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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
9C_75/2018  
 
 
Urteil vom 20. September 2018  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichter Meyer, Parrino, 
Gerichtsschreiber Williner. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Elda Bugada Aebli, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, 
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau 
vom 14. November 2017 (VBE.2017.393). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Die IV-Stelle des Kantons Aargau sprach der 1962 geborenen A.________ mit Verfügung vom 4. Mai 2010 eine halbe Rente der Invalidenversicherung ab dem 1. August 2007 zu (Invaliditätsgrad 50 %). Dieser Rentenanspruch wurde im Rahmen eines ersten Revisionsverfahrens überprüft und bestätigt (Mitteilung vom 10. November 2011). Anlässlich einer im Dezember 2014 eingeleiteten erneuten Rentenüberprüfung ordnete die IV-Stelle eine polydisziplinäre (allgemein-internistische, psychiatrische, rheumatologische, neurologische) Begutachtung bei der Ärztliches Begutachtungsinstitut GmbH (ABI) an. Gestützt auf deren Expertise vom 16. März 2016 (inklusive ergänzende Stellungnahme vom 8. Juni 2016) sowie nach Rückfrage beim Regionalen Ärztlichen Dienst (RAD; Stellungnahmen der Dr. med. B.________, FMH Praktische Ärztin, vom 30. April 2016 und vom 22. Juli 2016) stellte die Verwaltung mit Vorbescheid vom 18. Oktober 2016 in Aussicht, die bisher ausgerichtete Invalidenrente auf das Ende des der Zustellung der Verfügung folgenden Monats wiedererwägungsweise aufzuheben (Invaliditätsgrad 16 %). Nachdem A.________ hiegegen verschiedene Einwände vorgebracht hatte, verfügte die IV-Stelle - nach erneuter Rückfrage beim RAD (Stellungnahmen der Dr. med. B.________ vom 25. und 28. Januar 2017 sowie konsiliarische Aktenbeurteilung des Dr. med. C.________, FMH Rheumatologie, vom 27. Januar 2017) - am 17. März 2017 wie vorbeschieden. 
 
B.   
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 14. November 2017 ab. 
 
C.   
A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt, der Entscheid vom 14. November 2017 und die Verfügung vom 4. Mai 2010 seien aufzuheben und ihr die gesetzlichen Leistungen (mindestens eine halbe Invalidenrente) weiterhin auszurichten; eventuell sei die Vorinstanz in Aufhebung des angefochtenen Entscheids anzuweisen, ein "den Anforderungen eines strukturierten Beweisverfahrens" genügendes Gerichtsgutachten einzuholen und gestützt darauf die gesetzlichen Leistungen festzusetzen. 
 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichtet auf eine Stellungnahme. 
Mit Eingabe vom 3. April 2018 nimmt A.________ nochmals Stellung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht, und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.  
 
2.1. Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie die Voraussetzungen für die Wiedererwägung der Rentenverfügung vom 4. Mai 2010 bejahte und die rentenaufhebende Verfügung vom 17. März 2017 bestätigte.  
 
2.2. Das kantonale Gericht erwog korrekt, dass der Versicherungsträger nach Art. 53 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 2 ATSG und Art. 1 Abs. 1 IVG auf formell rechtskräftige Verfügungen, welche nicht Gegenstand materieller richterlicher Überprüfung gebildet haben, zurückkommen kann, wenn diese nach damaliger Sach- und Rechtslage zweifellos unrichtig sind, und - was auf periodische Dauerleistungen regelmässig zutrifft (vgl. BGE 119 V 475 E. 1c S. 480 mit Hinweisen) - ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist. Die Wiedererwägung im Sinne dieser Bestimmung dient der Korrektur einer anfänglich unrichtigen Rechtsanwendung einschliesslich unrichtiger Feststellung im Sinne der Würdigung des Sachverhalts, insbesondere bei einer klaren Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes (Urteil 9C_819/2017 vom 13. Februar 2018 E. 2.2 mit Hinweis auf 8C_336/2017 vom 11. Oktober 2017 E. 3.3). Zweifellose Unrichtigkeit meint dabei, dass kein vernünftiger Zweifel an der (von Beginn weg bestehenden) Unrichtigkeit der Verfügung möglich, also einzig dieser Schluss denkbar ist (BGE 138 V 324 E. 3.3 S. 328). Soweit ermessensgeprägte Teile der Anspruchsprüfung vor dem Hintergrund der Sach- und Rechtslage einschliesslich der Rechtspraxis im Zeitpunkt der rechtskräftigen Leistungszusprechung (BGE 125 V 383 E. 3 S. 389 f.) in vertretbarer Weise beurteilt worden sind, scheidet die Annahme zweifelloser Unrichtigkeit aus (BGE 141 V 405 E. 5.2 S. 414 f.; Urteil 9C_766/2016 vom 3. April 2017 E. 1.1.2 mit diversen Hinweisen). Bei der Annahme zweifelloser Unrichtigkeit im Bereich der invaliditätsmässigen Leistungsvoraussetzungen ist daher Zurückhaltung geboten (SVR 2011 IV Nr. 71 S. 213, 9C_994/2010 E. 3.2.1; Urteile 9C_309/2017 vom 13. Juli 2017 E. 3.2 Abs. 2; 8C_68/2013 vom 14. Mai 2013 E. 3.1 mit weiteren Hinweisen). Ansonsten würde die Wiedererwägung zum Instrument einer voraussetzungslosen Neuprüfung des Anspruchs, was sich nicht mit dem Wesen der Rechtsbeständigkeit formell zugesprochener Dauerleistungen verträgt (Urteil 8C_336/2017 vom 11. Oktober 2017 E. 3.3 mit Hinweisen).  
 
2.3. Die Feststellungen, welche der Beurteilung der zweifellosen Unrichtigkeit zugrunde liegen, sind tatsächlicher Natur und folglich nur eingeschränkt überprüfbar (vgl. E. 1). Dagegen ist die Auslegung (Konkretisierung) dieses unbestimmten Rechtsbegriffs als Wiedererwägungsvoraussetzung eine frei prüfbare Rechtsfrage (Art. 95 lit. a BGG; Urteil 9C_309/2017 vom 13. Juli 2017 E. 2.2.2 mit Hinweisen).  
 
3.  
 
3.1. Das kantonale Gericht qualifizierte die ursprüngliche Rentenverfügung vom 4. Mai 2010 als zweifellos unrichtig, weil die IV-Stelle damals trotz Vorliegens eines pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildes ohne nachweisbare organische Grundlage die Rechtspraxis gemäss BGE 130 V 352 nicht berücksichtigt habe. Die quantitativen und qualitativen Auswirkungen der Fibromyalgie und der psychischen Komponente auf die Arbeitsfähigkeit liessen sich aufgrund der Akten nicht von den Auswirkungen der übrigen Diagnosen abtrennen, um die damalige Einschätzung einer Arbeitsunfähigkeit von 50 % im Ergebnis zu überprüfen. Die Leistungszusprache sei somit aufgrund falscher Rechtsregeln erfolgt.  
 
 
3.2. Die Beschwerdeführerin rügt, das kantonale Gericht habe den medizinischen Sachverhalt unvollständig und einseitig gewürdigt und entsprechend ihren Rechtsanspruch willkürlich abgelehnt. Die Vorinstanz habe insbesondere die zahlreich vorhandenen weiteren erheblichen Diagnosen (namentlich ein lumbospondylogenes/lumboradikuläres Syndrom bei Osteochondrose L4/5, eine Coxarthrose und Periarthropathia coxae links, ein primäres Sjögren-Syndrom, Angst- und Depression mittelschweren Grades) nicht berücksichtigt und stattdessen lediglich jene Elemente in Betracht gezogen, welche zur Abweisung der Beschwerde gedient hätten.  
 
3.3. Nach verbindlicher (vgl. E. 1 und 2.3 hievor) vorinstanzlicher Feststellung beruhte die Rentenzusprache in medizinischer Hinsicht auf der RAD-Stellungnahme der Dr. med. B.________ vom 24. Januar 2010, wobei diese keine eigenen Untersuchungen vorgenommen, sondern sich auf Berichte der behandelnden Ärzte gestützt und deren arbeitsmedizinische Einschätzung als plausibel bezeichnet hatte. Die RAD-Ärztin führte unter Bezugnahme auf die Berichte des Dr. med. D.________, FMH Rheumatologie, vom 21. November 2006 und vom 16. Oktober 2007 sowie des Spitals E.________ vom 16. März und vom 11. Dezember 2009 aus, bei der Versicherten stünde die somatische Grunderkrankung (aufgrund der "mehreren rheumatischen Diagnosen") im Vordergrund. Diese hätten seit 2006 deutlichen Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit. Konkret nannte sie ein primäres Sjögren-Syndrom, welches aufgrund der klinischen Befunde und der Laborergebnisse im April 2006 festgestellt und sich seither nicht verändert habe. Weiter wies Dr. med. B.________ unter Hinweis auf die Berichte des behandelnden Psychiaters Dr. med. F.________ darauf hin, die Versicherte stehe aufgrund der "objektivierbaren und zunehmenden depressiven Symptomatik" seit 2006 in psychiatrischer Behandlung. Entgegen der Erwägung 4.2.4 des angefochtenen Entscheids kann somit keine Rede davon sein, bei der seinerzeitigen Einschätzung der Arbeitsfähigkeit sei "neben dem Sjögren-Syndrom insbesondere ein chronisches Schmerzsyndrom bzw. ein Fibromyalgie-Syndrom berücksichtigt worden". Daran ändert nichts, dass die Ärzte des Spitals E.________ unter anderem ein multilokuläres Schmerzsyndrom diagnostiziert hatten (vgl. Berichte des Dr. med. G.________ und des Prof. Dr. med. H.________ vom 16. März und vom 17. Juli 2009). Die RAD-Ärztin nahm ihre Einschätzung in Kenntnis sowie unter Bezugnahme auf diese Berichte vor, war sie von der IV-Stelle im Rahmen der Anfrage vom 4. Januar 2010 doch explizit auf das Vorliegen eines generalisierten Schmerzsyndroms hingewiesen worden. Trotzdem begründete sie ihre Einschätzung der Arbeitsfähigkeit (50 % für angepasste Tätigkeiten) einzig mit der im Vordergrund stehenden somatischen Grunderkrankung sowie mit einer objektivierbaren depressiven Symptomatik. Die Berichte des Spitals E.________ vermögen aus heutiger Sicht allenfalls darzulegen, dass damals medizinisch komplexe Verhältnisse vorlagen. Sie lassen indessen - auch unter Berücksichtigung der gebotenen Zurückhaltung hinsichtlich der für die Berentung massgeblichen, mit einem gewissen Ermessen verbundenen Bewertung der Arbeitsfähigkeit - den Schluss nicht zu, die Einschätzung des RAD in der Stellungnahme vom 24. Januar 2010 sei im Sinne der zitierten Rechtsprechung (vgl. E. 2.2 hievor) zweifellos unrichtig gewesen. Das Vorgehen des kantonalen Gerichts im Rahmen der Wiedererwägung kommt daher einer unzulässigen voraussetzungslosen Neuprüfung des Rentenanspruchs gleich, was Bundesrecht verletzt (vgl. E. 1 hievor).  
 
4.   
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die Beschwerdeführerin hat Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 14. November 2017 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Aargau vom 17. März 2017 werden aufgehoben. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen. 
 
4.   
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgerichts des Kantons Aargau zurückgewiesen. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, dem Bundesamt für Sozialversicherungen und der Migros-Pensionskasse, Schlieren, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 20. September 2018 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Der Gerichtsschreiber: Williner