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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_8/2017  
   
   
 
 
 
Urteil vom 20. Juni 2017  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichterin Glanzmann, Bundesrichter Parrino, 
Gerichtsschreiberin Dormann. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Dr. Silvia Bucher, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Departement Gesundheit und Soziales, Abteilung Gesundheit, 
Bachstrasse 15, 5001 Aarau, 
vertreten durch Rechtsanwalt Prof. Dr. Tomas Poledna, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Krankenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau 
vom 8. November 2016. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Der 1986 geborene deutsche Staatsangehörige A.________ verlegte seinen Wohnsitz am 1. April 2015 in die Schweiz. Er ist bei der deutschen Central Krankenversicherung AG (nachfolgend: Central) versichert, wobei der Versicherungsschutz auch in der Schweiz gilt. Im März 2015 ersuchte er um Befreiung von der Versicherungspflicht nach KVG. Das aargauische Departement Gesundheit und Soziales (nachfolgend: Departement) wies das Gesuch mit Verfügung vom 17. September 2015 ab und verpflichtete A.________, sich bei einer schweizerischen Krankenkasse zu versichern. Daran hielt es mit Einspracheentscheid vom 22. Januar 2016 fest. 
 
B.   
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 8. November 2016 ab. 
 
C.   
A.________ lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragen, der Entscheid vom 8. November 2016 und der Einspracheentscheid vom 22. Januar 2016 seien aufzuheben und er sei von der KVG-Versicherungspflicht zu befreien. Ferner ersucht er um aufschiebende Wirkung des Rechtsmittels. 
 
Das Departement schliesst auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) verzichtet auf eine Vernehmlassung. A.________ lässt eine weitere Eingabe einreichen. Das Departement verzichtet auf die Einreichung einer Duplik. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Gemäss BGE 134 II 142 E. 1.4 S. 144 ist der Antrag auf Aufhebung des angefochtenen Verwaltungsaktes unzulässig, weil dieser durch den Entscheid des kantonalen Gerichts ersetzt worden ist (Devolutiveffekt) und als inhaltlich mitangefochten gilt (vgl. auch BGE 129 II 438 E. 1 S. 441 mit Hinweisen). Nach der Praxis der sozialrechtlichen Abteilungen ist ein solcher Antrag zulässig resp. wird die Aufhebung des Verwaltungsaktes gegebenenfalls auch dispositivmässig angeordnet (vgl. statt vieler Urteile 9C_304/2016 vom 23. Mai 2017 E. 1.2; 9C_297/2016 vom 7. April 2017 [beide zur Publikation vorgesehen]; 9C_591/2016 vom 21. März 2017). Ob in concreto auf das Rechtsbegehren um Aufhebung des Einspracheentscheids vom 22. Januar 2016 einzutreten ist, kann offenbleiben.  
 
1.2. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zu Grunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Eine Sachverhaltsfeststellung ist nicht schon dann offensichtlich unrichtig, wenn sich Zweifel anmelden, sondern erst, wenn sie eindeutig und augenfällig unzutreffend ist (BGE 132 I 42 E. 3.1 S. 44). Es liegt noch keine offensichtliche Unrichtigkeit vor, nur weil eine andere Lösung ebenfalls in Betracht fällt, selbst wenn diese als die plausiblere erschiene (vgl. BGE 129 I 8 E. 2.1 S. 9; Urteil 9C_101/2015 vom 30. November 2015 E. 1.1).  
 
2.  
 
2.1. Grundsätzlich muss sich jede Person mit Wohnsitz in der Schweiz innert drei Monaten nach der Wohnsitznahme in der Schweiz für Krankenpflege versichern lassen (Art. 3 Abs. 1 KVG). Der Bundesrat kann indessen Ausnahmen von der Versicherungspflicht vorsehen (Art. 3 Abs. 2 KVG). Nach Art. 2 Abs. 8 KVV (SR 832.102) sind insbesondere Personen, für welche eine Unterstellung unter die schweizerische Versicherung eine klare Verschlechterung des bisherigen Versicherungsschutzes oder der bisherigen Kostendeckung zur Folge hätte und die sich auf Grund ihres Alters und/oder ihres Gesundheitszustandes nicht oder nur zu kaum tragbaren Bedingungen im bisherigen Umfang zusatzversichern könnten, auf Gesuch hin von der Versicherungspflicht ausgenommen. Dem Gesuch ist eine schriftliche Bestätigung der zuständigen ausländischen Stelle mit allen erforderlichen Angaben beizulegen.  
 
 
2.2.  
 
2.2.1. Mit Blick auf die gesetzgeberisch gewollte Solidarität zwischen Gesunden und Kranken sind die Ausnahmen von der Versicherungspflicht generell eng zu halten, und es ist der Befürchtung des Gesetzgebers Rechnung zu tragen, dass sich das schweizerische Obligatorium unterlaufen liesse, wenn beispielsweise der Nachweis einer ausländischen freiwilligen privaten Versicherung allgemein als Befreiungsgrund akzeptiert würde (BGE 132 V 310 E. 8.5.6 S. 317). Für die Anwendung von Art. 2 Abs. 8 KVV sind daher strenge Massstäbe zu setzen. Insbesondere darf diese Bestimmung nicht dazu dienen, blosse Nachteile zu verhindern, die eine Person dadurch erleidet, dass das schweizerische System den Versicherungsschutz, den sie bisher unter dem ausländischen System genoss, überhaupt nicht oder nicht zu gleich günstigen Bedingungen vorsieht (SVR 2009 KV Nr. 10 S. 35, 9C_921/2008 E. 4.3). Sie soll aber immerhin den Nachteil vermeiden, der daraus resultiert, dass eine Person bis zum Erreichen ihres bisherigen ausländischen Versicherungsniveaus von in der Schweiz tatsächlich vorhandenen Angeboten wegen ihres Alters und/oder Gesundheitszustandes nicht oder nur zu kaum tragbaren Bedingungen Gebrauch machen kann (BGE 132 V 310 E. 8.5.6 S. 318; SVR 2012 KV Nr. 6 S. 18, 9C_510/2011 E. 2.2).  
 
2.2.2. Es ist sachgerecht, für die Frage nach einer klaren Verschlechterung des Versicherungsschutzes gemäss Art. 2 Abs. 8 KVV auch die Nachteile der bisherigen Versicherung zu berücksichtigen, wenn dadurch die KVG-Versicherungsdeckung unterschritten wird. Für die Befreiungstatbestände der Art. 2 Abs. 2-5 und 7 KVV ist jeweils explizit ein mit jenem nach KVG "gleichwertiger Versicherungsschutz" (vgl. BGE 134 V 34 E. 5 S. 36 ff.; SVR 2011 KV Nr. 3 S. 13, 9C_313/2010 E. 4.3) erforderlich. Auch wenn mit dem Wortlaut von Art. 2 Abs. 8 KVV nicht ausdrücklich ein gleichwertiger Versicherungsschutz verlangt wird, ist die Tatsache dessen Fehlens schon aus gesetzessystematischen Gründen und mit Blick auf einen umfassenden (Mindest-) Versicherungsschutz relevant. Ausserdem ist eine Lücke in der Versicherungsdeckung (im Vergleich zu den Mindestvorschriften des KVG) - jedenfalls wenn sie erheblich ist - auch angesichts der mit dem Versicherungsobligatorium angestrebten Solidarität zwischen Gesunden und Kranken als klarer Mangel zu werten, der durch Unterstellung unter die Versicherungspflicht behoben wird. Die fehlende Deckung für Pflegekosten, wie sie in Art. 25a sowie Art. 25 Abs. 2 lit. a KVG und Art. 7 der Verordnung vom 29. September 1995 über Leistungen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (KLV; SR 832.112.31) vorgesehen ist, stellt einen schwerwiegenden Mangel der bisherigen Versicherung dar (SVR 2012 KV Nr. 6 S. 18,    9C_510/ 2011 E. 4.4.2 und 4.4.3; Urteil 9C_86/2016 vom 18. November 2016 E. 2.2).  
 
2.3. Die Frage, ob eine Person auf Grund ihres Alters und/oder ihres Gesundheitszustandes nicht oder nur zu kaum tragbaren Bedingungen eine Zusatzversicherung im bisherigen Umfang abschliessen könnte, ist eine Tatfrage. Ob eine Verschlechterung des bisherigen Versicherungsschutzes oder der bisherigen Kostendeckung hinreichend erheblich ist, um eine Befreiung von der Versicherungspflicht zu rechtfertigen, und unter welchen Gesichtspunkten dies zu beantworten ist, sind hingegen vom Bundesgericht frei überprüfbare Rechtsfragen (SVR 2012 KV Nr. 6 S. 18, 9C_510/2011 E. 2.3).  
 
3.   
Das kantonale Gericht hat erwogen, auch wenn durch die Versicherungsdeckung bei der Central im Vergleich zu jener des KVG in einzelnen Bereichen ein besserer Versicherungsschutz vorliege, bestehe doch auch eine erhebliche Lücke, insbesondere im Bereich der Pflegeleistungen. Anders als die private Versicherung der Central kenne das KVG keine betraglichen Obergrenzen, und die freie Arzt- und Spitalwahl sei gewährleistet. Die bestehende Versicherung bei der Central entspreche nicht mindestens dem gesetzlichen Pflichtleistungskatalog nach KVG. Bei diesen Gegebenheiten hat es eine Ausnahme von der Versicherungspflicht für ausgeschlossen gehalten. 
 
4.   
 
4.1. Das kantonale Gericht hat die als wesentlich und erstellt erachteten Tatsachen und die daraus gezogenen rechtlichen Schlüsse nachvollziehbar dargelegt, und eine sachgerechte Anfechtung des vorinstanzlichen Erkenntnisses war möglich (vgl. BGE 134 I 83 E. 4.1 S. 88; 133 III 439 E. 3.3 S. 445; 124 V 180 E. 1a S. 181). Daher kann - entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers - nicht von einer Verletzung der aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 29 Abs. 2 BV sowie Art. 61 lit. h ATSG (SR 830.1) und Art. 112 Abs. 1 lit. b BGG abgeleiteten Prüfungs- und Begründungspflicht (Urteil 5A_368/2007 vom 18. September 2007 E. 2; vgl. auch BGE 135 V 353 E. 5.3 S. 357 ff.) gesprochen werden.  
 
 
4.2. Angesichts der restriktiven Vorgaben des Gesetzes zum Versicherungsobligatorium liegt in der Regel keine klare Verschlechterung des bisherigen Versicherungsschutzes oder der bisherigen Kostendeckung im Sinne von Art. 2 Abs. 8 KVV vor, wenn die bestehende Versicherung Pflegekosten nicht so deckt, dass auch die Leistungen gemäss Art. 25a sowie Art. 25 Abs. 2 lit. a KVG und Art. 7 KLV (zumindest annähernd) gewährleistet sind (vgl. E. 2.2).  
 
4.3. Auch wenn das bei der Central versicherte Pflegegeld von jährlich höchstens EUR 19'344.- resp., bei Versicherten der höchsten Pflegestufe in besonderen Ausnahmefällen, EUR 23'940.- weitgehend für die Grundpflege (vgl. Art. 7 Abs. 2 lit. c KLV) verwendet werden könnte und die "Behandlungspflege" (vgl. Art. 7 Abs. 2 lit. b KLV) durch die private Krankheitsvollkostenversicherung abgedeckt würde, wie der Beschwerdeführer geltend macht, werden dadurch die im schweizerischen Obligatorium vorgesehenen Pflegeleistungen (Art. 7 KLV) bei weitem nicht gedeckt (vgl. Urteil 9C_858/2016 vom 20. Juni 2017 E. 4.5). So macht das versicherte Pflegegeld durchschnittlich täglich rund EUR 53.- resp. 65.60 aus, während etwa die Kostenbeteiligung einer schweizerischen Krankenversicherung an der ambulanten Grundpflege - die nicht den Vollkosten entspricht - mit Fr. 54.60 pro Stunde zu Buche schlägt. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers sind denn auch nicht diese Leistungen an sich, sondern lediglich die entsprechenden Kostenbeteiligungen der schweizerischen Krankenversicherung (vgl. Art. 7a KLV) begrenzt; die weiteren Pflegekosten dürfen nur im limitierten Rahmen von Art. 25a Abs. 5 KVG auf die Versicherten überwälzt werden.  
 
4.4. Nach dem Gesagten ist die vorinstanzliche Feststellung, wonach der Versicherungsschutz im Bereich Pflegeleistungen eine Lücke aufweise, nicht offensichtlich unrichtig. Sie beruht auch nicht auf einer Rechtsverletzung, weshalb sie für das Bundesgericht verbindlich bleibt (E. 1.2). Es kann auch nicht gesagt werden, die Leistungen gemäss Art. 25a sowie Art. 25 Abs. 2 lit. a KVG und Art. 7 f. KLV seien mit der bestehenden Versicherung annähernd gewährleistet.  
 
4.5. Aus dem Umstand, dass Art. 2 Abs. 8 KVV bereits am 1. Juni 2002, Art. 25a KVG indessen erst (im Rahmen der Neuordnung der Pflegefinanzierung) am 1. Januar 2011 in Kraft trat, lässt sich nicht ableiten, dass der Verordnungsgeber an die Heilbehandlung und nicht an die Pflegekosten gedacht haben müsse. Der Beschwerdeführer macht denn auch nicht geltend, dass der Versicherungsschutz für Pflegeleistungen vor der Neuordnung der Pflegefinanzierung kleiner gewesen sein soll.  
Ob die bestehende Versicherung in Bezug auf betragliche Obergrenzen und die freie Arzt- und Spitalwahl Einschränkungen aufweist, wie das kantonale Gericht angenommen zu haben scheint, kann offenbleiben. Der Beschwerdeführer macht als Vorteile der bisherigen Versicherung freie Arzt- und Spitalwahl, im Spital Zweibettzimmer und Chef- bzw. Belegarztbehandlung, weltweite volle Kostendeckung, Rücktransporte aus dem Ausland, Zahnbehandlungen (samt Prophylaxe) und Beiträge an Sehhilfen geltend. Auch wenn sie alle als gegeben betrachtet werden, fällt der ungenügende Versicherungsschutz für Pflegeleistungen schwerer ins Gewicht, und zwar auch dann, wenn er der einzige Nachteil der bisherigen Versicherungslösung sein sollte (E. 2.2 und 4.2; vgl. auch Urteil 9C_858/2016 vom 20. Juni 2017 E. 4.6). Die Vorinstanz hat zu Recht eine klare Verschlechterung des bisherigen Versicherungsschutzes oder der bisherigen Kostendeckung im Sinne von Art. 2 Abs. 8 KVV und damit eine Ausnahme von der Versicherungspflicht verneint. Die Beschwerde ist unbegründet. 
 
5.   
Mit dem Entscheid in der Sache wird das Gesuch um aufschiebende Wirkung der Beschwerde gegenstandslos. 
 
6.   
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdeführer die Kosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Das Departement (resp. der Kanton Aargau) hat keinen Anspruch auf Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 3 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
3.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 20. Juni 2017 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Die Gerichtsschreiberin: Dormann