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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
1B_297/2022  
 
 
Urteil vom 20. Februar 2023  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Kneubühler, Präsident, 
Bundesrichter Müller, Kölz, 
Gerichtsschreiberin Dambeck. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Ruedi Portmann, 
 
gegen  
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Nidwalden, Kreuzstrasse 2, Postfach 1242, 6371 Stans. 
 
Gegenstand 
Strafverfahren; Entsiegelung, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts Nidwalden, Einzelgericht in Strafsachen als Zwangsmassnahmengericht, vom 9. Mai 2022 (ZM 22 5). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Nidwalden führt gegen A.________ eine Strafuntersuchung wegen des Verdachts auf fahrlässige Tötung. Am 18. Februar 2022 bzw. 15. März 2022 forderte die Staatsanwaltschaft A.________ zur Edition des Patientendossiers des verstorbenen B.________ auf. A.________ reichte am 29. März 2022 einen USB-Stick mit den betreffenden Unterlagen ein und beantragte zugleich die Siegelung. Die Staatsanwaltschaft ersuchte am 5. April 2022 um vollständige Entsiegelung des Patientendossiers, eventualiter um teilweise Entsiegelung. Das Zwangsmassnahmengericht des Kantons Nidwalden entschied mit Urteil vom 9. Mai 2022, das durch die Staatsanwaltschaft Nidwalden bei A.________ edierte und am 29. März 2022 versiegelte Patientendossier von B.________ sel. werde vollumfänglich entsiegelt. 
 
B.  
Mit Beschwerde in Strafsachen vom 10. Juni 2022 gelangt A.________ an das Bundesgericht und beantragt die Aufhebung des Urteils des Zwangsmassnahmengerichts vom 9. Mai 2022 und die Abweisung des Entsiegelungsgesuchs. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückzuweisen. 
Die Vorinstanz verweist im Rahmen ihrer Stellungnahme auf das angefochtene Urteil und das Entsiegelungsgesuch der Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft stellt Antrag auf Abweisung der Beschwerde. Der Beschwerdeführer nahm zu den Ausführungen der Vorinstanz und der Staatsanwaltschaft Stellung, worüber diese in Kenntnis gesetzt wurden. 
 
C.  
Das präsidierende Mitglied der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichts erkannte der Beschwerde mit Verfügung vom 12. Juli 2022 antragsgemäss die aufschiebende Wirkung zu. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid betreffend die Entsiegelung eines Patientendossiers, das in einem Strafverfahren sichergestellt wurde. Dagegen steht die Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht gemäss Art. 78 ff. BGG offen. Es handelt sich um einen Zwischenentscheid, der einen nicht mehr korrigierbaren Eingriff in schutzwürdige Geheimnisinteressen des Beschwerdeführers mit sich bringen kann, namentlich in das Arztgeheimnis. Damit droht diesem ein nicht wieder gutzumachender Nachteil (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG; BGE 143 IV 462 E. 1; Urteil 1B_435/2021 vom 8. Dezember 2021 E. 1.2 mit Hinweis) und ist seine Beschwerdelegitimation zu bejahen (Art. 81 Abs. 1 BGG).  
 
1.2. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den von der Vorinstanz festgestellten Sachverhalt zugrunde (Art. 105 Abs. 1 BGG), es sei denn, deren Sachverhaltsfeststellung sei offensichtlich unrichtig, das heisst willkürlich (vgl. dazu BGE 137 I 58 E. 4.1.2), oder beruhe auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG (Art. 105 Abs. 2 und Art. 97 Abs. 1 BGG). Eine entsprechende Rüge ist substanziiert vorzubringen (Art. 42 Abs. 2 i.V.m. Art. 106 Abs. 2 BGG).  
 
2.  
Der Beschwerdeführer macht geltend, es fehle zurzeit an genügend konkreten Anhaltspunkten für eine Straftat und seine Beteiligung an einer solchen. 
 
2.1. Aufzeichnungen und Gegenstände, die nach Angaben der Inhaberin oder des Inhabers wegen eines Aussage- oder Zeugnisverweigerungsrechts oder aus anderen Gründen nicht durchsucht oder beschlagnahmt werden dürfen, sind zu versiegeln und dürfen von den Strafbehörden weder eingesehen noch verwendet werden (Art. 248 Abs. 1 StPO). Stellt die Staatsanwaltschaft im Vorverfahren ein Entsiegelungsgesuch, hat das Zwangsmassnahmengericht zu prüfen, ob schutzwürdige Geheimnisinteressen oder andere gesetzliche Entsiegelungshindernisse einer Durchsuchung entgegenstehen (Art. 248 Abs. 2-4 StPO; BGE 144 IV 74 E. 2.2; 141 IV 77 E. 4.1 mit Hinweisen).  
Zwangsmassnahmen können nur ergriffen werden, wenn ein hinreichender Tatverdacht vorliegt (Art. 197 Abs. 1 lit. b StPO). Im Gegensatz zum erkennenden Sachgericht hat das für die Beurteilung von Zwangsmassnahmen im Vorverfahren zuständige Gericht bei der Überprüfung des hinreichenden Tatverdachts keine erschöpfende Abwägung sämtlicher belastender und entlastender Beweisergebnisse vorzunehmen. Bestreitet die betroffene Person den Tatverdacht, ist vielmehr zu prüfen, ob aufgrund der bisherigen Untersuchungsergebnisse genügend konkrete Anhaltspunkte für eine Straftat und eine Beteiligung der beschuldigten Person an dieser Tat vorliegen, die Strafbehörden somit das Bestehen eines hinreichenden Tatverdachts mit vertretbaren Gründen bejahen durften. Hinweise auf eine strafbare Handlung müssen erheblich und konkreter Natur sein, um einen hinreichenden Tatverdacht begründen zu können (BGE 141 IV 87 E. 1.3.1; 137 IV 122 E. 3.2). Zur Frage des Tatverdachts bzw. zur Schuldfrage hat das Bundesgericht weder ein eigentliches Beweisverfahren durchzuführen noch dem erkennenden Sachgericht vorzugreifen (BGE 137 IV 122 E. 3.2). Auch über die gerichtliche Verwertbarkeit von Beweismitteln ist in der Regel noch nicht im Vorverfahren abschliessend zu entscheiden (BGE 141 IV 289 E. 1 mit Hinweisen; zum Ganzen: Urteil 1B_125/2022 vom 6. Dezember 2022 E. 4.1) 
 
2.2. Die Vorinstanz hat sich mit dem Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts im Sinne von Art. 197 Abs. 1 lit. b StPO ausführlich auseinandergesetzt und festgehalten, B.________ sei an seinem Wohnort verstorben. Dem Bericht zur Legalinspektion sei zu entnehmen, dass er an einem akuten Herzstillstand/Kammerflimmern bei bekannter Herzkrankheit verstorben sei. An seinem Wohnort sei unter anderem das Medikament C.________ gefunden worden, das gemäss Ehefrau des Verstorbenen an diesen verschrieben und von diesem eingenommen worden sei. Nach Auskunft des Kantonsarztes sei dieses Medikament bei einer vorhandenen koronaren Herzkrankheit kontraindiziert. Die Staatsanwaltschaft habe das Institut für Rechtsmedizin daraufhin beauftragt, eine rechtsmedizinische Obduktion durchzuführen und ein Gutachten zu erstellen. Es gehe insbesondere um den Befund über die Todesart und -ursache sowie die Durchführung der notwendig erscheinenden Untersuchungen inklusive einer chemisch-toxikologischen Untersuchung. Die Sachverständigen dieses Instituts seien zur Erstellung dieses Gutachtens auf die medizinischen Unterlagen des Verstorbenen angewiesen. Anhand der vom Spital und vom Kardiologen eingereichten Unterlagen ergäben sich keine Anhaltspunkte, dass Ärztinnen und Ärzte des Spitals oder der Kardiologe das Medikament C.________ verschrieben hätten bzw. dass ihnen die Einnahme dieses Medikaments durch den Verstorbenen bekannt gewesen sei. Die Staatsanwaltschaft habe den Beschwerdeführer als Hausarzt des Verstorbenen betreffend Edition des Patientendossiers und Auskunftserteilung angeschrieben. Der Beschwerdeführer habe mitteilen lassen, der behandelnde Arzt des Verstorbenen zu sein und keine Auskunft zu erteilen. Die Strafuntersuchung sei deshalb auf ihn ausgedehnt worden, zumal er keine weiteren Ärztinnen und Ärzte angegeben habe, bei denen der Verstorbene in Behandlung gewesen sei und die ihm Medikamente verschrieben hätten.  
 
2.3. Diese vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen bestreitet der Beschwerdeführer nicht. Vielmehr bestätigt er, dass in der Wohnung des Verstorbenen das Medikament C.________ gefunden worden sei, dass der Verstorbene an einer koronaren Herzkrankheit gelitten habe und dass das Medikament C.________ bei einer solchen Vorerkrankung kontraindiziert sei. Wie sich auch aus den Strafakten ergibt, gab die Ehefrau an, dass dem Verstorbenen dieses Medikament verschrieben und von diesem eingenommen worden sei. Die Vorinstanz hielt zudem fest, dass nach aktuellem Kenntnisstand der Strafverfolgungsbehörde keine anderen behandelnden Ärzte oder Ärztinnen des Verstorbenen bekannt seien, die ihm das Medikament hätten verschreiben können, was vom Beschwerdeführer ebenfalls nicht bestritten wird. Es ist daher nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz den Tatverdacht der fahrlässigen Tötung zum Nachteil des Beschwerdeführers bejaht hat, zumal gemäss Art. 197 Abs. 1 lit. b StPO ein hinreichender Tatverdacht genügt. Dass der Obduktionsbericht und die chemisch-toxikologische Analyse noch nicht vorliegen und gegen andere Personen keine Strafuntersuchung eröffnet worden ist, vermag daran nichts zu ändern, zumal der Beschwerdeführer hinsichtlich eines allfälligen strafbaren Verhaltens anderer Personen lediglich unbelegte Vermutungen aufstellt.  
Der Beschwerdeführer bringt vor, bis heute sei nicht bekannt, ob es sich um einen natürlichen oder um einen aussergewöhnlichen Todesfall handle bzw. ob das Medikament C.________ mit dem Tod in einem Zusammenhang stehe. Eine Straftat und ein damit zusammenhängender Tatverdacht sei nur im Fall des letzteren bzw. bei einem bestehenden Zusammenhang gegeben. Mit dieser Argumentation vermag er den gegen ihn gemäss den obigen Ausführungen bestehenden Tatverdacht nicht zu entkräften. Dieser dürfte - mangels anderweitiger Untersuchungsergebnisse - solange bestehen, bis ein aussergewöhnlicher Todesfall ausgeschlossen werden kann. 
 
2.4. Gemäss Vorinstanz ist die Durchsicht bzw. Auswertung des versiegelten Patientendossiers für das Strafverfahren unentbehrlich, da der Beschwerdeführer der behandelnde Arzt des Verstorbenen gewesen sei. Dies bestreitet der Beschwerdeführer nicht (rechtsgenüglich), wenn er argumentiert, das Patientendossier dürfe erst entsiegelt werden, wenn feststehe, dass der Tod durch eine Straftat verursacht worden sei bzw. auf die Einnahme des Medikaments C.________ zurückzuführen sei; vorher könne ein Deliktskonnex nicht beurteilt und jedenfalls nicht bejaht werden. Soweit er damit aber auf die Reihenfolge der Beweiserhebung Einfluss nehmen will, übersieht er, dass die Wahl der sachlich gebotenen Untersuchungsführung im pflichtgemässen Ermessen der Staatsanwaltschaft liegt (vgl. Art. 16 Abs. 2 i.V.m. Art. 6 Abs. 1, Art. 139 Abs. 1 und Art. 308 Abs. 1 StPO; BGE 140 IV 40 E. 4.4.2). Es muss ihr möglich sein, den Sachverhalt im Rahmen der laufenden Strafuntersuchung wegen fahrlässiger Tötung umfassend abzuklären (vgl. Urteil 1B_256/2021 vom 22. Juli 2021 E. 4.1). Entgegen der offenbar vom Beschwerdeführer vertretenen Auffassung ergibt sich der Sachverhalt nicht allein aus den Ergebnissen der Obduktion und dient das Patientendossier nicht einzig zur Beurteilung der rechtlichen Fragen. Nachdem der Deliktskonnex vorliegend zu bejahen ist, braucht auf die Frage, ob und wofür das Institut für Rechtsmedizin das Patientendossier konkret benötigt, nicht eingegangen zu werden.  
Darin, dass die Vorinstanz es als "entlastende[...] Momente" bezeichnet, wenn kein Hinweis auf eine Einnahme des Medikaments C.________ durch den Verstorbenen bestehen sollte, ist vorliegend - entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers - keine Verletzung von Art. 10 Abs. 1 StPO zu erblicken. In seiner Replik an das Bundesgericht hält der Beschwerdeführer denn auch fest, es gehe hier nicht um die Frage der Unschuldsvermutung und des Tatverdachts. 
 
2.5. Die vorinstanzlichen Erwägungen betreffend die Verhältnismässigkeit rügt der Beschwerdeführer als in dieser Form unzutreffend. Das Patientendossier trage zur Feststellung der medizinischen Todesursache nichts bei. Die Einsichtnahme in das Dossier mache nur dann Sinn, wenn eine Tötung vorliege und die Staatsanwaltschaft beurteilen müsse, ob der Beschwerdeführer fahrlässig gehandelt habe. Nach den obigen Ausführungen vermag der Beschwerdeführer damit die Unverhältnismässigkeit der angeordneten Entsiegelung nicht darzutun. Es kann auf die entsprechenden, ausführlichen Erwägungen der Vorinstanz verwiesen werden, mit denen sich der Beschwerdeführer im Übrigen nicht auseinandersetzt.  
 
3.  
Nach diesen Erwägungen ist die Beschwerde abzuweisen. 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind die Gerichtskosten dem unterliegenden Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Es ist keine Parteientschädigung zuzusprechen (Art. 68 Abs. 1-3 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 3'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons Nidwalden und dem Kantonsgericht Nidwalden, Einzelgericht in Strafsachen als Zwangsmassnahmengericht, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 20. Februar 2023 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Kneubühler 
 
Die Gerichtsschreiberin: Dambeck