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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
6B_1454/2022  
 
 
Urteil vom 20. März 2023  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, Präsidentin, 
Bundesrichter Denys, 
Bundesrichter Rüedi, 
Bundesrichterin Koch, 
Bundesrichter Hurni, 
Gerichtsschreiber Brugger. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwälte Laura Jost und Dr. Christophe A. Herzig, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
1. Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden, Erster Staatsanwalt, Rohanstrasse 5, 7000 Chur, 
2. B.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Luzi Bardill, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Mehrfache sexuelle Handlungen mit einem Kind, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts von Graubünden, I. Strafkammer, vom 21. Juli 2022 (SK1 21 4). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Das Regionalgericht Viamala verurteilte B.________ am 25. November 2020 wegen diverser Vergehen und Übertretungen zu einer bedingten Geldstrafe von 50 Tagessätzen zu Fr. 120.-- und einer Busse von Fr. 1'700.--. Vom Vorwurf der mehrfachen sexuellen Handlungen mit einem Kind zum Nachteil von A.________ sprach es ihn frei. Dessen Zivilklage wies es ab. 
Die dagegen gerichtete Berufung von A.________ wies das Kantonsgericht von Graubünden mit Urteil vom 21. Juli 2022 ab. 
 
B.  
A.________ beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, das kantonsgerichtliche Urteil sei aufzuheben und die Sache sei an das Kantonsgericht zurückzuweisen. Dieses sei anzuweisen, vor der Neubeurteilung ein aktenbasiertes Gutachten über die Glaubhaftigkeit seiner Aussagen einzuholen. Er ersucht um unentgeltliche Rechtspflege und Rechtsverbeiständung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Der Beschwerdeführer hat sich am vorinstanzlichen Verfahren beteiligt und eine Genugtuung von mindestens Fr. 7'000.-- verlangt. Das angefochtene Urteil wirkt sich auf seine Zivilforderung aus, weshalb er zur Beschwerde in Strafsachen legitimiert ist (vgl. Art. 81 Abs. 1 lit. a und b Ziff. 5 BGG; BGE 148 IV 124 E. 2.6.8 mit Hinweisen).  
 
1.2. Die Beschwerde an das Bundesgericht ist ein reformatorisches Rechtsmittel (Art. 107 Abs. 2 BGG). Ein blosser Antrag auf Rückweisung ist nicht zulässig, es sei denn, das Bundesgericht könnte ohnehin nicht reformatorisch entscheiden (BGE 136 V 131 E. 1.2; 134 III 379 E. 1.3 mit Hinweis). Da die Beschwerdebegründung zur Interpretation des Rechtsbegehrens beigezogen werden kann, genügt nach der Rechtsprechung ein Begehren ohne einen Antrag in der Sache dann, wenn sich aus der Begründung zweifelsfrei ergibt, was mit der Beschwerde angestrebt wird (BGE 136 V 131 E. 1.2; Urteile 6B_225/2022 vom 30. Mai 2022 E. 1; 6B_140/2016 vom 14. Februar 2017 E. 1.2). Der Beschwerdeführer stellt nur den Antrag, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen. Dass das Bundesgericht im Falle einer Gutheissung der Beschwerde nicht in der Lage wäre, ein materielles Urteil zu fällen und die Sache zurückweisen müsste, wird in der Beschwerde nicht geltend gemacht. Der Begründung der Beschwerde lässt sich jedoch entnehmen, dass der Beschwerdeführer auf eine Verurteilung des Beschwerdegegners wegen mehrfacher sexueller Handlungen mit einem Kind abzielt. Daher ist grundsätzlich auf die Beschwerde einzutreten.  
 
2.  
Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung. 
 
2.1. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann vor Bundesgericht nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Offensichtlich unrichtig ist die Sachverhaltsfeststellung, wenn sie willkürlich im Sinne von Art. 9 BV ist (BGE 141 IV 317 E. 5.4 mit Hinweisen; vgl. zum Begriff der Willkür: BGE 147 IV 73 E. 4.1.2 mit Hinweisen). Die Willkürrüge muss in der Beschwerde an das Bundesgericht explizit vorgebracht und substanziiert begründet werden. Auf ungenügend begründete Rügen oder bloss allgemein gehaltene appellatorische Kritik am angefochtenen Urteil tritt das Bundesgericht nicht ein (vgl. Art. 42 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 147 IV 73 E. 4.1.2; 146 IV 88 E. 1.3.1; 145 I 26 E. 1.3; je mit Hinweisen). Dem Grundsatz "in dubio pro reo" kommt in seiner Funktion als Beweiswürdigungsregel im Verfahren vor dem Bundesgericht keine über das Willkürverbot von Art. 9 BV hinausgehende Bedeutung zu (BGE 148 IV 409 E. 2.2; 146 IV 88 E. 1.3.1; 145 IV 154 E. 1.1; je mit Hinweisen).  
 
2.2. Die Anklage wirft dem Beschwerdegegner in den Jahren 2012 bis 2016 mehrfache sexuelle Handlungen mit dem am xx. xx 2000 geborenen Beschwerdeführer vor. Dieser sei intellektuell stark beeinträchtigt. Er leide an einer ausgeprägten Spracherwerbsstörung und an einer kombinierten Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen. Im Jahr 2012 sei der allein sorgeberechtigten Kindsmutter die Obhut über den Beschwerdeführer entzogen worden. Danach sei er in einer Pflegefamilie im Kanton Graubünden platziert worden. Die sexuellen Übergriffe seien in der Unterkunft des Beschwerdegegners erfolgt. Der Beschwerdegegner und der Beschwerdeführer hätten sich wiederholt auf den Mund geküsst, gegenseitig ausgezogen, geduscht und eingeseift. Als der Beschwerdeführer 13 Jahre alt gewesen sei, kam es zu gegenseitigen Analverkehr und der Beschwerdegegner und der Beschwerdeführer hätten sich gegenseitig in den After ejakuliert. Der gegenseitige Analverkehr sei bis ins 16. Altersjahr des Beschwerdeführers fortgesetzt worden.  
 
2.3.  
 
2.3.1. Der Beschwerdeführer wurde am 5. September 2018 in Abwesenheit des Beschwerdegegners durch eine Mitarbeiterin der Kinderschutzgruppe am Inselspital Bern befragt. Die Vorinstanz erwägt, zu jenem Zeitpunkt sei kein Verfahren eröffnet gewesen und die Polizei habe nicht ermittelt. Diese private Videobefragung stelle keine strafprozessuale Beweiserhebung durch die Strafbehörden dar.  
Die Vorinstanz weist darauf hin, dass vor Eröffnung einer Untersuchung durch die Staatsanwaltschaft kein Anspruch auf Parteiöffentlichkeit besteht. So sind die Parteien auch bei Beweiserhebungen durch die Polizei, etwa bei polizeilichen Einvernahmen von Auskunftspersonen gestützt auf Art. 306 Abs. 2 lit. b StPO nicht zur Teilnahme berechtigt (Art. 147 Abs. 1 StPO e contrario; BGE 143 IV 397 E. 3.3.2; 139 IV 25 E. 5.4.3; Urteile 6B_1092/2022 vom 9. Januar 2023 E. 2.3.2; 6B_1078/2020 vom 26. Oktober 2022 E. 2.4.2; 6B_741/2021 vom 2. August 2022 E. 2.3.1; 6B_1320/2020 vom 12. Januar 2022 E. 4.2.1, nicht publ. in BGE 148 IV 22; je mit Hinweisen). Wie die Vorinstanz zutreffend erwägt, kann für Beweiserhebungen durch Privatpersonen nichts anderes gelten. 
 
2.3.2. Nach dem Gesagten war der Beschwerdegegner nicht zur Teilnahme an der privaten Videobefragung berechtigt. Allerdings verweist die Vorinstanz zu Recht auf den Konfrontationsanspruch gemäss Art. 29 Abs. 2 BV, Art. 32 Abs. 2 BV und Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK. Demnach ist eine belastende Aussage grundsätzlich nur verwertbar, wenn die beschuldigte Person wenigstens einmal während des Verfahrens angemessene und hinreichende Gelegenheit hatte, die Aussage in Zweifel zu ziehen und Fragen zu stellen. Um ihr Fragerecht wirksam ausüben zu können, muss die beschuldigte Person in die Lage versetzt werden, die persönliche Glaubwürdigkeit der befragten Person zu prüfen und den Beweiswert ihrer Aussagen zu hinterfragen (BGE 133 I 33 E. 3.1; 131 I 476 E. 2.2; 129 I 151 E. 3.1; je mit Hinweisen). Dem Konfrontationsanspruch gemäss Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK kommt grundsätzlich absoluter Charakter zu (BGE 131 I 476 E. 2.2; 129 I 151 E. 3.1).  
Die Vorinstanz erwägt zutreffend, dass keine Gründe ersichtlich sind, weshalb der Konfrontationsanspruch der beschuldigten Person nicht auch für private Beweiserhebungen gelten sollte. Wenn der Konfrontationsanspruch im polizeilichen Ermittlungsverfahren gilt, hat dies umso mehr für Beweiserhebungen durch Privatpersonen zu gelten. Ansonsten würde mit privaten Videobefragungen wie der vorliegenden im Ergebnis der Konfrontationsanspruch umgangen. 
 
2.3.3. Folgerichtig untersucht die Vorinstanz, ob der Beschwerdegegner bei der polizeilichen Videobefragung vom 30. April 2019 angemessene und hinreichende Gelegenheit hatte, die Aussagen des Beschwerdeführers in Zweifel zu ziehen und ihm Fragen zu stellen, um die persönliche Glaubwürdigkeit zu prüfen und den Beweiswert der Aussagen zu hinterfragen.  
Dazu hält die Vorinstanz fest, der Beschwerdeführer habe bei der polizeilichen Videobefragung beinahe nichts mehr ausgesagt. Er habe zu praktisch allen Fragen geschwiegen. Bloss auf Ergänzungsfrage der Verteidigung des Beschwerdegegners habe er bejaht, einen bestimmten Schulkollegen zu kennen. Zudem habe er angegeben, der Beschwerdegegner habe ihn einmal geschlagen. Auf die Frage, ob der Beschwerdegegner auch andere Dinge mit ihm gemacht habe, habe der Beschwerdeführer auf mehrmaliges Nachfragen des Polizeibeamten geantwortet, er und der Beschwerdegegner hätten sich gegenseitig den Penis in den After eingeführt. Er und der Beschwerdegegner hätten sich bewegt und dies sei im Zimmer des Beschwerdegegners geschehen. Anschliessend habe der Beschwerdeführer gefragt, ob man über etwas anderes sprechen könne, und gesagt, das Thema sei langweilig. Nachher habe er keine Fragen mehr beantwortet. 
Die Vorinstanz erwägt, damit habe der Beschwerdeführer "wenn überhaupt, dann nur formal" vereinzelte Aussagen aus der privaten Videobefragung bestätigt. Dort habe er ausgesagt, er und der Beschwerdegegner hätten anal verkehrt. An der polizeilichen Videobefragung habe der Beschwerdeführer nur eine belastende Aussage im Sinne der Anklage vorgebracht, nämlich dass der Beschwerdegegner sich auf eine bestimmte Weise bewegt habe. Im Übrigen habe er nur abstrakt erklärt, er verstehe unter Geschlechtsverkehr, dass der Penis in den After eingeführt wird. Dies habe er beim Beschwerdegegner getan. Alle weiteren Aussagen aus der ersten Einvernahme habe er nicht bestätigt. Insbesondere habe er nicht wiederholt, dass er und der Beschwerdegegner sich ausgezogen, geduscht und eingeseift hätten, dass ejakuliert worden sei, dass es gut getan habe, dass er Schmerzen gehabt habe und dass es mehrmals vorgekommen sei. Er habe auf keine einzige dahingehende Frage mehr geantwortet, sondern jede weitere Aussage verweigert. Dadurch sei dem Beschwerdegegner jede Möglichkeit verwehrt worden, den Beweiswert der ihn belastenden Aussagen aus der privaten Videobefragung zu hinterfragen und die Glaubhaftigkeit der Aussagen des Beschwerdeführers in kontradiktorischer Weise auf die Probe zu stellen. 
 
2.3.4. Von einer direkten Konfrontation der beschuldigten Person mit der befragten Person oder auf deren ergänzende Befragung kann nur unter besonderen Umständen abgesehen werden, wenn eine persönliche Konfrontation nicht möglich oder eine Beschränkung des Konfrontationsanpruchs dringend notwendig ist. Die Fragen an den Belastungszeugen dürfen auch nicht im Rahmen einer antizipierten Beweiswürdigung für entbehrlich erklärt werden (BGE 129 I 151 E. 4.3). Die ausgebliebene Konfrontation mit Belastungszeugen verletzt die Garantie aber nicht, wenn diese berechtigterweise das Zeugnis verweigern oder die erneute Befragung nicht möglich ist, weil sie trotz angemessener Nachforschungen unauffindbar bleiben, dauernd oder für lange Zeit zur Einvernahme unfähig werden oder in der Zwischenzeit verstorben sind. Die Verwertbarkeit der ursprünglichen Aussage erfordert allerdings, dass die beschuldigte Person zu den belastenden Erklärungen hinreichend Stellung nehmen konnte, diese sorgfältig geprüft wurden und ein Schuldspruch sich nicht allein darauf abstützt. Ausserdem darf der Umstand, dass die beschuldigte Person ihre Rechte nicht (rechtzeitig) wahrnehmen konnte, nicht in der Verantwortung der Behörde liegen (vgl. dazu: BGE 131 I 476 E. 2.2 und E. 2.3.4; Urteile 6B_1395/2021 vom 9. Dezember 2022 E. 11.2.3; 6B_173/2022 vom 27. April 2022 E. 1.3.1; 6B_1219/2019 vom 24. April 2020 E. 2.1; 6B_699/2018 vom 7. Februar 2019 E. 1.3; je mit Hinweisen).  
Die Vorinstanz hält fest, dass keine weiteren Beweismittel vorhanden sind. Ein allfälliger Schuldspruch des Beschwerdegegners würde sich also allein auf die belastenden Aussagen des Beschwerdeführers aus der privaten Videobefragung stützen. Die Vorinstanz zieht daher den zutreffenden Schluss, dass auf die Erfüllung des Konfrontationsanspruchs nicht verzichtet werden kann. Sie erwägt, da sich der Beschwerdeführer geweigert habe, in Gegenwart des Beschwerdegegners seine Belastungen zu wiederholen und dessen Zusatzfragen zu beantworten, sei im Ergebnis von der Nichtverwertbarkeit seiner belastenden Aussagen an der privaten Videobefragung auszugehen. Weil es keine weitere Konfrontationseinvernahme gegeben habe und der Beschwerdegegner seine Verteidigungsrechte bei der polizeilichen Videobefragung nicht wirksam habe ausüben können, sei sein Anspruch auf Konfrontation gemäss Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK verletzt. Daher erweise sich die private Videobefragung vom 5. September 2018 als nicht verwertbar. Verwertbar sei nur die delegierte polizeiliche Videobefragung vom 30. April 2019. 
 
2.3.5. Gemäss Vorinstanz trat der Beschwerdeführer in der Vergangenheit wiederholt wegen seines sexualisierten Sprachgebrauchs und Verhaltens negativ in Erscheinung. Seine Aussagen an der polizeilichen Videobefragung vom 30. April 2019 erschöpften sich in einzelnen Wortäusserungen und abstrakten Darstellungen. Der Vorwurf an die Adresse des Beschwerdegegners beschränke sich dabei auf einen harmlosen sowie einen derben Ausdruck für Geschlechtsverkehr und darin, dass er und der Beschwerdegegner wechselseitig den Penis in den After eingeführt hätten. Letzteres habe er nur auf Frage bestätigt und nicht von sich aus gesagt. Diese Angaben seien sehr pauschal, wenig aussagekräftig, nicht anschaulich und auch sonst nicht überzeugend. Auf der anderen Seite stünden die vehementen Bestreitungen des Beschwerdegegners. Es herrschten erhebliche Zweifel, dass der Beschwerdeführer über tatsächlich Erlebtes berichtet habe. Daher sei der Beschwerdegegner freizusprechen.  
 
2.4. Was der Beschwerdeführer dagegen vorbringt, verfängt nicht.  
 
2.4.1. Damit eine hinreichende Konfrontation stattfindet, muss sich die befragte Person an der Konfrontationseinvernahme inhaltlich nochmals zur Sache äussern, sodass die beschuldigte Person ihr Fragerecht tatsächlich ausüben kann (BGE 140 IV 172 E. 1.5; Urteile 6B_1092/2022 vom 9. Januar 2023 E. 2.3.3; 6B_1078/2020 vom 26. Oktober 2022 E. 2.4.3; 6B_1003/2020 vom 21. April 2021 E. 2.2). Dabei ist keineswegs erforderlich, dass die befragte Person ihre Angaben wortwörtlich wiederholt. Macht sie Angaben zur Sache, so darf im Rahmen einer Gesamtwürdigung auch auf die Ergebnisse der früheren Beweiserhebung ergänzend zurückgegriffen werden. Denn die Frage, ob bei widersprüchlichen Aussagen oder späteren Erinnerungslücken auf die ersten, in Abwesenheit der beschuldigten Person erfolgten Aussagen abgestellt werden kann, betrifft nicht die Verwertbarkeit, sondern die Würdigung der Beweise (Urteile 6B_1092/2022 vom 9. Januar 2023 E. 2.3.3; 6B_1078/2020 vom 26. Oktober 2022 E. 2.4.3; 6B_1003/2020 vom 21. April 2021 E. 2.2; 6B_1133/2019 vom 18. Dezember 2019 E. 1.3.2; je mit Hinweisen). Hingegen bleiben frühere belastende Aussagen unverwertbar, wenn sich die befragte Person bei einer späteren Konfrontation gar nicht mehr oder nicht frei und unbeeinflusst zur Sache äussert (vgl. BGE 143 IV 457 E. 1.6.1 ff.; Urteile 6B_1078/2020 vom 26. Oktober 2022 E. 2.4.3; 6B_1003/2020 vom 21. April 2021 E. 2.2; 6B_1133/2019 vom 18. Dezember 2019 E. 1.3.2).  
 
2.4.2. Der Beschwerdeführer trägt vor, für eine wirksame Ausübung des Konfrontationsanspruchs sei nicht erforderlich, dass er seine Angaben aus der früheren Einvernahme wörtlich wiederhole. Mache er Angaben zur Sache, so dürfe im Rahmen der Gesamtwürdigung auch auf die Ergebnisse der früheren Beweiserhebung zurückgegriffen werden.  
Dies trifft zu (vgl. E. 2.4.1 hiervor). Doch geht es im vorliegenden Fall um etwas anderes. Wie die Vorinstanz überzeugend darlegt, sagte der Beschwerdeführer bei der polizeilichen Videobefragung praktisch nichts mehr aus (vgl. E. 2.3.3 hiervor). Der Beschwerdeführer lässt vortragen, er habe sich an der polizeilichen Videobefragung nicht etwa geweigert, die Fragen des Beschwerdegegners zu beantworten. Vielmehr sei es ihm aufgrund seines psychischen Zustands schlicht nicht möglich gewesen. Er sei mit der Gesamtsituation überfordert gewesen und es seien keine adressatengerechte Fragen gestellt worden, um ihm aus der Blockade zu helfen. Auch dies mag alles zutreffen, doch ändert es nichts daran, dass der Beschwerdegegner die Aussagen des Beschwerdeführers nicht auf ihren Beweiswert überprüfen konnte. 
 
2.4.3. Wie der Beschwerdeführer zutreffend ausführt, muss die Gelegenheit zum Stellen von Ergänzungsfragen angemessen und ausreichend ("adequate and proper") sein (vgl. etwa BGE 140 IV 172 E. 1.3; 131 I 476 E. 2.2; 129 I 151 E. 4.2). Die innere Grenze des Fragerechts ergibt sich aus dessen Zweck, zur Wahrheitsfindung beizutragen. Dieser Zweck umfasst nicht Fragen, die dafür ungeeignet sind, weil sie verfahrensfremde Ziele verfolgen oder durch die Art der Befragung erreichen wollen, dass das Wissen der befragten Person verfälscht oder irreführend vorgebracht wird (vgl. dazu ALEXANDRA SCHEIDEGGER, Minderjährige als Zeugen und Auskunftspersonen im Strafverfahren, Diss. Zürich 2006, S. 240 mit Hinweisen). Allerdings legt der Beschwerdeführer nicht dar, inwiefern der Beschwerdegegner ungeeignete Fragen gestellt hätte, welche die Grenze des Fragerechts gesprengt hätten. Vielmehr präsentierte sich die Lage nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz so, dass der Beschwerdeführer für keinerlei Ergänzungsfragen zugänglich war.  
 
2.4.4. In diesem Zusammenhang lässt der Beschwerdeführer vorbringen, das Diskriminierungsverbot sei verletzt worden. Die Vorinstanz hätte nicht verlangen dürfen, dass die Aussagen einer geistig behinderten Person auf kontradiktorische Weise auf die Probe gestellt werden. Dies sei weder sachgerecht noch adäquat und zur Ausübung der Verteidigungsrechte auch nicht erforderlich. Es sei offensichtlich, dass ein geistig behindertes Kind einer kontradiktorischen Befragung nicht gewachsen sei.  
Das Argument ist nicht stichhaltig: Es ist zwar zutreffend, dass der Beschwerdeführer intellektuell stark beeinträchtigt ist und namentlich an einer ausgeprägten Spracherwerbsstörung leidet. Es ist aber nicht ersichtlich, dass der Beschwerdeführer wegen seiner Behinderung diskriminiert worden wäre. Insbesondere war es der Vorinstanz verwehrt, aus Rücksicht auf die Behinderung des Beschwerdeführers den grundrechtlichen Konfrontationsanspruch des Beschwerdegegners und dessen verfassungsmässiges Recht auf ein faires Verfahren zu verletzen. Das Diskriminierungsverbot gemäss Art. 8 Abs. 2 BV ist nicht verletzt. 
 
2.4.5. Schliesslich beanstandet der Beschwerdeführer, dass die Vorinstanz kein Gutachten über die Glaubhaftigkeit seiner Aussagen einholte.  
Die Prüfung der Glaubhaftigkeit von Aussagen ist primär Aufgabe des Gerichts. Eine Begutachtung durch eine sachverständige Person drängt sich nur bei besonderen Umständen auf. Dies ist etwa der Fall, wenn bruchstückhafte oder schwer interpretierbare Äusserungen eines Kleinkinds zu beurteilen sind, bei ernsthaften Anzeichen geistiger Störungen, welche die Aussageehrlichkeit des Zeugen beeinträchtigen könnten, oder wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Zeuge unter dem Einfluss von Drittpersonen steht (BGE 129 IV 179 E. 2.4; Urteile 6B_1090/2018 vom 17. Januar 2019 E. 1.2; 6B_297/2013 vom 27. Mai 2013 E. 1.4.1 und 6B_681/2012 vom 12. März 2013 E. 3.2; je mit Hinweisen). Das Gericht hat einen Ermessensspielraum bei der Beantwortung der Frage, ob aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls der Beizug einer sachverständigen Person notwendig ist (Urteile 6B_297/2013 vom 27. Mai 2013 E. 1.4.1; 6B_681/2012 vom 12. März 2013 E. 3.2). 
Die Vorinstanz begründet den Verzicht auf ein solches Gutachten überzeugend. Die private Videobefragung vom 5. September 2018 sei unverwertbar, weshalb ein Glaubhaftigkeitsgutachten ausscheide. Was die polizeiliche Videobefragung vom 30. April 2019 betrifft, sei die Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens entbehrlich, weil auch eine sachverständige Person aus einer Nicht-Aussage nichts ableiten könne. Daran ändern gemäss Vorinstanz auch die kognitiven Einschränkungen des Beschwerdeführers nichts. Der Beschwerdeführer legt nicht dar, inwiefern die Vorinstanz mit diesen Erwägungen in Willkür verfallen sein sollte. 
 
3.  
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ist gutzuheissen, da dessen Bedürftigkeit erstellt scheint, die Beschwerde nicht von vornherein aussichtslos und die Bestellung eines Rechtsvertreters zur Wahrung seiner Rechte notwendig war (Art. 64 Abs. 1 und Abs. 2 BGG). Es sind keine Gerichtskosten zu erheben. Die Rechtsvertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwältin Laura Jost und Rechtsanwalt Christophe A. Herzig, sind ihm als unentgeltliche Rechtsbeistände beizuordnen und aus der Bundesgerichtskasse zu entschädigen (Art. 64 Abs. 2 BGG). Der Beschwerdeführer wird darauf hingewiesen, dass er der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten hat, sobald er dazu in der Lage ist (Art. 64 Abs. 4 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten wird. 
 
2.  
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen. 
 
3.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
4.  
Die Rechtsvertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwältin Laura Jost und Rechtsanwalt Christophe A. Herzig, werden aus der Bundesgerichtskasse mit insgesamt Fr. 3'000.-- entschädigt. 
 
5.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht von Graubünden, I. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 20. März 2023 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Jacquemoud-Rossari 
 
Der Gerichtsschreiber: Brugger