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Eidgenössisches Versicherungsgericht 
Tribunale federale delle assicurazioni 
Tribunal federal d'assicuranzas 
 
Sozialversicherungsabteilung 
des Bundesgerichts 
 
Prozess 
{T 7} 
I 430/02 
 
Urteil vom 19. November 2003 
III. Kammer 
 
Besetzung 
Präsident Borella, Bundesrichter Meyer und Lustenberger; Gerichtsschreiber Scartazzini 
 
Parteien 
G.________, 1965, Beschwerdeführer, vertreten 
durch Rechtsanwältin Helena Böhler, Feldeggstrasse 49, 8008 Zürich, 
 
gegen 
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau, Beschwerdegegnerin 
 
Vorinstanz 
Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau 
 
(Entscheid vom 14. Mai 2002) 
 
Sachverhalt: 
A. 
Der 1965 geborene G.________ konsumierte jahrelang verschiedene Drogen und steht seit 1990/1993 in Methadon-Substitution, wobei er an ständiger Müdigkeit bei chronischer Hepatitis C leidet. Seit dem 15. Mai 1995 arbeitete der gelernte Automechaniker als Sachbearbeiter im Ersatzteillager bei der Firma S.________ AG, welche das Arbeitsverhältnis fristlos auf den 2. März 1998 kündigte. Seit April 1998 bezieht G.________ Sozialhilfeleistungen und vom April 1998 bis Januar 1999 bezog er Taggelder der Arbeitslosenversicherung. 
 
Am 1. März 1998 meldete er sich bei der Invalidenversicherung zum Bezug einer Rente an, wobei er als Behinderung Drogensucht und eine chronische Hepatitis A, B und C angab. In einem Bericht des Hausarztes Dr. med. L.________ vom 3. Februar 2000 attestierte dieser eine vollumfängliche Arbeitsunfähigkeit seit dem 7. Januar 1998 und stellte die Diagnose einer Borderline-Persönlichkeitsstörung, Polyto-xikomanie sowie Hepatitis A, B und C. Die IV-Stelle des Kantons Aargau beauftragte die Universitätsklinik als medizinische Abklärungsstelle (MEDAS) mit einer Untersuchung des Versicherten, welche am 18. und 26. Oktober 2000 vorgenommen wurde. Nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens lehnte sie die Zusprechung einer Invalidenrente mit Verfügung vom 3. Dezember 2001 ab, da keine Invalidität vorliege. 
B. 
Die dagegen erhobene Beschwerde, womit die Aufhebung der angefochtenen Verfügung und die Zusprechung einer ganzen Rente ab 1. Januar 1999 sowie die Ersetzung der Kosten einer ärztlichen Stellungnahme vom 22. Januar 2002 beantragt wurden, wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 14. Mai 2002 ab. 
C. 
G.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und die vorinstanzlich gestellten Rechtsbegehren erneuern. Überdies wird um Gewährung der unentgeltlichen Rechtsvertretung ersucht. 
 
IV-Stelle und Bundesamt für Sozialversicherung verzichten auf eine Vernehmlassung. 
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Der als Rechtsbegehren Ziffer 2 gestellte Antrag auf Vergütung der Fr. 60.- durch die Beschwerdegegnerin für das vorinstanzliche Zeugnis des Dr. med. L.________ vom 22. Januar 2002 ist in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht sachbezüglich begründet, weshalb darauf nicht einzutreten ist (Art. 108 Abs. 2 OG). Dass das Attest die materielle Sichtweise des Beschwerdeführers stützen soll, ist keine Begründung für die Übernahme der Kosten durch die Beschwerdegegnerin. 
2. 
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze zum Begriff der Invalidität (Art. 4 Abs. 1 IVG; BGE 116 V 249 Erw. 1b), insbesondere bei geistigen Gesundheitsschäden (BGE 102 V 165; AHI 2000 S. 151 Erw. 2a; vgl. auch AHI 2001 S. 228 Erw. 2b mit Hinweisen und BGE 127 V 298 Erw. 4c in fine) und bei Drogensucht (SVR 2001 IV Nr. 3 S. 7 Erw. 2b mit Hinweisen; vgl. auch BGE 99 V 28 Erw. 2; AHI 2001 S. 228 f. Erw. 2b in fine mit Hinweisen, 2002 S. 30 Erw. 2a mit Hinweisen) sowie zu den Voraussetzungen und dem Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 und 1bis IVG) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen. Zu ergänzen ist, dass das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist, da nach dem massgebenden Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 3. Dezember 2001) eingetretene Rechts- und Sachverhaltsänderungen vom Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt werden (BGE 127 V 467 Erw. 1, 121 V 366 Erw. 1b). 
3. 
Die Vorinstanz hat erwogen, die Suchterkrankung des Versicherten sei nicht die Folge einer Persönlichkeitsstörung mit Krankheitswert. Bei der Prüfung, ob die Drogensucht ihrerseits eine Gesundheitsstörung mit Invaliditätscharakter verursacht hat, führte sie aus, auf Grund des MEDAS-Gutachtens lasse sich die beim Versicherten bestehende Müdigkeit nicht eindeutig als Folge der Methadoneinnahme oder der Hepatitis C zuordnen. Es erscheine zumindest als denkbar, dass die chronische Müdigkeit auch auf den andauernden Betäubungsmittel-konsum zurückzuführen sei, diese somit direkt suchtbedingt sei. Die Beantwortung dieser Frage sei indessen nicht entscheidend, da es sich bei der aktuell bestehenden Müdigkeit noch nicht um eine invalidenversicherungsrechtlich relevante Gesundheitsstörung im Sinne einer die Erwerbsfähigkeit beeinträchtigenden suchtbedingten Wesensveränderung handle. Die Rückführung des Versicherten in den Arbeitsprozess sei möglich, wenn zunächst eine psychotherapeutische Behandlung erfolge und danach die Hepatitis C abgeklärt werde, um die Möglichkeit einer Therapie abzuschätzen und diese einzuleiten. Auf Grund der gegebenen Umständen sollte der Beschwerdeführer auch bei bestehender Müdigkeit und bei gutem Willen in der Lage sein, erneut einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Zumindest bis zum Zeitpunkt der angefochtenen Verfügung sei demnach keine Invalidität ausgewiesen. 
4. 
Demgegenüber macht der Beschwerdeführer geltend, es sei durchaus entscheidend, ob seine dauernde Müdigkeit und die Schwächegefühle auf die Hepatitis C zurückzuführen seien oder nicht. Er leide nachweisbar und praktisch ausschliesslich unter den Beschwerden einer ausgeprägten Müdigkeit, welche nach fachärztlicher Betrachtung das an erster Stelle erwähnte und belastendste Symptom der Hepatitis C sei. Vor dem Ausbruch der Krankheit, bei wesentlich höherem Methadonkonsum und allgemein viel ausgeprägter Drogenproblematik, sei er frei von diesen Beschwerden und durchwegs arbeitsfähig gewesen. Daraus müsse zwingend geschlossen werden, dass die Ursache der Beschwerden auf die Hepatitis C zurückzuführen sei. Die beweisrechtlich erforderliche überwiegende Wahrscheinlichkeit des Kausal-zusammenhangs ergebe sich bereits aus der Tatsache, dass gemäss MEDAS-Gutachten bei 60 bis 70 % der Krankheitsfälle eine chronische Müdigkeit auftrete, wobei im Gutachten auch unmissverständlich erklärt werde, er sei aus medizinischen Gründen für lediglich 30 % arbeitsfähig. Erst der Ausbruch der Hepatitis C habe seine Erwerbsunfähigkeit verursacht und die Gründe dafür, dass er sich bis anhin noch keiner tragfähigen Psychotherapie unterzogen habe, seien grundsätzlich in seiner Persönlichkeitsproblematik zu suchen. Wenn man ihm aber tatsächlich vorwerfen könnte, er weigere sich zu Unrecht, sich einer notwendigen Massnahme zu unterziehen oder trage nicht aus eigenem Antrieb das ihm Zumutbare zur Verbesserung der Erwerbsfähigkeit bei, so müsste zuerst eine ausdrückliche Aufforderung an ihn erlassen werden unter Ansetzung einer angemessenen Frist und Androhung der Säumnisfolgen. 
 
5. 
Die MEDAS-Gutachter haben unter "Beurteilung der Arbeitsfähigkeit" Folgendes festgestellt: 
"Infolge des Drogenkonsums besteht serologisch ein Status nach Hepatitis A und B und eine chronische Hepatitis C (gemäss vorliegen-dem Labor vom Januar 1999). 
Die vom Exploranden als Hauptbeschwerde beklagte Müdigkeit könnte mit einiger Wahrscheinlichkeit auf die Hepatitis C zurückzuführen sein, ist mindestens bei dieser Erkrankung bei 60 - 70 % beschrieben. Auch die im Verlauf des Morgens zunehmende Müdigkeit mit Notwendigkeit zum Schlafen über Mittag würde für eine somatische Ursache passen. 
Aktuell halten wir den Exploranden aus medizinischen Gründen für lediglich ca. 30 % AF, d.h. während 2-3 Stunden täglich. Ob die psychische Situation stabil genug wäre, um eine Umsetzung dieser AF in der Praxis auch zu bewerkstelligen, bleibt dahingestellt. 
Etwas schwieriger einzuschätzen ist die Stabilität des Exploranden in Bezug auf die von uns vorgeschlagenen medizinischen Massnahmen. 
Der Explorand macht einen cleveren, manchmal auch schlauen Eindruck, ist teils recht fordernd, wobei die Kooperationsbereitschaft, und die Bereitschaft zur aktiven eigenen Mitarbeit an einer Massnahme mindestens fraglich ist. Dies zeigt sich auch in den bisher immer frustranen Versuchen des Hausarztes, den Exploranden zu einer psychotherapeutischen Betreuung zu bewegen, und in den doch immer wieder vorgekommenen Rückfällen in den Drogenkonsum, weshalb eine Behandlung der Hepatitis bis anhin nicht in Angriff genommen werden konnte. In der Haltung des Exploranden kommt eine gewisse Selbstüberschätzung zum Ausdruck. 
Somit kann aktuell nicht davon ausgegangen werden, dass eine genügende Stabilität vorhanden ist, um eine berufliche Massnahme durchzuführen. 
Wenn überhaupt eine Möglichkeit bestehen soll, den Exploranden erfolgreich in den Arbeitsprozess zurückzuführen, müssten u.E. folgende Massnahmen der Reihe nach durchgeführt werden. 
Als erstes, und als Grundlage und Voraussetzung für alle anderen Massnahmen, müsste eine - sicher während der Dauer der anderen Massnahmen andauernde - psychotherapeutische Betreuung durch einen erfahrenen Psychiater, ggf. mit medikamentöser Unterstützung erfolgen. 
Danach, und bei gesicherter Drogenabstinenz, müsste die Hepatitis C an einem Zentrum, z.B. KS Aarau, abgeklärt werden mittels Labor und Biopsie, um die Möglichkeit einer Therapie abzuschätzen und diese einzuleiten. 
Erst nach Einleitung und bei Erfolg einer solchen Therapie sind berufliche Massnahmen überhaupt sinnvoll. Diese sollten zunächst in der Form einer Berufsberatung und einer/s Arbeitsabklärung/-trainings durchgeführt werden, um das weitere Procedere festlegen zu können und Aufschluss über die Leistungsbereitschaft und Konstanz des Exploranden zu gewinnen." 
Zusammenfassend haben sich die Gutachter wie folgt geäussert: 
 
"Der Explorand leidet an einer chronischen Müdigkeit, die möglicher-weise in Zusammenhang mit einer chronischen Hepatitis C steht. Daneben besteht ein chronischer Methadon-Konsum bei St. n. jahre-langem Drogenabusus. Aktuell besteht eine Arbeitsfähigkeit von ca. 30 %. Vordringlichste Massnahme ist eine psychotherapeutische Betreuung, Drogenabstinenz und anschliessend Behandlung der Hepatitis C. Erst danach kommen allfällige berufliche Massnahmen in Betracht. 
Die Einschränkung der AF ist direkt/indirekt suchtbedingt." 
Aus diesen Angaben ist, entgegen der Auffassung der Vorinstanz, mit aller Deutlichkeit zu schliessen, dass auf Grund des Gesundheits-zustandes seit Langem keine wirtschaftlich verwertbare Arbeitsfähigkeit besteht. Bevor sich daran etwas ändert, müssen zunächst die von den Gutachtern erläuterten Vorkehrungen in die Wege geleitet werden. Zu deren Durchführung ist der Beschwerdeführer verpflichtet (BGE 113 V 28 Erw. 4a mit Hinweisen). Nichtsdestotrotz steht ihm bis dahin auf Grund der ausgewiesenen Arbeitsunfähigkeit die ganze Rente zu (BGE 121 V 192 Erw. 4c, 116 V 92 Erw. 4). Einem allfälligen Widerstand hat die Verwaltung mit dem Mahn- und Bedenkzeitverfahren nach Art. 31 IVG (BGE 122 V 219 f. Erw. 4b) zu begegnen. 
6. 
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Dem Ausgang des letztinstanzlichen Verfahrens entsprechend steht dem obsiegenden Versicherten eine Parteientschädigung zu (Art. 159 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit Art. 135 OG). Das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung ist damit gegenstandslos. 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
1. 
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden, soweit darauf einzutreten ist, der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 14. Mai 2002 und die Verfügung vom 3. Dezember 2001 aufgehoben mit der Feststellung, dass der Beschwerdeführer Anspruch auf eine ganze Rente hat. 
2. 
Die Sache wird an die IV-Stelle des Kantons Aargau zurückgewiesen, damit sie in masslicher und zeitlicher Hinsicht über den Rentenan-spruch verfüge sowie bezüglich der (Selbst-) Eingliederung das Mahn- und Bedenkzeitverfahren im Sinne der Erwägungen durchführe. 
3. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
4. 
Die IV-Stelle des Kantons Aargau hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Partei-entschädigung von Fr. 2'500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen. 
5. 
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wird über eine Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben. 
6. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt. 
Luzern, 19. November 2003 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
Der Präsident der III. Kammer: Der Gerichtsschreiber: