittene Aspekte des streitigen 
Rechtsverhältnisses in die Prüfung mit ein, hat er bei sei- 
nem Entscheid die Verfahrensrechte der am Prozess Beteilig- 
ten, insbesondere das Anhörungsrecht der von einer mögli- 
chen Schlechterstellung bedrohten Partei zu beachten (BGE 
125 V 417 Erw. 2c mit Hinweis). Dies hat das kantonale Ge- 
richt vorliegend unterlassen. 
 
    4.- Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die Verwal- 
tungsgerichtsbeschwerde im Sinne ihrer Subsidiärbegründung 
gutzuheissen ist. 
 
    5.- a) Das Verfahren ist kostenpflichtig, weil nicht 
die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistun- 
gen streitig ist (Art. 134 OG e contrario). Nach Art. 156 
Abs. 1 in Verbindung mit Art. 135 OG werden die Gerichts- 
kosten in der Regel der unterliegenden Partei auferlegt. 
Unnötige Kosten hat gemäss Art. 156 Abs. 6 OG zu bezahlen, 
wer sie verursacht. 
    b) Im vorliegenden Fall ist der obsiegenden Beschwer- 
deführerin vorzuhalten, dass sie der Vorinstanz unvollstän- 
dige Unterlagen eingereicht hat. Es ist grundsätzlich nicht 
ihre Sache, aufgrund der in der vorinstanzlichen Beschwerde 
vorgetragenen Einwendungen zu bestimmen, was sie dem kanto- 
nalen Gericht vorlegen will. Vielmehr hat sie alle sachbe- 
züglichen Akten einzureichen, ohne eine Wertung ihrer Not- 
wendigkeit für den Prozess vorzunehmen. Hätte die Beschwer- 
deführerin diesem allgemeinen Verfahrensgrundsatz entspre- 
chend gehandelt und der Vorinstanz alle die streitigen Bei- 
tragsjahre und die dazugehörigen Bemessungsjahre betreffen- 
den Akten und damit auch ihre Nachtragsverfügung vom 
19. Januar 1996 eingereicht, hätte sich der Prozess vor dem 
Eidgenössischen Versicherungsgericht ohne weiteres vermei- 
den lassen. Insofern hat die Ausgleichskasse unnötige Kos- 
ten im Sinne von Art. 156 Abs. 6 OG verursacht. Trotz Ob- 
siegens sind ihr daher die Gerichtskosten aufzuerlegen. 
 
    c) Ergänzend sei bemerkt, dass das Eidgenössische Ver- 
sicherungsgericht in einem jüngeren, dieselbe Beschwerde- 
führerin betreffenden Urteil S. vom 24. August 1999 
(P 30/99) darauf hingewiesen hat, dass es der Verwaltung 
unbenommen ist, sich des römischrechtlichen Grundsatzes 
"minima non curat praetor" zu erinnern, wenn es um die Ent- 
scheidung geht, ob sie Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhe- 
ben will. Bei einer umstrittenen beitragspflichtigen Ein- 
kommensdifferenz von Fr. 1000.- pro Jahr beläuft sich der 
Streitwert in dem zur Diskussion stehenden Zeitraum von 
1997 bis 1999 auf insgesamt weniger als Fr. 300.- und damit 
auf einen Betrag, dem das Eidgenössische Versicherungsge- 
richt schon vor nahezu 19 Jahren die bei einer Wiedererwä- 
gung vorausgesetzte Erheblichkeit der Berichtigung abge- 
sprochen hat (vgl. BGE 107 V 180). 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:  
 
I.Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird im Sinne der 
    Erwägungen gutgeheissen und der Entscheid des Versi- 
    cherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 30. April 
    1999 aufgehoben. 
 
II.Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwer- 
    deführerin auferlegt. Sie sind durch den geleisteten 
    Kostenvorschuss von Fr. 900.- gedeckt; der Differenz- 
    betrag von Fr. 400.- wird zurückerstattet. 
 
III.Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsge- 
    richt des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für So- 
    zialversicherung zugestellt. 
 
 
Luzern, 19. Mai 2000 
 
Im Namen des 
Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
Der Präsident der III. Kammer: 
 
Der Gerichtsschreiber: