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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
2C_60/2015  
   
   
 
 
 
Urteil vom 19. August 2015  
 
II. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Zünd, Präsident, 
Bundesrichter Donzallaz, Haag, 
Gerichtsschreiberin Mayhall. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, zurzeit, unbekannten Aufenthalts in Italien, vertreten durch Klausfranz Rüst-Hehli, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
Migrationsamt des Kantons St. Gallen, Oberer Graben 38, 9001 St. Gallen, 
Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen, Unterstrasse 28, 9001 St. Gallen. 
 
Gegenstand 
unentgeltliche Rechtspflege, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 2. Dezember 2014. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
 A.________ stammt aus Äthiopien und reiste im Jahr 2007 nach Italien ein, wo sie einen Aufenthaltstitel erhielt. Am 14. November 2013 ersuchte sie in der Schweiz um Asyl. Italien sicherte der Schweiz daraufhin am 2. April 2014 die Rückübernahme der Betroffenen zu. Mit Entscheid vom 25. Juni 2014 trat das damalige Bundesamt für Migration (seit 1. Januar 2015: Staatssekretariat für Migration) auf das Asylgesuch nicht ein und ordnete die Wegweisung nach Italien an. Eine dagegen erhobene Beschwerde wurde vom Bundesverwaltungsgericht am 17. Juli 2014 abgewiesen. Am 12. August 2014 wurde A.________ in Ausschaffungshaft genommen und am Folgetag nach Italien ausgeschafft. 
 
B.  
 
 Mit Eingabe vom 26. August 2014 ersuchte A.________ die Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen u.a. um Feststellung der Rechtswidrigkeit der Ausschaffungshaft und in prozessualer Hinsicht um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege. Mit Verfügung vom 28. August 2014 wies der Präsident der Verwaltungsrekurskommission das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ab. Eine hiergegen erhobene Beschwerde wurde vom Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 2. Dezember 2014 ebenfalls abgewiesen. 
 
C.  
 
 Gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts beschwert sich A.________ am 19. Januar 2015 beim Bundesgericht und beantragt im Wesentlichen, es sei ihr die unentgeltliche Rechtspflege im Verfahren vor der kantonalen Verwaltungsrekurskommission zu gewähren. 
 
 Die Verwaltungsrekurskommission und das Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen sowie das Staatssekretariat für Migration schliessen auf Abweisung der Beschwerde. 
 
 Mit Eingabe vom 24. April 2015 nimmt A.________ zum Vernehmlassungsergebnis Stellung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
 Die Beschwerde richtet sich gegen einen Zwischenentscheid über die Verweigerung der unentgeltlichen Rechtspflege, und ist damit praxisgemäss zulässig (vgl. Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG; BGE 129 I 129 E. 1.1 S. 131 mit Hinweis), zumal auch der Endentscheid über die Rechtmässigkeit der Haft einer bundesgerichtlichen Überprüfung unterliegen wird. Auch wenn sich die betroffene Person - wie im vorliegenden Fall - nicht mehr in Haft befindet, besteht ein schützenswertes Feststellungsinteresse fort (Urteil 2C_548/2011 vom 26. Juli 2011 E. 1.3). Da die Beschwerdeführerin als Adressatin des angefochtenen Entscheids ohne Weiteres zur Ergreifung des Rechtsmittels legitimiert ist (Art. 89 Abs. 1 lit. a BGG), ist auf die form- und fristgerecht (Art. 42 sowie Art. 100 Abs. 1 BGG) erhobene Beschwerde einzutreten. 
 
2.  
 
2.1. Die Vorinstanzen verweigerten die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege mit dem Hinweis auf die Aussichtslosigkeit des von der Beschwerdeführerin bei der Verwaltungsrekurskommission angestrebten Verfahrens (Art. 99 Abs. 2 des Gesetzes des Kantons St. Gallen vom 16. Mai 1965 über die Verwaltungsrechtspflege [VRP/SG] i.V.m. Art. 117 ZPO; vgl. Art. 29 Abs. 3 BV). Die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Aussichtslosigkeit eines Verfahrens wurde vom Verwaltungsgericht zutreffend wiedergegeben (E. 2 des angefochtenen Entscheids); auf die entsprechenden Ausführungen kann verwiesen werden. Das Verwaltungsgericht begründete die Aussichtslosigkeit im vorliegenden Fall insbesondere damit, die Beschwerdeführerin sei noch innerhalb der 96-stündigen Frist für die richterliche Überprüfung von ausländerrechtlicher Haft (Art. 80 Abs. 2 AuG) aufgrund einer rechtskräftigen und vollziehbaren Wegweisungsverfügung nach Italien ausgeschafft worden. Vor Ablauf dieser Frist bestehe kein Anspruch auf eine richterliche Überprüfung der Haft.  
 
2.2. Ob die vorinstanzliche Begründung zutrifft, erscheint zumindest als sehr fraglich:  
 
 Nach Art. 5 Ziff. 4 EMRK hat jede Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen ist, das Recht zu beantragen, dass ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmässigkeit des Freiheitsentzugs entscheidet und ihre Entlassung anordnet, wenn der Freiheitsentzug nicht rechtmässig ist. Nach Art. 31 Abs. 4 BV hat zudem jede Person, der die Freiheit nicht von einem Gericht entzogen wird, das Recht, jederzeit ein Gericht anzurufen. Dieses entscheidet so rasch wie möglich über die Rechtmässigkeit des Freiheitsentzugs. 
 
 In BGE 137 I 23 E. 2 S. 25 ff. hat sich das Bundesgericht zum Verhältnis zwischen der 96-Stunden Frist von Art. 80 Abs. 2 AuG und den Garantien von Art. 31 Abs. 4 BV geäussert. Dabei gelangte es zum Schluss, dass diese Normen unterschiedliche Konstellationen regeln wollen: Art. 80 Abs. 2 AuG richte sich an die ausländerrechtlich zuständige Behörde und betreffe die Haftüberprüfung von Amtes wegen, wogegen Art. 31 Abs. 4 BV die durch den Beschwerdeführer ausgelöste Haftüberprüfung zum Gegenstand habe. Das in Art. 31 Abs. 4 BV enthaltene Recht, "jederzeit ein Gericht anzurufen", erlaube es Personen, denen die Freiheit entzogen wurde, den Zeitpunkt der Anrufung des Richters selbst zu bestimmen. "Jederzeit" könne somit namentlich auch heissen, dass die betroffene Person sofort nach dem Freiheitsentzug an die richterliche Behörde gelangt und ihr Gesuch dadurch die amtliche Überweisung der Sache an den Richter gemäss Art. 80 Abs. 2 AuG zeitlich überholt. 
 
 Auch bezüglich freiheitsentziehende verwaltungsrechtliche Anordnungen in anderen Bereichen hat das Bundesgericht wiederholt bestätigt, dass die davon betroffenen Personen gestützt auf Art. 5 Ziff. 4 EMRK und Art. 31 Abs. 4 BV jederzeit und in direkter Weise einen Richter anrufen können, welcher so rasch wie möglich über die Rechtmässigkeit des Freiheitsentzugs zu entscheiden hat (vgl. BGE 136 I 87 E. 6.5 S. 106 ff. sowie Urteil 1C_350/2013 vom 22. Januar 2014 E. 3.2 und E. 3.7 [publ. in: ZBl 115/2014 S. 374 ff. und EuGRZ 2014 S. 426] betreffend polizeilichen Gewahrsam gestützt auf das Polizeigesetz des Kantons Zürich; Urteil 1C_278/2009 vom 16. November 2010 E. 7.3 betreffend polizeilichen Gewahrsam gestützt auf das Konkordat über Massnahmen gegen Gewalt anlässlich von Sportveranstaltungen [sog. "Hooligan-Konkordat"]). Im genannten BGE 136 I 87 hat das Bundesgericht ausdrücklich festgehalten, dass eine Anrufung des Gerichts bereits während der vom Polizeigesetz des Kantons Zürich vorgesehenen Maximaldauer des Polizeigewahrsams von 24 Stunden möglich sein muss (E. 6.5.3 S. 108 des genannten Urteils). 
 
2.3. Bei dieser Sachlage kann das von der Beschwerdeführerin erhobene Rechtsmittel betreffend die behauptete Verletzung von Art. 31 Abs. 4 BV resp. von Art. 5 Ziff. 4 EMRK jedenfalls nicht bereits als von vornherein aussichtslos bezeichnet werden, wie dies die Vorinstanz getan hat. Den obenstehenden Erwägungen Rechnung tragend, ergibt sich vielmehr, dass der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege in der vorliegenden Angelegenheit zu bejahen ist.  
 
3.  
 
 Nach dem Ausgeführten ist die Beschwerde gutzuheissen, der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 2. Dezember 2014 aufzuheben und die Sache zu neuem Entscheid im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückzuweisen. 
 
 Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 3 BGG). Der Kanton St. Gallen hat die Beschwerdeführerin jedoch für das bundesgerichtliche Verfahren zu entschädigen (Art. 68 Abs. 1 und Abs. 2 BGG). Das Gesuch der Beschwerdeführerin um unentgeltliche Rechtspflege im bundesgerichtlichen Verfahren erweist sich mithin als gegenstandslos. 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
 
1.   
Die Beschwerde wird gutgeheissen, der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 2. Dezember 2014 aufgehoben und die Sache zu neuem Entscheid im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen. 
 
2.   
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.   
Der Kanton St. Gallen hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 500.-- zu entschädigen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten, dem Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen sowie dem Staatssekretariat für Migration schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 19. August 2015 
 
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Zünd 
 
Die Gerichtsschreiberin: Mayhall